Wilhelm Neurohr

Thesen- und Arbeitspapier (in Stichworten):

A. Zur aktuellen Konfliktsituation

1. Grundsätzliches zur Bedeutung von Bildung und Kultur für die Zukunft Europas

  • Die soziale, wirtschaftliche und demokratische Krise der EU ist ursächlich und in der Auswirkung eine kulturelle Krise Europas (und zugleich Ausdruck einer inne- ren Krise seiner Menschen).
  • Die Vereinnahmung von Bildung und Kultur durch die Wirtschaft und Politik ist der sozialen und kulturellen Zukunftsentwicklung Europas und seiner kulturellen Viel- falt abträglich.
  • Die Bedingungen und Voraussetzungen für ein freies Kulturleben und Bildungs- wesen sowie die Fehlentwicklungen und ihre Folgen für Europas Zukunft sind klar aufzuzeigen, denn ohne (Bildungs-)Ideale wird die Europäische Gesellschaft „verhungern“.

2. Zur Problematik von Bildung und Kultur als Handelsware auf den Märkten

  • Bildung und Kultur (zur individuellen Persönlichkeitsentfaltung) gehören nicht in marktorientierte Handelsabkommen und die Zukunftsfragen von Bildung, Wissen- schaft und Forschung nicht in die alleinige Verfügungsgewalt von Handelskom- missaren und –beauftragten unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
  • Kultur und Bildung als elementare Bürger- und Menschenrechte sind nichtökono- mische Gesellschaftsaufgaben und zwischenmenschliche Beziehungsdienstleis- tungen für die Allgemeinheit, nicht für die Märkte; sie besitzen einen eigenen, nichtökonomischen Wert.
  • Sie gehören deshalb nicht als „Handelsware“ oder „Produkte“ mit Warencharakter auf Scheinmärkte für „Konsumenten“, weil die gewinnorientierten Handelsmärkte keine kulturellen Güter und Errungenschaften hervorbringen können, sondern diese verhindern, wenn sie nicht lukrativ sind oder keine „Quote bringen“.

3. Die negativen Auswirkungen der Kommerzialisierung von Bildung und Kultur

  • Kommerzielle Bildungseinrichtungen beeinträchtigen das humanistische Bil- dungsideal und sein Menschenbild und ersetzen es durch einen problematischen Bildungsbegriff nach einem Menschenbild des funktionierenden egoistischen Wirtschaftssubjekts; das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen steht jedoch über dem Wirtschaftsegoismus

  • Mit kommerziellen Bildungseinrichtungen erfolgt eine Abkehr von der öffentlichen Finanzierung (Schenkungsgelder) und von der autonomen Selbstverwaltung und Mitbestimmung zugunsten inhaltlicher und organisatorischer Unternehmenssteu- erung unter rein betriebswirtschaftlichen Maßgaben und Zielsetzungen.

  • Eine kommerzielle Orientierung von Kultur- und Bildungseinrichtungen

    • beeinträchtigt die kulturelle Vielfalt und Qualität (zugunsten von Quantität und messbarer Vergleichbarkeit) sowie die akademische Freiheit,
    • richtet die Bildungsinhalte und -abschlüsse nach eigenen wirtschaftlichen Interessen aus und gefährdet die Objektivität und Offenheit der Wissenschaft,
    • führt zu einer Instrumentalisierung von Wissenschaft, Forschung und Lehre (und deren Trennung) durch einseitige Wirtschaftsinteressen mit dem Kampf um Studenten und Marktanteile sowie Forschungsgelder aus Drittmitteln, behindert den freien Zugang zu den Bildungseinrichtungen durch eigene Zulassungs- und Auswahlkriterien sowie durch hohe Studiengebühren.
    • lässt Lobbyisten verstärkt in Schulen, Klassenzimmer und Unterrichtmaterialien eindringen sowie Akteure der Wirtschaft in die Universitätsstrukturen,
    • bevorzugtdiereineBerufsorientierungderAbschlüssemitVerschulungdes Studiums anstelle grundlegender und allumfassender Bildung und Erkenntnisfähigkeit und führt somit zu einem sinkenden Bildungsniveau,
    • gefährdet die Unabhängigkeit von Wissenschaft und Forschung und deren Gedankenaustausch und Kooperation (zugunsten von marktwirtschaftlicher Konkurrenz zwischen den Bildungs- und Hochschuleinrichtungen sowie der nichtöffentlichen Forschungsprojekte für Unternehmensinteressen). > siehe auch aktuellen Streit um das Hochschulzukunftsgesetz NRW.

4. Blick auf die Entwicklung des boomenden kommerziellen Bildungsmarktes

  • Zu beobachten ist ein sprunghafter Anstieg der kommerziellen und von großen Konzernen unterhaltenen Hochschulen (in Deutschland ca. 100 von insg. 298 Hochschulen und damit jede vierte Hochschule) mit Gewinnerwartungen an den Märkten auch durch internationalen „Bildungshandel“; ebenso versuchen sich private Business-Schulkonzerne, Weiterbildungsanbieter und kommerzielle Kindergartenbertreiber etc. auf dem „boomenden Bildungsmarktmarkt“, die zugleich das öffentliche Bildungs- und Erziehungswesen (mitsamt den Non-Profit- Privatschul-Betreibern) „schlecht reden“.
  • Mit Filialen und Weiterbildungsinstituten auf anderen Kontinenten sowie kosten- trächtigen online-Bildungsangeboten werden teure Bildungsdienstleistungen der kommerziellen Hochschulen exportiert und am Markt verkauft zwecks Gewinnerzielung und Marktbeherrschung, zu Lasten eigener unabhängiger Bildungsinfra- struktur auch in den Entwicklungsländern und in anderen Kulturkreisen.
  • An den internationalen Finanzmärkten wird mit über 2 bis 3 Bio. Dollar Gewinnerwartungen durch lukrative Investitionen in den Bildungshandel am Bildungsmarkt als „Wachstumsmarkt“ spekuliert; > auch der größte europäischer Medienkonzern Bertelsmann will (laut Pressekonferenz vom März 2014) 20 Mrd. € Umsatz erreichen durch das Geschäft mit der Erwachsenenbildung (Online- Studiengänge, Dienstleistungen für Hochschulen, medizinische Studiengänge etc.), da die Menschen von USA bis China bereit seien, hohe Summen in ihre Ausbildung zu investieren. (Darum ist Bertelsmann der einflussreichste Lobbyist für das TTIP-Freihandelsabkommen unter Einschluss von Kultur und Bildung)

5. Zusammenhänge von Bildungschancen und (Bildungs-)Armut

  • Ein kommerzielles Bildungs- und Hochschulwesen (und ein daran orientiertes und damit konkurrierendes öffentliches Bildungswesen nach betriebswirtschaftli- chen Kriterien) verletzt das Prinzip der gleichen Bildungschancen für alle.
  • Armut und Bildungsarmut sowie Reichtum und Bildungschancen werden dadurch noch enger miteinander verkoppelt, weil höhere Bildung und Teilhabe an Kultur für „sozial schwache und bildungsferne“ Bevölkerungsschichten kaum noch erreichbar und bezahlbar ist; der freie Zugang zu Bildung und Kultur ist jedoch die unverzichtbare Voraussetzung zur Verwirklichung der Menschenrechte
  • Mit den Zugangsbarrieren und den wirtschaftlichen und politischen Eingriffen in die Bildungsinhalte und Selbstverwaltung wird Antisoziales geschaffen, das nicht dem Sozialempfinden der Studierenden und Lehrenden sowie Forschenden entspricht statt soziale Kompetenzen zu fördern > (siehe massive Schüler- und Stu- dentenproteste von 2002).

6. Wachsende Einflüsse der EU-Kommission auf das europäische Bildungswesen

  • Obwohl Bildung und Kultur nach den EU-Verträgen in die Hoheit der Länder bzw. Bundesländer gelegt ist, greift subsidiär die EU-Kommission zunehmend über Bildungs- und Förderprogramme (mit Milliardenbudgets), Richtlinien, Verordnungen und EuGH-Urteile in das Hochschul- und Bildungswesen staatlich und zentralistisch sowie vereinheitlichend ein, über ihre Koordinierungs- und Unterstützungsfunktion hinaus in Richtung „Bildungsunion“. Mit dem Bologna-Prozess und der Kopenhagen-Initiative (sowie den PISA-Studien) als Teil der neoliberalen „Lissabon-Strategie“ wird auf eine europaweite Harmonisierung und Angleichung von Studiengängen und -abschlüssen und einen „einheit- lichen Europäischen Hochschulraum“ (Bildungsunion) abgezielt.

  • Indirekte Kompetenzen für den Bildungsbereich (wegen des „europäischen Handlungsbedarfs“) leitet die EU aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit, aus der Anerkennung von Berufsqualifikationen, aus der Ausbildungsförderung usw. ab, vor allem aber durch die offene Methode der Koordinierung (OMK) der Bildungssysteme über umfangreiche Berichtspflichten (Kommissions- und Länderberichte) mit Empfehlun- gen, Leitlinien, Indikatoren und Benchmarks sowie Rankings, mit teils verbindlichem Charakter

7. Die EU als wissensbasierter Wirtschaftsraum für Markt und Wettbewerb

  • Laut „Lissabon-Strategie“ will die EU zusammen mit dem übrigen Europa als „Wissensstandort“ und „wissensbasierter Wirtschaftsraum“ im globalen Marktwettbewerb bestehen können. > siehe auch Hochschulen als bloßer wirtschaftlicher Standortfaktor in den Regionen.
  • Bildung im Sinne von Fachwissen soll vor allem zum wirtschaftlichen Erfolg und zur Steigerung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Binnenmarktes global beitragen, mit dem vorrangigen Ziel der Bereitstellung qualifizierter Arbeitskräfte für die Wirtschaft. > Deshalb sollen umgekehrt über das Freihandelsabkommen mit den USA auch ausländische Bildungsanbieter und -vermarkter Gelegenheit zur ungehinderten Niederlassung unter gleichen Bedingungen erhalten mit dem Effekt des weiteren Vordringens der amerikanischen Kultur in Europa.
  • Bildungsaspekte wie Persönlichkeitsformung, Erkenntnisgewinn, Wissensdurst oder kreative Fähigkeit zu kritisch-konstruktivem Denken geraten in den Hintergrund oder werden nur in Ansätzen berücksichtigt.

8. Kulturelle Kompetenzerweiterungen der EU im Medienbereich

  • Da freier Informationsaustausch und kulturelle Beiträge sowie Bildungsangebote ohne die audiovisuellen Medien (Rundfunk, Fernsehen, Internet, Datenträger, Filmförderung) heute kaum noch denkbar sind, hat die EU auch hier ihre Kompetenzen und Einflussbereiche bis in die Mediengesetzgebung sukzessive erweitert, auch wenn der Lissabon-Vertrag (und sogar die GATS-Regelungen) die kulturelle Autonomie der Nationalstaaten garantieren; dadurch entstehen Kompetenzkonflikte.
  • Das kulturell und integrationsfördernd wirkende Medium Rundfunk (als Dienstleistung) wurde nach marktorientierten statt kulturellen Betrachtungen als wirtschaftlich geprägt betrachtet und der Wettbewerbs- und Wirtschaftspolitik untergeordnet, zumal es sich mit dem Auftreten von privaten Rundfunkanbietern und Privatsendern um Wirtschaftsunternehmen handelte.
  • Europäische Identität über die Medien zu stärken, da „national organisierte Medien diese behindern“, galt 1982/84 als Argument der EU für die Errichtung eines gemeinsamen und vereinheitlichten statt fragmentierten Marktes für den Rundfunk (über Kabel und Satellit), gefolgt 1989 von einem „Europäischen Übereinkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen“ sowie einer Richtlinie zur Ausübung der Fernsehtätigkeit, ergänzt um Quotenregelungen für europäische Produktionen und Förderung über MEDIA-Programme (nach dem Scheitern der Einrichtung einer europäischen Fernsehproduktionsanstalt Europa TV neben der Europäischen Rund- funkunion (EBU) > mit der Gefahr der kulturellen Nivellierung und Gängelung.

9. Keine Zukunft Europas ohne Sicherung der kulturellen Vielfalt und Freiheit

  • Die Frage nach Europas Zukunft und Identität ist primär eine Frage nach der Vielfalt und Freiheit seines geistig-kulturellen Lebens mit seinen differenzierten Ausdrucksformen in den europäischen Regionen; deshalb beginnt Europas Veränderung nicht aus einem egoistisch geprägten Wirtschaftsleben und aus politischen Vereinheitlichungen heraus, sondern aus seiner kulturellen Vielfalt mit der Freiheit und Selbstbestimmung sowie Persönlichkeitsentwicklung der Einzelnen als Kulturschaffende, damit diese ihren gemeinschaftsfördernden Beitrag für ein zukunftsfähiges Europa leisten können, (denn „nicht Staaten vereinigen wir, sondern Menschen“).
  • Die Wirtschaft in Europa (wie in den USA) als materielle Grundlage für das eigentliche kulturelle Menschsein ist zum Selbstzweck und zur vorherrschenden Sphäre des ganzen menschlichen und gesellschaftlichen Lebens geworden, obwohl sie eigentlich eine dienende Funktion für das geistig-kulturelle Leben der Menschen hat, damit von deren kulturellen Errungenschaften wiederum das wirtschaftliche und politische Leben innovativ und kreativ befruchtet werden kann zugunsten einer veränderten wirtschaftlichen und politischen Kultur mit einer Ethik der Kooperation und Solidarität.
  • Da die immer drängendere soziale Frage in Europa nur aus dem Kulturellen heraus gelöst werden kann und die Frage nach Europas Zukunft nicht aus der Vergangenheit, sondern aus (interkulturell entwickelten) gemeinsamen Bildern und Zielen für die Zukunft der Menschen in Europa (und weltweit) hervorgehen muss – denn Europa ist etwas Werdendes, nicht etwas Vollendetes - stellen sich zuvorderst die Kernfragen nach einer zukunftsfähigen Rechts- und Sozialordnung sowie einer solidarischen Wirtschaftsordnung (mit einem sozialen Geldwesen); denn nur die Macht der Ideen und der Geist der Solidarität bringen Europa in seiner Vielfalt weiter; letztlich ist Europa ist kein Ort, sondern eine universelle Idee, die von Menschenbegegnung und -verständigung lebt.

10. Das TTIP-Abkommen als finaler Entscheidungskampf um kulturelle Freiheit sorgt für das Entstehen eine neuen europäischen Kulturbewegung

  • Wo der Staat oder die dominante Wirtschaft inhaltlich bevormundend in die geistig- kulturellen Lebensbereiche der Menschen eingreift, wird ein demokratiewidriges Über- oder Unterordnungsverhältnis installiert, gegen das sich die betroffenen Menschen auflehnen; deshalb besteht die Chance und Hoffnung, dass aus dem breiten gesellschaftlichen Widerstand gegen das TTIP-Freihandelsabkommen eine europäische Bewegung als Kulturbewegung entsteht, die zu einer kulturellen Erneuerung und Neubesinnung Europas beitragen kann, in der die Freiheit von Bildung, Wissenschaft, Lehre und Forschung sowie kulturellen Ausdrucksformen wieder hergestellt wird.
  • Eine solche Bewegung kann sich mit bereits bestehenden vielfältigen kulturellen Ansätzen, Initiativen und Einrichtungen vernetzen, die sich dem eigentlichen Europagedanken verpflichtet fühlen, von „Europaschulen“ und „Europa-Universitäten“ über Einrichtungen zum europäischen Jugendaustausch bis hin zu Zentren, Instituten, Agenturen, Stiftungen und Gesellschaften für europäische Kultur und Bildung oder europaweit vernetzten NGOs, nicht zuletzt auch ca. 700 freie Waldorfschulen in Europa (mit fast 150.000 Schülern) mit ihrem europatauglichen pädagogischen Konzept der Erziehung zur individuellen Freiheit und zum Weltbürgertum, ihren eigenen Europakonferenzen oder dem Europäischen Rat zur Vernetzung der 26 Waldorfschulverbände in Europa > unter der Voraussetzung einer notwendigen Qualitätssicherung an den Schulen und einer Weiterentwicklung ihrer Konzepte.
  • Mit dem (interkulturellen) Austausch von Menschen und Ideen und einer Umgangs- und Begegnungskultur (in gegenseitigem kulturgeschichtlichem Verständnis) kann eine auf die Zukunft gerichtete Ethik der Kooperation und Solidarität entstehen, mit der die Menschenrechte in Europa ernst genommen und das gefährdete und beeinträchtigte Demokratie- und Sozialmodell in Zeiten überfälliger sozialer Umbrüche kreativ zu einem (dreigliederungsgemäßen und menschengemäßen) Zukunftsmodell umgeformt werden; damit stellt sich die soziale Frage in Europa ganz neu, die nur aus dem Kulturellen heraus beantwortet werden kann und somit des Engagements der „kulturell Kreativen“ in der zivilgesellschaftlichen Bewegung als Kulturbewegung bedarf.

B. Denkbare Schritte, Handlungs- und Forschungsfelder sowie Fragestellungen zur sozialen und kulturellen Zukunft Europas

  1. Wie kann (im ersten und dringlichsten Schritt) die zivilgesellschaftliche Widerstandsbewegung zur Verhinderung der wirtschaftlichen und politischen Vereinnahmung von Kultur und Bildung und ihrer Kommerzialisierung durch Freihandelsabkommen (TTIP) wirksam unterstützt werden, und wie kann zugleich die öffentliche Kontroverse als willkommene Gelegenheit zur Bewusstseinsbildung in der Bildungs- und Kulturfrage genutzt werden?
  2. Wie können – über die Verhinderung von Fehlentwicklungen und die Erhaltung des Status quo hinaus - konkrete Alternativen und Anforderungen für die Zukunft z. B. in dem von der Zivilgesellschaft bereits entwickelten „Alternativen Handelsmandat“ mit Blick auf Bildung und Kultur formuliert, ergänzt und erweitert werden? > auch unter Berufung auf die UNESCO-Konvention.
  3. Wie können – im Zusammenwirken mit der Europäischen Demokratiebewegung - Initiativen (etwa von „Mehr Demokratie e.V.“ u. a.) aufgegriffen und unterstützt werden, um die Menschen in Europa (parlamentarisch und außerparlamentarisch) an der Gestaltung und Änderung europäischer Verträge und Entscheidungsprozesse zu betei- ligen? > als Einstieg in eine demokratische Beteiligungskultur in Europa, um Bildung und Kultur aus der Umklammerung von Staat und Wirtschaft schrittweise zu befreien und damit soziales Gestaltungspotenzial freizusetzen.
  4. Wie kann die praktisch wirksame Durchsetzung und Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips in Europa angegangen werden, um dezentrale Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume zu erweitern? Und wie kann damit zugleich das Projekt eines „Europa der Regionen“ konkretisiert werden, um der regionalen Entfaltung der Kultur mit ihren regionalen Prägungen Raum zu geben? > Dabei ist das alte Nationalstaatsprinzip ebenso zu hinterfragen wie die Tendenz zur Zentralsierung in der EU und deren schleichende Tendenz zu Kompetenzerweiterungen im kulturellen Sektor.
  5. Unabhängig von der zwiespältigen Frage, ob sich die EU nach einer Wirtschafts-, Währungs- und Fiskalunion und einer politischen Union auch zu einer (einheitlichen) „Bildungsunion“ entwickeln soll, ist die Frage nach einer überfälligen „Bildungsoffensive“ von unten dringend geboten, um kulturelle und interkulturelle sowie soziale Kompetenzen zu stärken, das Wissensdefizit um kulturelle und wirtschaftliche Zusammenhänge (einschl. des Geldwesens) abzubauen usw. > Hierbei muss Europa (mit derzeit 50 Staaten) über den EU-Rahmen hinaus gedacht werden (nicht nur als Ort, sondern als humanistische Idee mit dem Ernstnehmen der individuellen Menschenrechte).
  6. Wie können sich alle Menschen in Europa als Kulturschaffende begreifen, die ihren Horizont und ihre Aktivitäten von der nationalen Ebene und Sichtweise auf gesamteuropäische (und gesamt-menschheitliche) Ebene erweitern, in Vernetzung und im Austausch mit den Menschen und ihren bestehenden Bildungs- und Kultureinrichtungen und -initiativen im übrigen Europa? Wie kann dazu begleitend eine „europäische Öffentlichkeit“ für gesellschaftliche Diskurse erzeugt werden als Voraussetzung für eine europäische Bürger-, Demokratie- und Kulturbewegung? > (auch über europäische Publikationsorgane, grenzüberschreitende Kulturaktionen und Tagungen etc., aber auch über datengeschützte audiovisuelle Medien (einschl. Internet, Rundfunk und Fernsehen etc.).
  7. Wenn die Bildungs- und Erziehungsfrage und die Kultur als wesentlicher Teil der sozialen Frage ins europäische Bewusstsein gerückt werden sollen, weil nur daraus Soziales hervorgehen kann, stellt sich die Frage nach der zukünftigen Ausgestaltung sowie öffentlichen Förderung und Finanzierung der selbstverwalteten Schulen und Hochschulen, ihrer pädagogischen Leitbilder, Konzepte und Methoden sowie ihrer Selbstverwaltungskultur als soziale Übungsfelder. > Mit der Entwicklung ethisch- moralischer Maßstäbe aus dem „ethischen Individualismus“ heraus, die über die beteiligten Menschen aus dem kulturellen Leben auch in das politische und wirtschaftliche Leben eingebracht werden, kann im Wettbewerb der humanistischeren Ideen auch ein Zurückdrängen kommerzieller Schulen und Hochschulen erfolgreich sein.
  8. Gelingt es durch verstärkte Qualitätssicherung im Bildungswesen – etwa auch an den selbstverwalteten Waldorfschulen in ganz Europa – dem Anspruch gerecht zu werden, über eine kulturelle Erziehung zur Freiheit und Mündigkeit erfolgreich kompetente Persönlichkeiten und Individualitäten hervorzubringen, die sich als Europäer und Weltbürger verstehen und verhalten? Und wie könnte das Schulprofil von wirklichen „Europa-Schulen“ aussehen („Jede Schule eine Europa-Schule“)? Wie kann überhaupt in Schule, Studium und Öffentlichkeit das Interesse an europäischen Fragen und Sichtweisen (nicht zu verwechseln mit Fixierung auf EU-Institutionen und – Strukturen) geweckt werden? > Die erste (deutsch-polnische) „Europa-Universität“ Viadrina musste gerade Insolvenz anmelden.
  9. Wie kann eine Zusammenarbeit und Vernetzung der vielen schon bestehenden Einrichtungen und Initiativen, die sich mit europäischen Zielen und Orientierungen etab- liert haben, erfolgen? Und wie können sie sich einbinden in eine gesamteuropäische Kulturbewegung mit „europäischen Inseln der Kultur“? > Auch mit der Bildung von „Kulturräten“ (als nichtstaatliche und nichtkommerzielle Kreativzirkel oder Selbstver- waltungsorgane örtlich, regional und europaweit) ließen sich kulturelle Entwicklung und Einflussnahme fördern.
  10. Was kann individuell im persönlichen Umfeld und Betätigungsbereich zur Erhaltung und Verbreiterung der kulturellen Vielfalt und europäischen Identität beigetragen werden? Wie können grenzüberschreitende Menschenbegegnungen zum Kulturaustausch in Europa initiiert und organisiert werden, auch unabhängig von staatlichen EU-Förderprogrammen oder kommerziellen Anreizen? Wie kann kulturelle Identität und Identifikation mit Europa statt aus der Vergangenheit vielmehr über gemeinsame Zukunftsprojekte und Zielfindung erzeugt werden – als tägliche Aufgabe aller Beteiligten in eigener Verantwortung?

Malen wir alle gemeinsam an einem visionären (Leit-)Bild für ein zukünftiges und zukunftsfähiges Europa!