Wilhelm Neurohr

Die sog. Finanzkrise, die seit Jahren das politische Tagesgeschehen nicht nur in Deutschland bestimmt, ist eine wirtschaftliche und politische Systemkrise, deren Ursachen von den Verantwortlichen nicht erkannt und wirksam bekämpft werden. Nur verstärkter ziviler Ungehorsam der Bürger kann ein Umlenken bewirken. Dies legt der attac- und ver.di-Aktivist Wilhelm Neurohr in der Dezemberausgabe von Sozialimpulse – Rundbrief für soziale Dreigliederung dar.

Neurohr appelliert an die Zivilgesellschaft in Deutschland, sich stärker für ein solidarisches Europa zu engagieren. Er sieht die demokratischen Gesellschaften Westeuropas am Scheideweg: „Die Staaten als Rechtsgemeinschaften sind in ihrer Kernsubstanz bedroht“. Seit den 80er und 90er Jahren sei durch den „verheerenden Feldzug des Neoliberalismus und seiner Steigbügelhalter in der Politik“ das Demokratieprinzip schleichend vom Ökonomieprinzip abgelöst worden.

Arbeitslosigkeit, Finanzmarktkrise, Armutsentwicklung und die weltweite Ernährungskrise seien als Zusammenhang zu sehen, schreibt Neurohr. „Sie sind Krankheitssymptome unserer Gesellschaft und Ausfluss unseres falschen, nicht bedarfsorientierten Wirtschaftens“. Die Wirtschaft insgesamt mit ihren anonymen Märkten sei „von struktureller Verantwortungslosigkeit“ geprägt. Erschreckend sei auch die personelle Verflechtung zwischen Spitzenpolitikern und Hochfinanz. Neurohr hat dazu eine Übersicht im Internet veröffentlicht.

Er weist auch darauf hin, dass es ein Geschäftsinteresse von gut verdienenden Gläubiger-Banken an der Verschuldung von Staaten und Kommunen gebe. Nie zuvor in der Geschichte des Kapitalismus hätten sich Staaten und Kommunen in so großem Ausmaß verschuldet wie seit dem Ausbruch der neuen Weltwirtschaftskrise 07/08.

Den im Grunde unterfinanzierten Staaten und Kommunen würden drastische Spardiktate gegen den Willen der betroffenen Bevölkerung auferlegt, ohne nach den eigentlichen Ursachen und Urhebern der Krise zu fragen oder nach den Konsequenzen des Kaputtsparens. „Die Finanzkrise privater Bankrotteure wird zu einer Schuldenkrise souveräner Staaten“, schreibt Neurohr.

Es stelle sich u.a. die Frage, warum die staatliche Finanzierung des Gemeinwohls durch erforderliche Steuereinnahmen, die ein halbes Jahrhundert und länger funktioniert habe, immer mehr abgeschafft worden sei. Der öffentlichen Armut stehe ein Anwachsen des privatem Reichtums gegenüber, der durch Steuerverzicht verursacht worden sei.

Elementare Bereiche der Daseinsvorsorge würden ausverkauft und weite Bereiche der Sozialsysteme eingeebnet. Am Beispiel Griechenlands sei zu sehen, wohin dieses verkehrte Denken und Handeln führe. Nordrhein-Westfalen stecke längst so tief im Schuldensumpf wie das südeuropäische Land. Der Zerfall der Städte und damit einhergehend das Ende der kommunalen Selbstverwaltung durch sozialen und kulturellen Kahlschlag nehme seinen Lauf verbunden mit einer zunehmenden sozialen Verelendung der schwächsten Bevölkerungsschichten.

Als Beispiel für einen alternativen Weg sieht Neurohr Island: „Island war das einzige Land, in dem der Staat seine Bürger und nicht seine Banken beschirmt hat, das also nicht auf die Finanzmärkte, sondern auf die Mehrheit seiner Bürger hörte“. Es habe die Finanzkrise nicht nur als Wirtschaftskrise, sondern als fundamentale Systemkrise betrachtet . Eine solche Krise sei nur mit demokratischen Mitteln zu lösen, betont Neurohr und fordert einen „alternativen Weg aus der Krise durch zivilen Ungehorsam.“

Es sei bedauerlich, dass bei der großen zivilen Protestaktion im September 2012 unter dem Motto „Umfairteilen“ sich in Deutschland nur 40.000 Menschen beteiligt hätten: „Eine eher enttäuschende Resonanz“, europaweit seien es wenige Hunderttausend gewesen. Im Gegensatz dazu habe die Occupy-Bewegung im Oktober 2011 die „größte Protestaktion der Menschheitsgeschichte“ auf die Beine gestellt, als in 82 Ländern der Welt 20 Millionen Menschen in über 1000 Städten zeitgleich gegen die Finanzmärkte auf die Straße gegangen seien. „Daran sollten wir anknüpfen“, fordert Neurohr. Schon in den nächsten Monaten drohe ein Übergreifen der Krise in Südeuropa auch auf Deutschland: „Griechenland ist überall“.

Die internationalen Finanzmärkte bewegten ein Vielfaches des Weltsozialprodukts. Auf der anhaltenden Suche nach spekulativen Anlagemöglichkeiten zerstörten sie weltweit die Realwirtschaft und das soziale Gefüge. „Wir stehen vor einer weiteren Ausplünderung der Gesellschaft und der Staaten mitsamt ihrer Kommunen durch eine kleine radikale Minderheit von Banken, Spekulanten und Aktionären“.

Mit einem Zehn-Punkte-Programm legt der Rundbrief Soziale Dreigliederung einen Vorschlag für einen ganzheitlichen Handlungsrahmen zur Krisenbewältigung vor. Er reicht von der Eindämmung des Lobbyismus über eine Entmachtung der Banken und der Herstellung von mehr Steuergerechtigkeit bis hin zur Entschuldung der Kommunen durch einen Lastenausgleichsfonds und einem Marshallplan für Krisenländer. Außerdem werden ein Grundeinkommen und Mindestlöhne angestrebt. Sparpotentiale werden vor allem bei den Rüstungsausgaben gesehen, bei „Rettungspaketen“ für Ansprüche privater Kapitalanleger oder auch bei Prestigeprojekten wie Stuttgart 21. Gefordert wird außerdem die Aufklärung der Bevölkerung über Wirtschaftszusammenhänge durch ein umfassendes Bildungs- und Weiterbildungsprogramm.

Die konkrete Umsetzung der Ideale der französischen Revolution sei notweniger denn je: Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben, Gleichheit im Rechtsleben und Freiheit im Geistesleben. So stecke in der Krise auch „eine große Chance zum Umdenken“, schließt Neurohr. Seinen Ausführungen liegt ein Vortrag in Wuppertal bei einer Veranstaltung des Paritätischen Bildungswerks NRW und von attac zugrunde.