Wilhelm Neurohr

Im Herbst 2008 kulminierten drei bemerkenswerte zivilgesellschaftliche Initiativen nahezu zeitgleich auf der Suche nach veränderten individuellen Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten - mit dem Blick auf die Gemeinschaftsaufgaben, die sich ( auch vor dem Hintergrund der Finanzmarktkrise) für Europa und die globalisierte Welt mit ihren sozialen und menschlichen Entwicklungsproblemen ergeben. Die Rede ist vom europäischen Sozialforum in Malmö sowie zugleich von der „Woche des Grundeinkommens“ in 31 Städten Mitteleuropas und vor allem vom Kongress „Globalisierung und Identität“.

„Globalisierung ist in aller Munde, - meistens aber im Zusammenhang mit ökologischen, ökonomischen und sozialen Fragen. Die Globalisierung schleift Zäune zwischen Ethnien und Kulturen, schafft damit auch neue Differenzen und Konkurrenzen. Immer mehr Menschen unterschiedlicher Herkunft arbeiten, lernen und kommunizieren nebeneinander“, so beginnt einleitend die im September veröffentlichte Ankündigung für den „Calumed-Kongress 2008“, der Anfang Oktober in Berlin mit einem Grußwort von Altbundeskanzler Helmut Schmidt stattfindet (Mitte Oktober folgt ein Kongress zu Spiritualität und Heilung).

„Eine neue Form des Weltbürgertums durch die evolutionäre Kraft des Geistes“

Es soll auf dem Kongress der Frage nachgegangen werden, ob es Kraft der Evolution des Geistes eine neue Form des Weltbürgertums geben kann und welche möglichen Konsequenzen sich daraus für eine globale Friedens- und Versöhnungsarbeit ergeben. Die wachsende gegenseitige Abhängigkeit mit der Globalisierung führt zu der Erfahrung: In einer zunehmend vernetzten Welt mit durchlässigen Grenzen verschwimmen nationale Identitäten und in einem von den Zwängen der Globalisierung geprägten Arbeitsmarkt verlieren die herkömmlichen, traditionellen Lebensweisen immer mehr ihre Gültigkeit.

„Identität für die einzelne Person ist das Wissen darum, wohin sie sich persönlich entwickeln möchte. Die Identität bildet für die Menschen den Kristallisationspunkt von Sinn und Erfahrung. Identität ist zugleich ein offener Prozess des Aushandelns zwischen dem Selbstbild, das der Einzelne von sich entwirft, und dem Bild, das sich seine Handlungspartner in wechselnden Zusammenhängen von ihm machen. Je vielfältiger das soziale Gegenüber, je gebrochener die Biographien und je ungewisser die Teilhabe am gesellschaftlichen leben („Prekariat“), desto schwieriger und herausfordernder die Anforderungen an die eigene Identitätsbildung und -wahrung.“[1]

Transreligiöse Spiritualität und das globalisierte Ich in der Identitätsfindung

In Vorträgen und Workshops namhafter Wissenschaftler und Forscher, Philosophen und Psychoanalytiker, Schriftsteller und Autoren aus Deutschland, der Schweiz, Indien und Kamerun steht der globalisierte Mensch im Vordergrund: Die Globalisierung und seine Menschenbilder und Psyche, das globalisierte Ich und die globalisierte Welt, die transreligiöse Spiritualität (mit Identitätsbildung jenseits religiöser Engführungen), die Mystik als Freiheit der Identifikation, die Identität zwischen den Welten und die Interkulturelle Kommunikation. Aber auch die Interkulturelle Geschäftskommunikation und ihre Tücken werden ebenso thematisiert wie das Börsenfieber und der kollektive Wahn der Globalisierung.

Letzteres war auch das Stichwort der etwa 8000 Teilnehmer auf dem diesjährigen Europäischen Sozialforum der Zivilgesellschaft im schwedischen Malmö vom 17. bis 21. September mit einer breiten Themenpalette , die bei ihrer Programmplanung von der akuten Finanzmarktkrise mit der Vernichtung von fast 1 Billion Dollar überrascht wurden – obwohl die Regulierung der Finanzmärkte seit jeher zu ihrem Forderungskatalog gehört, neben dem Anliegen einer demokratischen statt neoliberalen EU-Verfassung. Dies führte zu der selbstkritischen Feststellung, dass einerseits das neoliberale Wirtschaftssystem erkennbar in der Krise ist, angesichts von 80 Millionen Menschen in der EU unterhalb der Armutsgrenze, aber auch die sozialen Bewegungen sich mit ihrer schwindenden Kraft in einer Krise befinden.

Globalisierungskritiker sollten lieber kräftesparend „lokal handeln statt reden“

Ein Rückgang der bisherigen Teilnehmerzahlen (trotz der erwarteten 20.000 Teilnehmer zur Abschlusskundgebung) führte zu dem Vorschlag der bekannten indischen Umweltaktivistin Vandana Shiva, die Weltsozialforen nur noch alle 10 Jahre und die europäischen Foren nur noch alle 5 Jahre durchzuführen, um die eigenen Energien nicht zu verschwenden. Statt aufwändige internationale Treffen zu organisieren, sollten die Globalisierungskritiker lieber lokal handeln, da es bereits eine Menge Zeit verschlinge, wenn man etwa den Biolandbau in Indien voranbringen wolle: „Handeln statt reden“, wenn man nicht mehr die Kraft habe, eine Bewegung zu organisieren.

Während hierzulande heftig, aber bislang folgenlos zum Beispiel über das bedingungslose Grundeinkommen diskutiert wird, gibt es in Namibia und Sambia bereits konkrete Beispiele für den „Social Cash Transfer“, aus denen Entwicklungshelfer eine Menge lernen könnten. Zu dieser Erkenntnis gelangten zeitgleich Mitte September die Teilnehmer an der „Woche des Grundeinkommens“ mit 80 Diskussionsveranstaltungen der Netzwerke in 31 deutschen Städten, aber auch in Österreich und der Schweiz, dem ein dritter Grundeinkommenskongress vom 24. bis 26. Oktober in Berlin folgen soll.

Grundeinkommen als Hoffnung auf eine alternative Gesellschaft - jenseits von Zwängen der Lohnarbeit?

Die lokalen Gruppen eint die Überzeugung, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen für jeden Bürger eine vielversprechende Antwort auf berechtigte Forderung der Menschen nach humanen und gerechten Verhältnissen weltweit darstellt. In Namibia wird es praktiziert mit einem Pilotprojekt, bei dem jeder Dorfbewohner 100 namibische Dollar (gut acht Euro) ohne Gegenleistung ausgezahlt bekommt, ähnlich wie in Sambia (für allerdings hier vorher ausgewählte Familien). Bereits nach sechs Monaten erweist sich das Modell als erfolgreich, weil sich die Menschen davon Lebensmittel kaufen und ihr Geld teilweise sogar für kleine Geschäfte investieren.

Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen können die wichtigsten, von der UNO gesetzten , aber verpassten Milleniumsziele wie die Ernährungssicherheit – die aktuell abgenommen hat – sowie Bildung und gesundheitliche Vorsorge ereicht werden, davon sind die Initiatoren überzeugt. Die Unterernährung gehe zurück, die Kinder gehen zur Schule und Missbrauch sowie Motivationslosigkeit seinen kaum zu beobachten, so dass sich das Grundeinkommen als entwicklungspolitische Maßnahme zur Armutsbekämpfung eigne.

Alle hier beschriebenen zivilgesellschaftlichen Initiativen und Veranstaltungen erscheinen in ihrem Zusammenklingen wie Lichtblicke in der zweiten Jahreshälfte 2008 im neuen Jahrhundert, das auf den politischen und wirtschaftlichen Kriegsschauplätzen sogleich mit vielen dunklen Ereignissen durchsetzt begann. Mit der Individualisierung der gemeinschaftlichen und willensstarken Initiativen vor Ort kann die Losung vom „globalen Denken und lokalen Handeln“ eines vernetzten Weltbürgertums mit humanistischem Menschenbild den fehlgeleiteten Globalisierungsprozess schrittweise verändern und verwandeln. Die Zukunft der Menschheit ist gestaltbar – eine die Ohnmacht überwindende Erkenntnis und Erfahrung im gemeinschaftlichen Handeln aus ethischem Individualismus.


[1] www.calumed.de