Wilhelm Neurohr

Die Nachricht aus Oslo zur Verleihung des diesjährigen Friedensnobelpreises an Mohammed Junus, den bescheidenen Bankier der Armen aus Bangladesch, stieß auf durchweg positives Echo. Dass seine revolutionäre Grameen-Bank mit ihrer vorbildlichen Hilfe zur Selbsthilfe durch Kleinkredite den Ärmsten der Armen zu einer bescheidenen Zukunftsperspektive verhilft, fand besonderes Lob ausgerechnet bei den Globalisierungsgewinnern und -eliten, die selber bei der Armutsbekämpfung versagt haben und für die Armutsentstehung maßgeblich mitverantwortlich sind. Ein Friedensnobelpreis zu deren Gewissensberuhigung und zur Verfestigung einer fehlgeleiteten Weltwirtschaft?

Für die von bitterer Armut betroffenen Menschen ist es zweifellos ein Segen, dass es den unermüdlichen Mohammed Junus mit seiner Bankinitiative seit 1976 gibt, die eine andere, brüderliche Gesinnung in das Geld- und Kreditwesen hineinbringt und die individuelle Eigeninitiative und Selbständigkeit insbesondere der Frauen auf den Dörfern fördert. So werden Verlierer zu Gewinnern. Für normale Banken, die anfangs die Initiative von Mohammed Junus verspotteten, waren und sind die Armen bislang nicht kreditwürdig. Für die Grameen-Bank, die zu 94% im Besitz der Kreditnehmer ist, reicht die moralische Bürgschaft von jeweils 5 Frauen füreinander, um das Geld ohne Sicherheiten zu gewähren. Etwa 99% der Kredite mit bis zu max. 20% Zinsen werden tatsächlich zurückgezahlt und ermöglichen der Alternativbank sogar Gewinne.

Dass Mohammed Junus nicht den Wirtschaftsnobelpreis, sondern überraschend den Friedensnobelpreis erhielt, begründete das Komitee in Oslo: „Ohne Wege aus der Armut kein Frieden“. Mit dieser zutreffenden gleichen Erkenntnis wird die weltweite Armutsbekämpfung als Milleniumsziel alljährlich auf den offiziellen Gipfeltreffen erneuert, obwohl im Gegenteil seither die Zahl der Armen täglich immer schneller wächst. In 46 Staaten sind die Menschen heute ärmer als damals und in 25 Ländern leiden die Menschen heute mehr Hunger als vor 10 Jahren. Derweil stieg die Zahl der Dollarmilliardäre von 476 im Jahre 2003 auf 691 im Jahre 2005, deren Nettovermögen binnen zweier Jahre von 1,4 auf 2,2 Bio. US-Dollar zunahm.

Am selben Tag der Presseveröffentlichung über die Friedensnobelpreisverleihung an den Bankier der Armen erschein daneben zugleich ein Artikel über die reichsten deutschen Milliardäre in der Weltrangliste mit einem Privatvermögen bis zu 16 Mrd. Dollar, derweil sich wegen solcher Privatbesitzverhältnisse die Kinderarmut in Deutschland binnen dreier Jahre auf fast 10% verdoppelt hat, denen es im Vergleich zu den bettelnden Straßenkindern in Bombay, Bangladesch oder Rio de Janeiro noch relativ gut geht. „Schädlich wirkt nicht das Kapital, sondern seine Verwaltung aus den Privatbesitzverhältnissen heraus, wenn diese Privatbesitzverhältnisse die soziale Struktur des Wirtschaftskörpers von sich abhängig machen“.[1]

Ob vor diesem Hintergrund die Vision des begeisterungsfähigen 66-jährigen Nobelpreisträgers also Wirklichkeit wird, allein auf dem Wege der Vergabe von Kleinkrediten eines Tages die Armut auf der Welt vollends zu beseitigen, ist eine berechtigte Zweifelsfrage. Als Wirtschaftsprofessor in den USA hatte er jedenfalls früh erkannt, dass die gängigen Wirtschaftstheorien nicht greifen, derweil Millionen Menschen auf den Straßen vor Hunger sterben. Trotzdem wird von den neoliberalen Theorien im Wirtschaftsleben nicht abgerückt, obwohl deren Misserfolge immer deutlicher sichtbar werden. Die wirtschaftlich Übermächtigen sind in der Lage, auch durch helfende Kräfte in den Verwaltungen und Volksvertretungen, sich Rechtsvorteile zu erringen gegenüber den wirtschaftlich Abhängigen mit gleichzeitiger Monopolisierung des geistigen Lebens.

Indem das Konzept der Grameen-Bank zwar hilfreich und segensreich auf erfolgreiche Weise bei der bereits eingetretenen Armut ansetzt, ohne aber deren eigentliche Entstehungsursachen einzubeziehen, bleibt es nicht letztlich ein Kurieren an Symptomen unter Vernachlässigung der eigentlichen Armuts-Ursachen? Damit können sich die führenden Kräfte einer neoliberalen Weltwirtschafts(un)ordnung ruhigen Gewissens darin bestärkt fühlen, so weiter zu machen wie bisher mit einer auf ökonomische Perspektiven verengten Globalisierung, die täglich mehr Verlierer als Gewinner hervorgehen lässt: Weiterhin gibt es für die armen Länder keinen Ausweg aus der Schuldenfalle. Die Gesamtauslands-Verschuldung der 40 einkommensschwächsten Länder beträgt heute über 520 Mrd. Dollar.[2] Die armen Schuldner aus dem Süden, die keine neuen Kredite mehr bekommen, finanzieren aus ihren Rückzahlungen einen Teil der Defizite der reichen Nationen.

Gerade die Banken und der Internationale Währungsfond (IWF) haben nach den Schuldenkrisen der achtziger Jahre die Flucht angetreten. Mehr als ein Jahrzehnt lang haben die meisten Entwicklungsländer auf den internationalen Finanzmärkten keine neuen Kredite mehr bekommen. In dieser Zeit finanzierte die Dritte Welt die Erste. Jetzt gibt es wieder Geld – und neue Abhängigkeiten sowie eine problematische Zahlungsbilanz. Der heutige deutsche Bundespräsident Horst Köhler, der als einer der ersten dem neuen Friedensnobelpreisträger und Alternativbanker öffentlich euphorisch gratulierte, war jahrelang in Washington als geschäftsführender Direktor des IWF (eine Schwesterorganisation der Weltbank) für diese Politik mitverantwortlich, mit der eine Verschärfung der Armut und der Krisen z.B. in Brasilien, Argentinien und Ostasien sowie in Ungarn eingetreten war.

Was weltweit in unserem öffentlichen Leben innerhalb der zivilisierten Welt geschieht, zeigt sich „durchsetzt wie von einer sozialen Geschwürbildung, einer schweren sozialen Krankheit, einer Art sozialen Krebsbildung“.[3] Diese schleichende Krankheit innerhalb unseres Wirtschaftslebens, aber auch unseres ganzen sozialen Lebens, zeigt, dass die Gedanken der Menschen nicht mehr ausreichen, um die Tatsachen zu meistern. Um zur Wiedergesundung unserer sozialen Verhältnisse zu kommen, haben wir „nicht an kleine Umwandlungen von diesen oder jenen Einrichtungen zu denken, nicht an eine kleine Abrechnung, sondern an eine große Abrechnung mit dem Alten, das morsch und faul geworden ist und nicht mehr hineinmünden darf in das, was für die Zukunft geschehen soll.“

Der Wettstreit auf dem so genannten „freien Wirtschaftsmarkt“ hat schon durch lange Zeiten hindurch als einzigen Antrieb in der Regelung der Wirtschaft den „Profit“ und ähnliches zurückgelassen anstatt die Frage der Versorgung aller Menschen mit Gütern und Dienstleistungen. „Die Menschheit über die ganze Erde hin will eine einzige Wirtschaftsgemeinschaft werden. (…) Die nationalen Wirtschaften suchten „wirtschaftend für sich als Gewinne einzuheimsen, was nur in dem allgemeinen Wirtschaftsleben zirkulieren sollte“. (…) „Die Erweiterung der nationalen Wirtschaften zur einheitlichen Weltwirtschaft kann nicht verwirklicht werden, wenn nicht in den einzelnen Organisationen das Wirtschaftsleben von dem geistigen und dem politisch-rechtlichen abgegliedert wird.“[4] Denn vor allem wirkt das Wirtschaftsleben so übermächtig auf die Menschheit, weil dem kein politisch-rechtliches gegenübersteht, das ihm entgegenwirkt.

„Die soziale Frage ist an die Oberfläche der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit getreten und sie wird von jetzt an immer da sein.(…) Weite Kreise denken heute, die wahren Impulse des Menschenlebens liegen in den Wirtschaftsformen.“ [5] Die Menschen werden sich „durchringen müssen zu der Erkenntnis, dass die gegenwärtige Lage nicht verbessert werden kann durch die bloße Umgestaltung des Wirtschaftslebens, sondern durch die Loslösung des Geisteswesens und Rechtswesens von dem Wirtschaftsleben in dem dreigliedrigen sozialen Organismus“. Das Geistes- und Rechtsleben darf nicht länger eine aus dem Wirtschaftswesen geborene Ideologie sein und in den Staaten dürfen sich nicht die geistigen und politisch-rechtlichen Interessen mit den wirtschaftlichen verbinden.

Die Armutsursachen haben wir also vor allem in den vorgenannten Verhältnissen zu suchen, innerhalb derer die Initiativkräfte der einzelnen Abhängigen sich nicht entfalten können. Wenn die Friedensnobelpreisverleihung an Mohammed Junus eine öffentliche Diskussion über diese zentralen Fragen der wirksamen Armutsbekämpfung auslösen kann, indem zugleich auch der Beifall von falscher Seite zurückgewiesen wird, dann kann die Weltöffentlichkeit mit Gedankenreichtum ein weitergehendes Verständnis darüber gewinnen, wie Verlierer zu Gewinnern werden oder Gewinner zu Verlieren – besser noch, wie alle Menschen daraus gewinnen können.


[1] Rudolf Steiner, Aufsätze über Staatspolitik und Menschheitspolitik (GA 24)

[2] Atlas der Globalisierung (LE MONDE diplomatique), Ausgabe 2006

[3] Rudolf Steiner am 15. September 1919 in Berlin, „Gedankenfreiheit und soziale Kräfte“ (GA 333)

[4] Rudolf Steiner, Aufsätze über Staatspolitik und Menschheitspolitik (GA 24)

[5] Rudolf Steiner, Aufsätze über Staatspolitik und Menschheitspolitik (GA 24)