Wilhelm Neurohr

Sehr geehrter Herr Gabriel,

mit Entsetzen lese ich die heutigen Pressemeldungen über Ihre Verlautbarungen nach dem Gepräch mit der neuen EU-Handelskommissarin Frau Malmström zur Frage der Schiedsgerichte im CETA-Abkommen. Hierzu wurden Sie ja auch von den Lobbyvertretern der Industrie in den letzten Tagen massiv unter Druck gesetzt.

Demnach rücken Sie nun von Ihrer ablehnenden Haltung zu den Schiedsgerichtsverfahren bei CETA wieder ab und folgen den Vorgaben der EU-Kommission, ein Schiedsgericht "light" zu akzeptieren. (Dies zeichnete sich schon nach Ihrem in Auftrag gegebenen Gutachten durch Frau Zypries ab).

Möglicherweise hat Sie Ihr (für die Freihandelsabkommen bislang zuständiger) Staatssekretär Stefan Kapferer (FDP) im Wirtschaftsministerium zu einseitig über die Inhalte und Folgen informiert?

Ihr Wahlkampfslogan in Ihrem Wahlkreis und auf Ihrer Homepage bezüglich der "Gradlinigkeit" von Sigmar Gabriel erweist sich nun als Zickzack-Kurs?

Auch ebenso bedenkliche weitere Regelungen in CETA (und auch TTIP und TISA) wie z. B. die Kompetenzen des regulatorischen Kooperations-Rates, die Öffnung für das öffentliche Beschaffungswesen und die Marktzugangsverpflichtung für öffentliche (einschl. kommunale) Dienstleistungen, die Negativliste statt Positivliste und die Umkehrung des Vorsorgeprinzipes u. v. m. sollen offensichtlich "durchgewunken" statt nachverhandelt werden?

Sind also die 14 Punkte in dem gemeinsamen Positionspapier der SPD mit dem DGB keine verbindlichen "k.o.-Kriterien", sondern waren sie nur unverbindliche Aussagen, um den "linken Parteiflügel" und die Basis vorerst "ruhig zu stellen"?

Ihre Parteibasis hat damit erhebliche Probleme und leistet landauf, landab Widerstand, auch in den Kommunalparlamenten, nicht zuletzt wegen der in Guatchten bereits nachgewiesenen Verfassungswidrigkeit der CETA- und TTIP-Regeln, die auch dem Subsidiaritätsprinzip des EU-Lissabon-Vertrages widersprechen.

Wollen Sie nun Ihre Parteibasis mit BASTA-Politik, wie Ihr Vorgänger, auf Linie bringen?

Merken Sie nicht, dass die SPD bei diesem Konfliktthema vor einer ähnlichen Zerreiss-Probe und Austrittswelle steht wie nach der umstrittenen Agenda 2010? Und voraussehbar vor einer vergleichbaren Reaktion der enttäuschten Bürger und Wähler?

Denn zu den TTIP-Kritikern und -gegnern gehören längst nicht mehr nur die "üblichen Verdächtigen" aus den inzwichen 290 zivilgesellschaftlichen Organisationen, die bereits 750.000 Unterschriften in der Bevölkerung gesammelt haben.

Sondern fast alle etablierten gesellschaftlichen Organisationen sprechen sich mit Stellungnamen dagegen aus: Die Kirchen, die Sozial- und Wohlfahrtsverbände, die Gewerkschaften, die Umweltverbände, der Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft, die Verbraucherverbände und -zentralen, der deutsche Richterbund, die kommunalen Spitzenverbände, die Verbände der öffentlichen Unternehmen, der Kulturrat, der Künstlerbund, der Börsenverein des deutschen Buchhandels, die deutsche UNESCO-Kommission, der Lehrerverband usw. usf., die Liste ist unendlich lang und deckt nahezu die gesamte Gesellschaft mit ihren Instututionen ab.

Ich fürchte, Sie haben die Dimension der Widerstandsbewegung nicht wirklich erfasst und eingeschätzt, denn es ist die größte Demokratie- und Bürgerbewegung seit Bestehen der EU (seit 57 Jahren), heftiger noch als die NON-Bewegung bei den erfolgreichen EU-Verfassungsreferenden 2005/2006 in Frankreich, Niederlande und Irland.

Ich appelliere eindringlich an Sie, lassen Sie sich weder von der EU-Kommission noch von den Wirtschaftslobbyisten davon abbringen, die drei Freihandelsabkommen CETA, TTIP und vor allem das noch weiter reichende TISA-Abkommen (mit Rekommunalisierungsverbot etc.) völlig neu zu verhandeln und die bisherigen Entwürfe nicht zu ratifizieren!

Sollten Sie sich dazu nicht durchringen können, dann wären Sie eigentlich als SPD-Wirtschaftsminister und Parteivorsitzender nicht mehr tragbar und sollten im Sinne Ihrer "Gradlinigkeit" den Rücktritt erklären, bevor andere Ihren Rücktritt fordern.

Nur so könne Sie ein Desaster für die Sozialdemokraten bei der nächsten Bundestagswahl nach der großen Koalition abwenden. Sie sollten sich auch nicht scheuen, an dieser Streitfrage der Freihandelsabkommen die Koalitionsfrage, d. h. den Bruch der Koalition mit der CDU zu riskieren. Das würde sicher von Ihren Wählerinnen und Wählern mehr honoroert als ein in diesem Fall falscher Harmonie-Kurs mit der CDU als TTIP-Befürworter.

Mit freundlichen Grüßen
Wilhelm Neurohr