Wilhelm Neurohr

Selbstkritik ohne wirklich „neue Wege des Denkens“ geht ins Leere

„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“. In Anlehnung an dieses Zitat von Albert Einstein eröffnete im Januar 2012 ein selbstkritischer Forumspräsident Klaus Schwab im Schatten der Finanz- und Schuldenkrise das 42. Weltwirtschaftsforum der Reichen und Mächtigen aus Wirtschaft, Bankenwelt, Politik und Wissenschaft mit 2.600 Teilnehmenden aus 40 Staaten und 1000 Unternehmen im abgelegenen Schweizer Alpen-Kurort Davos mit einem Appell: Dringend nötig seien „neue Wege des Denkens“, um die eigenen Sünden der Vergangenheit zu bekämpfen, denn „der Kapitalismus in der bisherigen Form passt nicht länger zu unserer Welt“.

Deshalb stand das Weltwirtschaftsforum mit der bislang höchsten Teilnehmerzahl bei seiner Suche nach Problemlösungen unter dem anspruchsvollen Motto: „Die große Transformation – neue Modelle gestalten.“ Die ca. 300 Aktivisten der Occupy-Bewegung, die in dem verschneiten Bergdorf Davos wegen der großräumigen Sicherheitsvorkehrungen abseits des Konferenzgeländes in einem Igludorf weilten, hielten die Teilnehmer des WEF (World Economic Forum) für unglaublich anmaßend: „Alle Leute, die die Krise verursacht haben, treffen sich und geben vor, diese Probleme lösen zu wollen“.

Elitäre Führungsmodelle sind keine Antworten für die Lösung der Krisen

Wie weit die Eliten von wirklichen Problemlösungen und neuen Modellen entfernt sind und bleiben, zeigten dann die einzelnen Beiträge im Tagungsverlauf, allen selbstkritischen Analysen und Diagnosen des Forumsgründers Klaus Schwab zum Trotz, der selber immer noch auf ein elitäres Führungsmodell durch die von ihm Eingeladenen setzt - und die zivilgesellschaftliche Jugendbewegung als Generation der Zukunft ausgrenzte. Diese schaffen sich ihre eigenen Foren und Netzwerke, denn „eine neue Art des Denkens ist notwendig, wenn die Menschheit weiterleben will“ (Albert Einstein).

Die Schwächung des sozialen Zusammenhaltes, das verlorene Vertrauen künftiger Generationen und die vernachlässigten Zukunftsinvestitionen erweckten nach den Worten von Klaus Schwab den Eindruck eines globalen „Burnout-Syndroms“, so dass die Welt neue Reformideen benötige für neue Modelle der zeitgemäßen „Führung“ in Politik und Wirtschaft, nachdem die Lektionen aus der Finanzkrise von 2009 nicht gelernt wurden sowie „veraltete und bröckelnde Regierungs- und Führungsmodelle nur tiefer in die Krise führen. Zu den 50 globalen Gefahren, die der „Global Risk Report 2012“ des WEF aufzeigt, zählen als folgenschwerste und wahrscheinlichste Risiken die chronische finanzielle Ungleichgewichtigkeit, die gravierenden Einkommensunterschiede, die Nahrungs- und Wasserkrisen, der Anstieg der Treibhausgase, Terrorismus, Cyber-Attacken und Korruption.

Drohender Rückfall hinter sicher geglaubte menschliche Errungenschaften

Das Zusammenspiel dieser Risiken könne zu schnellen und drastischen Veränderungen führen, mit einer dunklen Zukunft für die Weltgesellschaft, die hinter viele sicher geglaubte Errungenschaften zurückfalle. Diese Analyse und Diagnose konnte die illustren Gäste des WEF aber nicht wirklich zum Umdenken bewegen, die in ihren Statements die bekannten politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Standpunkte und Gegenpositionen bezogen. Das Geplänkel der europäischen Staatschefs setzte sich von Brüssel nach Davos fort, denn „ es ist schwieriger eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom“ (Albert Einstein). Insbesondere von der enttäuschenden Eröffnungsrede der deutschen Bundeskanzlerin Merkel, die als „mächtigste Frau Europas“ mit einer „Weg weisenden innovativen Rede“ angekündigt wurde, hatte man wohl mehr erwartet. Gerade sie bestärkte die Erkenntnis: Mit denselben Gedanken und Personen, die unsere Krise herbeigeführt haben, lassen sich die dadurch erzeugten Probleme nicht lösen.

Die neue brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff blieb dem Weltsozialforum demonstrativ fern und kritisierte von Porto Alegre aus, dass die Staaten ihre Souveränität aufgeben, „wenn Mächte, Finanzgruppen oder Ratingagenturen Druck auf uns ausüben. Die „Kluft zwischen der Stimme der Straße und der Stimme der Märkte“ werde immer größer. Dennoch wiederhole Europa gerade jene konservative und neoliberale Wirtschaftspolitik, die im Lateinamerika der 80er und 90er Jahre zu Stagnation, Demokratieverlust, mehr Armut und Arbeitslosigkeit geführt habe. Deshalb möchte sie auf dem bevorstehenden Umweltgipfel Rio+20 im Juni 2012 ein neue Entwicklungsmodell vorstellen, bei dem wirtschaftliche, soziale und ökologische Gesichtspunkte berücksichtigt würden, nach dem bekannten Motto der Basis: „Eine andere Welt ist möglich“.

Und auch Nobelpreisträger und Ökonom Joseph Stieglitz vermisste mehr staatliche Solidarität der reichen Länder bei der Krisenbewältigung sowie eine gezielte Einkommensverteilung von oben nach unten, ferner öffentliche Investitionen in Infrastruktur und Bildung als Beiträge aus den Schuldenkrisen, denn Sparen alleine reiche nicht aus.

Verworrene Ziele und fehlende soziale Phantasie verschärfen soziale Schieflage

Am Schluss des WEF verstärkte sich vielmehr der Eindruck: „Wir leben in einer Zeit vollkommener Mittel, aber verworrener Ziele“ (Albert Einstein). Und den beim WEF anwesenden Wissenschaftlern könnte man ebenfalls von Albert Einstein ins Stammbuch schreiben: „Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.“ Aber auch den Forumsteilnehmern und Rednern aus Wirtschaft und Politik mangelte es allenthalben an sozialer Phantasie und sozialer Verantwortung. Denn Strukturen und Märkte können nicht handeln, sondern nur Menschen. Mit Blick auf die infolge der Finanzkrise dramatisch vergrößerte Kluft zwischen Reich und Arm und die extremen Einkommensunterschiede bleibt wiederum mit Albert Einstein festzustellen: „Es gibt keine großen Entdeckungen und Fortschritte, solange es nur ein unglückliches Kind auf der Erde gibt.“

Das berührt die 0,1% der Westeuropäer offensichtlich nicht, die in den vergangenen 15 Jahren ihr Vermögen verdreifacht haben. Allein die 500 reichsten Deutschen verfügen laut Ratinglisten über ein Vermögen von rund 3.300 Mrd. €; das ist das 11-fache des Bundeshaushalts von 305 Mrd. € oder die Hälfte des Gesamtvermögens aller übrigen 80 Mio. Deutschen. Zu dieser Schieflage konnte es nur kommen, weil die 500 reichsten Deutschen von einem Kranz von rund 50.000 vernetzten Personen umgeben sind, deren Einfluss bis nach Davos reicht und in die EU-Kommission. Mit einer radikalen Besteuerung allein der 500 reichen Milliardäre und Multimillionäre mit vielleicht 90% kämen nach Berechnungen eines Sozialwissenschaftlers in Deutschland jährlich um 300 Mrd. zusammen, so dass sich kein Staat mehr Sorgen über Schulden machen müsste. Stattdessen zeigten die jüngsten Berichte über die die gestiegenen Steuereinnahmen in den letzten Monaten, dass diese sich zuvorderst durch die Lohnsteuern ergeben haben.

Lobbyismus, Geschäfte und Interessenpolitik in den Hinterzimmern von Davos

Für solche Themen wie die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen oder ungerechte Besteuerung und gerechtere Verteilungsmodelle war in Davos kein Raum, keine Zeit und vor allem kein Wille vorhanden – von wegen „den Zustand der Welt verbessern“ (WEF-Präsident Klaus Schwab). Vielmehr werden wie eh und je in den Hinterzimmern und Hotels von Davos Geschäfte gemacht und nach außen Wohltätigkeit demonstriert – auch durch die Manager derjenigen Firmen, die für so manches Elend mitverantwortlich sind. Die deutsche Börse warb in Davos stattdessen für eine Fusion mit der New Yorker Börse und Lebensmittel- und Chemiekonzerne und Monopolisten wie Monsanta und Bayer präsentierten ihr neues Projekt „Neue Visionen für die Landwirtschaft“. Wieder einmal werden die unterernährten und verarmten Menschen von Lobbyisten für dumm verkauft. Hier kann man wieder nur mit Albert Einstein feststellen: „Wenn wir uns schon unserer armseligen Kleider und Möbel schämen, wie sehr sollten wir uns da erst armseliger Ideen und Weltanschauungen schämen.“

Wann dringt das neue Denken über ein menschlicheres Wirtschaften durch?

Visionen für eine soziale und gerechtere sowie menschlichere Welt mit Herz und Verstand kamen in Davos nicht wirklich auf die Tagesordnung, trotz wohlgefällig formulierter hoher Ansprüche. Dies bleibt auch in Zukunft den alternativen Weltsozialforen, den zivilgesellschaftlichen Bewegungen wie Attac und Occupy überlassen, derweil das aktuelle Krisenmanagement der Eliten in den schlingerenden Bahnen weiter verläuft, weil die Zügelung der Märkte und Banken nicht wirklich gewollt ist und deshalb auch kaum gelingt. Hier kann man wieder nur Albert Einstein zitieren: „Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit. Beim Universum bin ich mir nicht ganz sicher.“

Das „neue Denken“ über eine den Menschen dienende solidarische und gemeinwohlorientierte kooperative Wirtschaft mit einem sozial förderlichen Geldwesen, einem gerechten Teilungsverhältnis und einem menschenwürdigen Grundeinkommen, mit einer Entflechtung statt korruptionsanfälligen Vermischung von Politik, Wirtschaft und Kultur sowie einer von Wirtschaftsinteressen befreiten Wissenschaft im Sinne der sozialen Dreigliederung hält wohl dann erst Einzug in die Realität, wenn diese Gedanken und Empfindungen zu einer wirklichen Bewegung und Verhaltensänderung führen und Einzug in den öffentlichen Diskurs halten. Davon sind wir trotz aller Bemühungen noch weit entfernt, weil schon zu viel Zeit ungenutzt verstrichen ist. Aber die Dauerkrise öffnet auch ein neues Handlungsfenster. Denn „mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben“( Albert Einstein).