Wilhelm Neurohr

Sehr geehrter Herr Pantförder,

im Rahmen der Bürgerfragestunde bitten wir um die öffentliche Beantwortung der nachfolgend gestellten Fragen sowie gleichzeitig um die Unterrichtung des Rates gemäß § 62 (4) und der Bürgerschaft gemäß § 23 GO NRW zum gleichen Thema.

Betrachten Sie diese Anfrage bitte zugleich auch als Anregung und Beschwerde im Sinne des § 24 der GO NRW.

Zuvor sei hier der Hintergrund der nachfolgenden Fragen erläutert, um zu verdeutlichen, dass es um die Abwendung drohender verfassungswidriger Verstöße gegen die in §§ 1 und 2 GO NRW verankerte Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinde geht sowie um das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Wohl der Einwohner dieser Stadt:

Durch den EU-Handelskommissar werden bei der Welthandelsorganisation (WTO) derzeit ohne parlamentarische Beteiligung des Bundestages oder nachgeordneter parlamentarischer Ebenen, insbesondere ohne jegliche Beteiligung des Rates der Stadt weitreichende rechtsverbindliche Entscheidungen auf der Grundlage des internationalen Handels- und Wettbewerbsrechtes zur Übertragung öffentlicher und kommunaler Dienstleistungen auf private, kommerzielle Unternehmen getroffen, mit Einschränkung auch der kommunalen Umwelt-, Sozial- und Tarifstandards etc.

Von den in 2005 bereits wirksam werdenden Regelungen des so genannte GATS-Abkommens (General Agreement on Trade in Services) werden auch die Belange der Stadt Recklinghausen direkt und unmittelbar berührt und massiv beeinträchtigt, so dass die rechtzeitige Thematisierung im Rat der Stadt und in der Bürgerschaft zweifellos dringend nötig und geboten erscheint. (Siehe auch beigefügte Aufsätze zu den Auswirkungen des GATS-Abkommens auf die kommunale Ebene).

Auch wenn die Stadt nicht unmittelbar auf die Verhandlung der internationalen Institutionen außerhalb ihrer Zuständigkeitsebene Einfluss nehmen kann, so kann sie doch über ihren kommunalen Spitzenverband (Städtetag) oder auf dem Dienstweg über die Aufsichtsbehörden und die übergeordnete Landes- und Bundesebene Einfluss zu nehmen versuchen. Ferner kann sie selber auf dem verwaltungs- oder verfassungsgerichtlichen Klageweg gegen den verfassungswidrigen Eingriff in ihre in der Gemeindeordnung verankerten Rechte (einschließlich der Rechte zur wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen Betätigung gemäß §§ 107 ff der GO NRW) vorgehen oder den Städtetag stellvertretend bitten, die Interessen der Mitgliedsstadt Recklinghausen und anderer Kommunen wahrzunehmen.

  • Ziel und Zweck des GATS-Abkommens mit seinen unmittelbaren Auswirkung auf die Gemeinde-Ebene ist es, im Zuge der Liberalisierung des Dienstleistungsmarktes die Aufgaben der öffentlichen Hand und der Kommunen für die Daseinsvorsorge in nahezu allen Bereichen (Kultur, Schule, Bildung, Umwelt, Sozial- und Gesundheitswesen, Freizeitwesen, Wirtschaftsförderung, Altenpflege Wasser- und Energieversorgung, Abwasser- und Abfallentsorgung, usw.) auf nationale und internationale Konzerne und kommerzielle Dienstleistungsunternehmen zu übertragen, mit Anpassung an die niedrigsten internationalen Standards für Löhne, Soziales und Umweltschutz.
  • Erstmalig werden öffentliche Dienstleistungen zur Handelsware erklärt und damit den Rechtsebenen und politischen Entscheidungsebenen ihre Regelungs- und Entscheidungsmöglichkeiten im Dienstleistungssektor genommen. In Kommune, Land und Bund treffen verfassungswidrig Konzerne künftig die Entscheidungen, für die in funktionierenden Demokratien gewählte Politiker und Parlamente zuständig sind. Damit gefährdet das GATS-Abkommen die Demokratie und die Kommunalverfassung.
  • Gesetze und kommunale Satzungen, die dem entgegenstehen, sind dann ebenso unbeachtlich wie das kommunale Bestreben, die lokale und regionale Wirtschaft vorrangig zu fördern oder bestimmte öffentliche Aufgaben gemäß Gemeindeordnung selber durchzuführen. Den Behörden wird faktisch ihre Aufsichts- und Genehmigungsfunktion weitgehend entzogen (auch z. B. über Themen wie nach GATS erlaubte Einkaufszentren auf grüner Wiese).
  • Immer dann, wenn ein privater Anbieter von Dienstleistungen antritt, hat die Kommune ihre öffentlichen Dienstleistungen an diesen ohne Möglichkeit einer Ratsentscheidung zu übertragen oder andernfalls dem privaten Anbieter die gleichen Konditionen und Subventionen zu gewähren (Personalkosten, Sachkostenzuschüsse, Fördermittel etc.) wie bei der bisherigen öffentlichen Aufgabenerledigung. Betroffen sind auch die freien und gemeinnützigen Träger in der Stadt in gleicher Weise. Verstöße gegen das GATS-Abkommen werden durch eine globale Regulierungsbehörde geahndet.

Fragen an Rat und Verwaltung (Bürgeranfrage):

  1. Haben Rat und Verwaltung der Stadt Recklinghausen sich mit dem Thema GATS schon auseinandergesetzt? Wann, in welcher Form, mit welchen Ergebnissen und Erkenntnissen? Ist auch eine öffentliche Unterrichtung der Einwohnerschaft darüber geplant mit dem Aufzeigen der Folgen für das Wohl der Stadt und ihrer Einwohner?
  2. Sind sich Rat und Verwaltung in Recklinghausen darüber bewusst, dass sie nach 2005 mit dem Inkrafttreten des GATS-Abkommens ihre wesentlichen Funktionen und Aufgaben nach der Gemeindeordnung sukzessive einbüßen und die kommunale Selbstverwaltung bis hinein in hoheitliche Bereiche damit gefährdet ist? Was gedenkt die Stadt dagegen zu unternehmen (im Zusammenwirken mit den kommunalen Spitzenverbänden und den Nachbarkommunen sowie Aufsichtsbehörden)?
  3. Hat die Stadt Recklinghausen schon eine Folgen-Abschätzung für die Entwicklung der Stadt vorgenommen und eine Strategie entwickelt, wie sie gleichwohl ihre Rechten und Pflichten nach der Gemeindeordnung zum öffentlichen Wohl wahrnehmen will, wie sie zu befürchtende Defizite bei der kommunalen Daseinsvorsorge ausgleichen will und wie der Rat seine parlamentarische Restfunktion dann ausgestalten will? Ist daran gedacht, die Stadt Recklinghausen symbolisch zur „GATS-freien Zone“ zu erklären?

Für die attac-Ortsgruppe Recklinghausen: