Wilhelm Neurohr

ver.di-Zukunftskongress /Regionales Sozialforum Stuttgart am 4./5. Juli 2003 im DGB-Haus Stuttgart:

(Anrede) Es gilt das gesprochene Wort

In der vorigen Woche wurde der Weltsozialbericht vorgelegt, erstellt von einem Bündnis aus 28 Nichtregierungsorganisationen. Darin wird die Privatisierungswelle bei öffentlichen Dienstleistungen als Hauptursache ausgemacht für das Nichterreichen der weltweiten Ziele der vereinten Nationen, nämlich den Hunger und die Armut zu halbieren, die Bildung und Gesundheit zu verbessern usw.

Entgegen den Zielen hat sich die Kluft zwischen arm und reich in den letzten 7 Jahren drastisch vergrößert. Für die Reichen erhöht sich die Lebensqualität, die Armen werden abgekoppelt.

Die Privatisierung hat durchgehend dazu geführt, dass sich die Preise erhöht haben und der Service schlechter wurde, insbesondere bei Wasser, Gesundheit und Energieversorgung. Wir kennen das ja auch von Bahn und Post. Auch die vor 5 Tagen von der Bundesregierung beschlossene vorgezogene Steuersenkung soll teilweise durch Privatisierung gegenfinanziert werden – weil sonst den Gemeinden 3,8 Mrd. € zusätzlich fehlen würden.

Schon vor einem Jahr hat der Ministerpräsident dieses Landes Baden-Württemberg seine Sorge geäußert über die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen. Er sprach sich gegen den Zwang aus, wichtige Maßnahmen der Daseinsvorsorge der Gemeinden zu privatisieren und der Marktbeliebigkeit zu überlassen. Die bewährten Angebote öffentlicher Dienstleistungen durch die Kommunen dürften nicht angetastet werden.

Anlass dieser besorgten Äußerungen war ein ebenso besorgtes Schreiben, das die kommunalen Spitzenverbände in Baden-Württemberg, - also der Städtetag, der Landkreistag und der Städte- und Gemeindebund verfasst hatten.

Hintergrund war das Welthandelsabkommens GATS, das ja zum Ziel hat, ab 2005 sämtliche Dienstleistungen – also auch die öffentlichen und zwischenmenschlichen Dienstleistungen - zur Handelsware zu erklären, nach dem internationalen Handels und Wettbewerbsrecht.

Das ist der Beginn einer Zwangsprivatisierung, einschließlich des Rechtes der kommerziellen Unternehmen, die Versorgungseinrichtungen des Staates und der Kommunen zu übernehmen, obwohl sie eigentlich den Bürgen gehören. Damit ist dem Niedergang und der Kommerzialisierung des Gemeinwesens Tür und Tor geöffnet. Und der Mensch selber wird zu einer Handelsware, und mit ihm die ganze Erde, die Natur, die Zeit und das geistige Eigentum.

Die Folge dieser weiteren Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte - einschließlich der EU-Forderungen zur Privatisierung der öffentlichen Wasserversorgung – wäre der Anfang vom Ende der kommunalen Selbstverwaltung. Die Kommunalparlamente hätten kaum noch etwas zu entscheiden. Sie wären ihrer demokratischen Funktionen beraubt. Eingeschränkt sind sie heute schon.

Denn mit der Kommerzialisierung des öffentlichen Gemeinwesens und dem erzwungenen Herunterschrauben von Umweltstandards, von Sozial- und Tarifstandards usw. entscheiden die internationalen Dienstleistungskonzerne an Stelle der demokratisch gewählten politischen Gremien über die Versorgung der Bevölkerung und deren Gemeinwesen.

Dafür wurde vor 3 Wochen in der neuen EU-Verfassung extra ein Artikel 112 schnell noch eingefügt, der sämtliche Zuständigkeiten für die Handelsliberalisierung an die EU überträgt. Die nationalen oder kommunalen Parlamente bleiben völlig außen vor, wie bisher schon. Damit erhält das GATS-Abkommen der Welthandelsorganisation quasi Verfassungsrang, obwohl es die nationalen Verfassungen und die Kommunalverfassungen aushebelt.

Alles hat sich den Interessen der Wirtschaft unterzuordnen, die auch noch die Rolle der Gesetzgeber übernehmen möchte. Dabei sind ja öffentliche Dienstleistungen nach unserem Selbstverständnis gerade solche Dienstleistungen, die nicht den Marktgesetzen und dem Profitstreben unterstellt werden können.

Mit einem außerdem geplanten Investitionsschutzabkommen, dass im September dieses Jahres auf der Welthandelskonferenz in Mexiko verabschiedet werden soll, können die 145 Mitgliedsstaaten künftig von den Privatkonzernen verklagt werden, wenn diese „handelshemmende“ Umwelt- und Sozialgesetze erlassen. Es handelt sich zugleich um einen Angriff auf die Tarifautonomie. Privates Wirtschaftsinteresse wird also über nationales Recht gestellt und damit über die Interessen der Menschen in den Rechtsgemeinschaften.

Die öffentlichen Dienste sind jedoch soziale Errungenschaften, ohne die Demokratie nicht möglich ist. Durch die am Gemeinwohl orientierten öffentlichen Dienste kann jeder Mensch seine grundrechte ausüben. Auf dem Europäischen Sozialforum der Zivilgesellschaft in Florenz sind die öffentlichen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse formuliert worden.

Die Landesverbände der Kommunen und die Gewerkschaften sorgen sich also zu recht um die Zukunft der Demokratie und der kommunalen Selbstverwaltung vor Ort.

Denn die traditionellen Aufgaben der Städte, Gemeinden und Landkreise werden fast vollständig in Frage gestellt, ungeachtet ihrer verfassungsmäßigen Garantie.

Von der Energieversorgung über die Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung bis hin zu den sozialen und kulturellen Einrichtungen, die bislang von den Kommunen oder vom gemeinnützigen Bürgerengagement getragen werden, soll alles den kommerziellen Unternehmen übergeben werden, so fürchten die kommunalen Spitzenverbände in ihrem erwähnten Brief an den Ministerpräsidenten. Das käme einer Enteignung von Staat und Kommunen durch die private Wirtschaft gleich.

An vielen Orten seien die „global player“ bereits aktiv, so dass es fraglich sei, ob die bewährten Strukturen der bürgernahen Daseinsvorsorge vor Ort dem immer stärkeren Deregulierungsdruck standhalten können.

EU-Kommission und Bundesregierung würden sogar eine Liberalisierung in den sensiblen und gemeinnützigen Bereichen befürworten. Wenigstens dort wurden ja bisher Dienstleistungen ohne Gewinnstreben erbracht, zum gesellschaftlichen Ausgleich und zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, mit Integration aller Bevölkerungsgruppen, auch der sozial Schwachen!

Diese öffentlichen Dienste waren bislang Teil der gemeinsamen Werte in der Europäische Gemeinschaft und des europäischen Gesellschaftsmodells. Das soll offenbar der Vergangenheit angehören. Die Wirtschaftslobby in Brüssel mit ihrem Europäischen Dienstleistungsforum hat es geschafft, den EU-Handelskommissar Pascal Lamy auf die Liberalisierung der Dienstleistungen einzuschwören. Sein engster Berater ist zufällig Vertreter eines großen Dienstleistungskonzerns.

Die Kommunalvertreter fürchten zu recht, dass Qualität und Versorgungssicherheit durch eine Liberalisierung gefährdet und nicht verbessert werden. Somit werden die letzten Grenzen der Globalisierung überschritten, nämlich die Gemeindegrenzen. Die Schere zwischen arm und reich wird am Ende auch hier bei uns noch weiter auseinander klaffen und die Bevölkerung wird die Zeche zahlen.

Dr. Thomas Böhm hat ja im Eingangsreferat auf die soziale, kulturelle und politische Bedeutung der öffentlichen Daseinsvorsorge hingewiesen, die ja laut Kommunalverfassung im wesentlichen den Gemeinden in freier Selbstverwaltung und eigener Verantwortung obliegen. In diese Rechte darf laut Verfassung eigentlich nur durch Gesetze eingegriffen werden, nicht durch die Welthandelsorganisation.

Ohne diese Daseinsvorsorge sind die allgemeinen Menschenrechte nicht zu erfüllen,

z. B. der allgemeine Zugang zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, die Versorgung mit Wohnraum, Wasser und Energie usw. – und zwar unabhängig von der Zahlungsfähigkeit.

Das Prinzip der Solidarität auf Gegenseitigkeit wird also überall abgelöst durch das Prinzip der privaten Zahlungsfähigkeit und des Eigennutzes. Mit dem GATS-Abkommen und dem Investitionsschutzabkommen droht uns also ein faktisches Sozialstaatsverbot!.

Diese Befürchtungen sind also vor einem Jahr schon offiziell geäußert worden – und seither ist sozusagen im Vorgriff auf diese globalen Bestrebungen der Ausverkauf der Kommunen und des Staates längst dramatisch fortgeschritten, in verfassungswidriger Weise.

Damit einher geht ja die gewollte und hausgemachten Verarmung der öffentlichen Haushalte zugunsten privater Reichtums- und Vermögensentwicklung:

Bund, Länder, Städte und Gemeinden hatten zusammen im Jahre 2001 ca. 1.2 Bio. € Schulden. Dem standen zur gleichen Zeit 5,8 Bio. €. Geldvermögen in privater Hand gegenüber.

Staat und Kommunen büßen also mangels finanzieller Mittel ihre Handlungsfähigkeit ein, während sich privates Geldvermögen in bisher nie erlebtem Umfang anhäuft.

Dessen Besteuerung wird zum Tabu erklärt, so dass fast nur die 31% Erwerbstätigen mit ihrem geringfügigen Arbeitseinkommen das öffentliche Gemeinwesen und die Sozialkassen finanzieren müssen. Und sie sind auch diejenigen, die fast allein noch Steuern zahlen müssen, während die Vermögenden in Deutschland in einer Art Steueroase leben.

Nationale Regierungen sind ebenso wie Kommunalverwaltungen über die Argumente des globalen Standortwettbewerbs erpressbar geworden. Sie setzen der Dominanz der Wirtschaft rechtlich nichts entgegen. Sie wetteifern lieber mit Steuervorteilen, Subventionen und sogenannter Deregulierung um die Gunst der Wirtschaftskonzerne, der neuen Hegemonialherren. So ist Deutschland zu Lasten des öffentlichen Gemeinwesens und der Kommunen eine Steueroase geworden.

Insbesondere die Gemeindefinanzen wurden ja unter anderem durch den Verzicht auf 20 bis 30 Mrd. € Körperschaftsteuer und Einbußen bei der Gewerbesteuer durch Hans Eichels Steuerreform in die Handlungsunfähigkeit getrieben.

Damit sollen die Gemeinden zur Privatisierung und zum Stellenabbau gezwungen werden, so ist meine These.

Hinzu kommt in rasanter Geschwindigkeit zudem der Angriff auch auf die sonstigen, auch klassischen Verwaltungsdienstleistungen – und zwar durch deren schleichende Privatisierung im Wege des Virtuellen Rathauses, des Electronic Governments in Partnerschaft zwischen öffentlicher Hand und privaten Unternehmen, Public Private Partnership genannt.

Dahinter steckt die technokratische Vision von der papierlosen zur mitarbeiterlosen Verwaltung, auf jeden Fall aber das größte Personaleinsparungsprogramm in der kommunalen Verwaltungsgeschichte und die Auflösung kommunaler Zuständigkeitsgrenzen. Die Gemeinde-Ebene löst sich im virtuellen Netzwerk auf und verliert ihre Zuständigkeit und Ortsgebundenheit. EGovernment wird zu einem deutlichen Wandel in der Rolle des Staates und der Kommunen führen. Die sozialen und kulturellen Gestaltungs- und Bezugsräume verlieren ihre Bedeutung.

Die erheblichen Investitionen in die elektronischen Netzwerke mit Abhängigkeiten von kommerziellen Netzanbietern und kostenträchtigen Lizenzen soll durch die Personaleinsparungen reichlich wett gemacht werden.

Und auf diesem Wege drängen die kommerziellen Dienstleistungsanbieter in die letzte Domäne der Verwaltung, bis hinein in bislang hoheitliche Bereiche, unter Lockerung des Datenschutzes und Vernachlässigung von Bürgerrechten - mit Tendenzen auch zur Zentralisierung und Vereinheitlichung von zu erbringenden Dienstleistungen. Das erleichtert das Geschäft der späteren Monopolunternehmen.

Dadurch lässt auch die Bindung und Identifizierung der Bürger mit ihren kommunalen Einrichtungen nach, die demnächst über ein gemeinsames Internet-Portal aller Behördenebenen und der privaten Anbieter gar nicht mehr unterscheiden können, ob sie sich in einem privaten oder öffentlichen Angebotsspektrum befinden und wer dahintersteckt.

Die Verschmelzung zwischen Staat und Wirtschaft schreitet weiter voran – obwohl deren Entflechtung notwendig wäre.

Dabei war die kommunale Selbstverwaltungsebene und damit die Demokratiegestaltung vor Ort noch nie so wichtig wie heute! Nur von hier aus kann in erster Linie eine soziale und kulturelle Erneuerung erfolgen, von den örtlichen und regionalen Gemeinschaften, die global denken und lokal handeln. Deshalb sind ja diese regionalen Sozialforen und Zukunftskonferenzen so wichtig! Wir müssen Demokratie und Selbstverwaltung quasi ganz neu erfinden.

Denn je mehr die Globalisierung mit zunehmender Bedeutungslosigkeit der staatlichen Grenzen und Einflussmöglichkeiten voranschreitet, desto wichtiger wird weltweit die regionale und lokale Ebene der Politikgestaltung für die Menschen und ihr örtliches Gemeinwesen.

Doch die Existenzfähigkeit der Städte, Gemeinde und Landkreise ist seit Bestehen der Bundesrepublik noch nie so gefährdet gewesen wie heute, indem man sie in eine ausweglose Finanzsituation getrieben hat.

Viele Städte stehen bereits faktisch vor dem Ruin. Die Zeitungsschlagzeilen vom Pleitegeier über den Rathäusern oder vom Offenbarungseid der Gemeinden sind ja nicht übertrieben.

Einige Kommunalverwaltungen bei uns im Ruhrgebiet wie z.B. die Großstadt Duisburg finanzieren bereits ihre laufenden Personalkosten rechtswidrig über Kredite.

In Nordrhein-Westfalen sind über 90% der Städte nicht mehr in der Lage, ihre Ausgaben über reguläre Einnahmen zu bestreiten.

In diesem Jahr fehlen 557 Mio. €, die nur durch Verkauf von Vermögen oder Kredite aufgebracht werde können.

Spitzenreiter wie die verarmte Ruhrgebiets-Großstadt Gelsenkirchen verzeichnen inzwischen „Haushaltslöcher“ von 40 bis 60 Mio. € bei gleichzeitig 17,3% Arbeitslosen.

Zudem verlangte der Energie-Konzern E.on von der Stadt Gelsenkirchen im vorigen Jahr 30 Mio. € Körperschaftssteuern zurück, indem er das neue Steuerprivileg nutzte, Firmenbeteiligungen steuerfrei abzugeben.

9 Städten im krisengeschüttelten Kreis Recklinghausen, in dem ich beruflich tätig bin, werde nicht einmal mehr die Haushaltssicherungskonzepte von den Aufsichtsbehörden genehmigt. Ein Armutszeugnis für den größten Kreis der Bundesrepublik und die fünftgrößte Gebietskörperschaft nach Berlin, Hamburg, München oder Köln, mit fast 700.00 Menschen.

Deshalb flüchten sich mittlerweile 150 finanzschwache Kommunen in Deutschland in einem Akt der Verzweiflung in windige Leasing-Geschäfte mit amerikanischen Firmen, um durch zweifelhafte Steuertricks im Rahmen des Cross-Border-Leasing einige Millionen Einnahmen zu erzielen. Die Arrangeure dieser trickreichen und für sie lukrativen Geschäfte sind aber keine Helfer oder Retter der Kommunen, sondern ihre Vernichter und Verführer.

Ob Abwasserkanalisation, Kläranlagen, Schulen und Gebäude oder sonstige Infrastruktur – alles wird nach Amerika mittels riskanter Verträge mit langen Laufzeiten hin- und her-verleast.

Allein 20 Kommune in NRW konnten so 350 Mio. € in ihre leeren Kassen spülen. Der Ausverkauf der Städte und Gemeinden ist also in vollem Gange.

Die nur halbherzig angegangene Gemeindefinanzreform wird keine wesentlichen Verbesserungen auf der Einnahmeseite erbringen.

Finanzielle Entlastungen auf der Ausgabenseite verspricht man den Städten und Gemeinden nun durch die Zusammenlegung der Arbeitslosengeldes mit der Sozialhilfe.

Damit werden aber die betroffenen Menschen schrittweise in die Armut getrieben; zugleich sind die Sozialeinrichtungen in den Städten und Gemeinden unbezahlbar geworden. Der Haushalt wird also allein auf Kosten der sozial Schwächsten saniert. Und der Bund wälzt die Kosten auf die Kommunen ab.

Viele Städte und Gemeinden können seit der Steuerreform keinerlei Investitionen mehr tätigen. Der kommunale Gestaltungs- und Handlungsspielraum und der politische Entscheidungsspielraum ist nahe Null seit der Steuerreform.

Das Gesamtdefizit aller kommunalen Haushalte in Deutschland beträgt in diesem Jahr über 11 Mrd. €; 1998 war noch ein Überschuss von rund 2 Mrd. € zu verbuchen.

Viele Städte mussten auf zig Millionen Gewerbesteuer allein deshalb verzichten, weil ortsansässige Zweigniederlassungen von Unternehmen eine Organschaft bildeten, mit deren Hilfe Gewinne und Verluste mit Tochterfirmen verrechnet werden konnten.

Und überall wird mit der perspektivlosen Politik des kommunalen Ausverkaufs darauf reagiert. Das Tafelsilber wird verkauft, wertvolle Grundstücke oder Anteile an regionalen Versorgungsunternehmen werden verkauft und damit politische Einflüsse weggegeben. Alle Sparbemühungen sind ausgereizt, zudem Personaleinsparungen in 6-stelliger Höhe vorgenommen worden und interkommunale Zusammenarbeit ausgeschöpft.

Die Privatisierung von ehemals staatlichen Großbetrieben wie Bahn und Post, von Energieversorgung, Müllbeseitigung, Straßenreinigung oder Stadtgärtnerei wurden als Einnahmequellen entdeckt. Der Bund will jetzt seine Akteinanteile an Telekom verkaufen, um damit seine Steuergeschenke zu finanzieren.

Viele Städte schließen Bäder, Büchereien, Jugendhäuser, Theater und andere nicht kommerzielle öffentliche Angebote. Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser verkommen seit Jahren, weil kein Geld für die Renovierung da ist. Nahverkehr wird reduziert statt ausgebaut. Parks und Straßen vergammeln und verschmutzen, weil im Zuge der Sparmaßnahmen nicht mehr genügen Personal vorhanden ist.

Arbeitslosen-. Kranken- und Rentenversicherung scheinen trotz steigender Beiträge immer weniger finanzierbar – die Medien verbreiten Panik-Stimmung und die Politik reagiert ziellos und hilflos. Sie behaupten, es gäbe keine Alternativen. Wir wollen auf diesem Kongress das Gegenteil beweisen!

Das alles sind die Folgen des ungezügelten Liberalismus in der Wirtschaft, der gebetsmühleartigen neoliberalen Propaganda, die unsere Medien wie unsere Parteien zur Gleichschaltung verdammt und wie ein Bazillus immer mehr Menschen ergreift – fast so wie in einem totalitären System. Eine Art Wirtschaftsdiktatur lähmt die Gedankenfreiheit, ohne die aber die soziale Frage im 21. Jahrhundert nicht lösbar ist. Denn nicht alte ideologische Rezepte sind gefragt, sondern neue kreative Ideen für eine neue Solidarität.

Denn der Ideenreichtum der Unternehmen und des Staates erschöpft sich in widersinniger Scheinlogik:

Abbau des Sozialstaates zum angeblichen Zwecke seiner Erhaltung;

Massenentlassungen zum Zwecke der Schaffung von Arbeitsplätzen,

die Zukunftssicherung der Gemeinden durch Abwälzen aller Soziallasten auf die lokale Ebene usw.

Es geht ihnen also nicht um zivilgesellschaftliche Alternativen oder um eine Abkehr vom überkommenen Arbeits- und Erwerbsmodell.

In Wirklichkeit geht es um das, was Vivian Forrestier in ihrem neuen Buch als „Die Diktatur des Profits“ beschreibt und was sie in ihrem vorherigen Bestseller den „Terror der Ökonomie“ genannt hat.

Ganz in diesem Sinne hat sich die privatisierte Post vor wenigen Wochen erdreistet, öffentlich bei den empörten Bürgern und Kunden um Verständnis zu werben für die Schließung der meisten Nebenstellen und das Abmontieren von 60% aller Briefkästen,

- mit der offiziellen Begründung, dass zunächst die Ansprüche der Aktionäre Vorrang haben müssten vor den Bürger- und Kundeninteressen. Die Gewinnausschüttung wurde so von 2,6 auf 8,3 Mrd. € erhöht: „Shareholder value“ pur.

Die Versorgung von König Kunde mit Dienstleistungen ist gar nicht mehr das primäre Bestreben solcher Dienstleistungsunternehmen, die zum Selbstzweck der Börsenspekulanten werden und sich so ihren eigenen Ast absägen, der ihre Daseinsberechtigung ausmacht.

Ähnliches wie bei der Post erlebten wir ja bei der Bahn AG, die sich aus der flächendeckenden Nahverkehrsversorgung weitgehend zurückgezogen hat und die Kunden eher quält als bedient. (Auf der Bahnfahrt hierher nach Stuttgart habe ich es wieder erlebt.)

Und dieser Trend geht ungebrochen weiter.

Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Sämtliche Aufgaben der öffentlichen Hand und der Kommunen für die Daseinsvorsorge in nahezu allen Bereichen sollen auf nationale und internationale Konzerne und kommerzielle Dienstleistungsunternehmen übertragen werden – mit Anpassung an die niedrigsten internationalen Standards für Löhne, Soziales und Umweltschutz.

Global agierende Dienstleistungskonzerne haben das komplette Dienstleistungsspektrum in den Hunderttausenden Kommunen und regionalen Einrichtungen weltweit im Visier, die bislang durch die öffentliche Hand, durch freie Träger oder gemeinnützige Einrichtungen in Selbstverwaltung erbracht werden – ein schier unerschöpflicher Dienstleistungsmarkt als Milliardengeschäft.

Allein im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie mit der Trinkwasserversorgung hofft man, weltweit 6,5 Billionen Dollar an den Finanzmärkten erzielen zu können. Wir stehen also erst am Anfang einer großen Privatisierungswelle, obwohl schätzungsweise schon längst 50% der kommunalen Dienstleistungen privatisiert, aufgegeben oder eingeschränkt worden sind oder sich in der Ausgründung befinden.

Öffentliche Dienstleistungen werden ja schon seit langem gebetsmühlenartig in Misskredit gebracht und die Privatisierung als Allheilmittel gepriesen – obwohl regelmäßigen Umfragen zufolge rund 70% der Bevölkerung mit den kommunalen Dienstleistungen höchst zufrieden sind.

In meiner Heimatstadt Recklinghausen im Ruhrgebiet denkt man sogar schon über die Kommerzialisierung der Trauerhallen auf de Friedhöfen nach, womit auch die Bestattungen für die Normalsterblichen kaum noch bezahlbar werden.

Das passt zu dem Vorstoß, älteren Menschen nur noch eine medizinische Grundversorgung zukommen zu lassen. Tod und Krankheit als Handelsware?

Die Kommerzialisierungswelle überrollt die Kommunen zu einem Zeitpunkt, an dem nicht nur eine Neubesinnung auf die gemeinnützig orientierte Gemeinwesenarbeit in den örtlichen Gemeinschaften stattfindet und die ehrenamtliche Arbeit von 40% der Bevölkerung für das Funktionieren des örtlichen Gemeinwesens sorgt, sondern wo sich immer mehr Bürger z.B. im Zuge der Bürgerkommune oder Lokalen Agenda 21 zu Eigenverantwortung und Eigeninitiative bereitgefunden haben.

Eine jetzt fällige soziale, kulturelle und ökologische Neuorientierung der Gesellschaft bedarf ja der räumlichen Nähe und Überschaubarkeit sozialer Beziehungen und Verantwortungsbereiche.

Wir brauchen neue gesamtgesellschaftliche Zukunftskonzepte und Praxismodelle, die nicht aus einer ideologischen Mottenkiste des 19. und 20. Jahrhunderts stammen, aus denen die politischen Parteien übrig geblieben sind. Diese erdreisten sich, die neoliberale Ideologie mit dem Modernisierungs- und Reformbegriff zu etikettieren. Als Weltbürger der Zivilgesellschaft haben wir andere Zukunftsvorstellungen.

Global denken und lokal handeln heißt ja auch, sich nicht nur für den fernen Regenwald verantwortlich zu fühlen, sondern zunächst der eigenen Verantwortung vor Ort gerecht zu werden.

Das ist viel schwieriger als eine bloße Demonstration gegen globale Fehlentwicklungen.

Obwohl es unverzichtbar ist , mit der gesamten zivilgesellschaftlichen Bewegung z.B. das GATS-Abkommen zu verhindern.

Wir müssen aber auch die soziale, kulturelle und politische Bedeutung der öffentlichen Daseinsvorsorge neu ins Bewusstsein heben.

Schließlich müssen wir dann in ganzheitlichen Zusammenhängen ein solidarisches und soziales Gemeinwesen sozusagen neu erfinden nachdem die Verteidigung des zerstörten alten alleine nicht von Erfolg gekrönt ist.

Die Wende hin zu einer anderen, besseren Welt, in welcher der Mensch im Mittelpunkt steht, findet entweder vor Ort statt und wird von den Menschen vor Ort gestaltet –

oder sie findet gar nicht statt.

Wir brauchen wieder zukunftsfähige Städte und Gemeinden durch eine Reform des Föderalismus, zur Stärkung der lokalen Vor-Ort-Initiativen mit lokalen Einnahmequellen, auch eine andersartige Reform der Sozialhilfefinanzierung oder eines Grundeinkommens für alle, eine Reform der Steuern durch Besteuerung aller Einkommensarten usw.

Die größte Gefährdung des kommunalen Gemeinwesens wäre das Desinteresse und die Gleichgültigkeit, oder auch die Ahnungslosigkeit der Menschen gegenüber den Gefährdungen ihrer kommunalen Selbstverwaltung.

Deren Wertschätzung steigt hoffentlich in dem Maße, in dem diese in Gefahr ist.

Wir erleben ja frontale Angriffe auf die Demokratie, auf die Solidarität und auf die Menschenwürde.

Wollen wir an den Ursachen dieser Gefahren ansetzen, und nicht nur an den Symptomen kurieren wie die Politiker, müssen wir im wesentlichen die drei von mir aufgezeigten akuten Gefährdungen der kommunalen Selbstverwaltung im Gesamtkontext in den Blick nehmen.

Ich will das abschließend nur in Schlagworten oder 3 Fragen skizzieren, weil wir das ja morgen in den Foren inhaltlich vertiefen und kreativ erarbeiten wollen:

  1. Wie begegnen wir der globalen Gefährdung der Demokratie auf allen Ebenen und wie gestalte wir ihre Wiederbelebung in kommunalen Gemeinschaften und in weltweiten Netzwerken - auch unter Nutzung der elektronischen Kommunikations- und Partizipationsmöglichkeiten und von Elementen der direkten Demokratie?
  2. Wie lösen wir die Finanzierungsfrage des Gemeinwesens, z.B. unter Einbeziehung der Idee der Bertelsmann-Stiftung für eine lokale Wirtschaftssteuer und eine Bürgersteuer, in Verbindung mit einer Änderung von Grundsteuer und Gewerbesteuer – also eine grundlegende Korrektur im Gemeindefinanzsystem? Und wie sichern wir die Mitgestaltungsmöglichkeiten bei der Haushaltsplanung und der Verwendung unserer Steuergelder auf der lokalen Ebene, z.B. über das Beteiligungsprojekt Bürgerhaushalt?.
  3. Wie kommen wir zu einer eigenverantwortlichen Wahrnehmung von öffentlichen Gemeinschaftsaufgaben im Sinne der Bürgerkommune in örtlichen und regionalen Verantwortungsketten mit Eigeninitiative – und das ganze im Bewusstsein der Individualisierung der Menschen und einer neuen selbstbestimmten Gemeinschaftsfähigkeit? Ich erwähne die Stichworte Bürgerkommune und Bürgerstiftung.

Auf lokaler Ebene individualisiert sich die globale Verantwortung in einem Wirtschaftssystem der totalen Verantwortungslosigkeit. Hier können wir unser Ohnmachtsgefühl überwinden!

Die Idee der Bürgerstiftung, der Stadtstiftung oder Gemeinschaftsstiftung für gemeinnützige Aufgaben auf lokaler oder regionaler Ebene kann einen Teil der in private Taschen geflossnen Gelder wieder reaktivieren.

Hierbei sollten wir auch nachdenken über Alternativen zu nur staatlichen oder nur kommerziellen Dienstleistungen in Form selbstverwalteter Einrichtungen.

Bürgerengagement und Bürgerbeteiligung müssen gestärkt werde, auch durch eine lokale Demokratie-Bilanz!

Letztlich brauchen wir ein ganz neues Verständnis von unserer künftigen Dienstleistungs- und Arbeitsgesellschaft und eine andersartige Zukunftssicherung der Sozialsysteme insgesamt unter den globalen Bedingungen, über die ja anschließend Prof. Spehl sprechen wird.

Das drohende Ende der kommunalen Selbstverwaltung ist also der hoffnungsvolle Aufruf zu einem neuen Anfang!