Wilhelm Neurohr

Am 24. Oktober 2012 schilderte Wilhelm Neurohr - der auch bei TdZ hin und wieder einige Beiträge - insbesondere zur Europapolitik - beisteuert, im Kommunikationszentrum Börse in Wuppertal in einem Vortrag unter anderem die Zusammenhänge zwischen der Finanzwelt und der Politik. Eine Folge dieser Interessen-Verflechtung, so diagnostiziert er, sei auch die sich immer weiter öffende Schere zwischen arm und reich.
Mit freundlicher Genehmigung des Redners veröffentlichen wir einen Teil dieses Vortrags und die 10 Punkte, die er als Handlungsrahmen zur Bewältigung der Krise der Finanzmärkte vorschlägt.

Die zunehmende personelle Verflechtung von Spitzenpolitikern in Deutschland, Europa und weltweit mit den Bankern und Finanzjongleuren und umgekehrt ist erschreckend und entlarvend. Die gesamten Fehlentwicklungen an den Finanzmärkten sind fast nur erklärbar mit entweder unfähigen oder abhängigen und korrupten Politikern, die das Geschäft von Interessengruppen und Finanzspekulanten dem Einsatz für das Gemeinwohl vorziehen. Damit gefährden sie die Demokratie und den sozialen Frieden – und die sozialen Lebenschancen einer ganzen verlorenen Generation.

Denen da oben geht es nur noch darum, den Oberschichten noch mehr Einkommen und Einfluss zu verschaffen. Heute gibt es bereits weltweit etwa 63.000 Personen, deren Vermögen jeweils 100 Mrd. Dollar übersteigt. Deren Privatvermögen addieren sich auf 50 Bio. Dollar, was dem jährlichen Bruttoinlandsprodukt aller Staaten der Welt entspricht. Sie sind es mit ihrem obszönen Reichtum, welcher den bedürftigen Massen entzogen wird, die für die Armutsentwicklung mitverantwortlich sind. Sie sind die Gewissenlosen, die 800 bis 900 Millionen Menschen in 20 Armutsländern hungern lassen und jährlich 8,8 Mio. Menschen daran sterben lassen, alle 3 Sekunden stirbt ein Kind an Hunger. Doch der Geldadel interessiert sich nicht für die Nöte der Welt, auch wenn er den eigenen Ast absägt, auf dem er sitzt.

Auch in Europa ist es an der Zeit, die Lüge aus dem öffentlichen Leben zu verbannen und die Täter des Finanzadels und ihre politischen Handlanger öffentlich beim Namen zu nennen. Die Beispiele Griechenland und Spanien, wo die Hälfte der Jugendlichen von Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit betroffen ist, zeigen, wohin die neoliberale Politik in Europa und weltweit führt.

Die Finanzmärkte als Spiegel der Menschheit und ihrer Werte?

Die Griechen können sich nur noch mit dem Philosophen Aristoteles trösten, der mit einfachen Worten sagte: "Ein freier Mann ist derjenige, der die richtige Menge an Geld an die richtige Person zum richtigen Zeitpunkt und auf die richtige Art und Weise vergibt." Der bekannte und umstrittene britische Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson von der Harvard-Universität hat es so formuliert: "Die Finanzmärkte sind wie ein Spiegel der Menschheit, indem sie uns jede Stunde und jeden Werktag vor Augen führen, wie wir unseren eigenen Wert und den der Ressourcen der ganzen Welt einschätzen. Es ist nicht der Fehler des Spiegels, wenn er uns unsere Makel genau so aufzeigt wie unsere schönen Seiten."

Ich füge hinzu: Allerdings zeigt uns der Spiegel nur ein Zerrbild, solange die Finanzmärkte ungebändigt, also dereguliert bleiben. Das Gegenbild wiederum spiegelt den dramatischen Demokratieverlust durch die unsägliche Vermischung von Wirtschaft und Politik, bis dahin, dass immer noch in Ministerien und bei der EU-Kommission Lobbyisten Gesetzestexte ausarbeiten oder Politiker unmittelbar in diejenigen Wirtschaftsunternehmen wechseln, mit denen sie vorher politisch verbandelt waren. In Brüssel sind über 50.000 Lobbyisten akkreditiert, einschließlich aller großen 250 multinationalen Konzerne, mit freiem Zugang zur EU-Kommission.

Die meisten Probleme im Finanz- und Wirtschaftsbereich, in der Klima- und Umweltpolitik, in der Verbraucherpolitik (z. B. "Lebensmittelampel"), beim Verkehrskollaps, in der Rentenpolitik usw. sind fast ausschließlich durch lobbyhörige Politik und Zugeständnisse an Einzelinteressen zurückzuführen. In ihren unsozialen und zerstörerischen Auswirkungen wirken solche Entscheidungswege kriminell. Deshalb gehört einer gewissen Politikerkaste das Handwerk gelegt, und die Intransparenz bei den politischen Verflechtungen gilt es schonungslos aufzudecken.

10-Punkte Programm als Handlungsrahmen zur Krisenbewältigung

Der erste und wichtigste Punkt eines ganzheitlichen Handlungsrahmens zur Krisenbewältigung, den ich (...) als 10-Punkte-Programm und Diskussionsbeitrag skizzieren möchte, ist also:

1. Die Demokratie verteidigen und Lobbyismus eindämmen: Die Wiederherstellung des Demokratieprinzips und die Rückgewinnung des Primats der Politik erkämpfen, auch durch Ahndung von Korruption und stärkere Einflussnahme der Zivilgesellschaft; Demokratisierung der EU

2. Finanzmärkte regulieren und Banken entmachten: Konsequente Einführung wirksamer Kontrollen der Finanzmärkte, strengere und einflussreichere Bankenaufsicht, gesetzliche Beschränkung des Bankgeschäftes auf die eigentliche dienstleistende Kernfunktion für die Realwirtschaft, keine systemrelevanten Größenordnungen der Banken mehr zulassen (Zerschlagung der Großbanken), Vergesellschaftung der mit öffentlichen Mitteln geretteten Banken, Verbot spekulativer Finanzprodukte, Meldepflicht für Finanztransaktionen im außerbörslichen Handel, Trennung des Kredit- und Einlagengeschäftes vom Investmentbanking, Festschreibung von Obergrenzen bei Beleihung von Hypotheken; Verpflichtende Milliardeneinzahlungen der Banken (anstelle der Steuerzahler) in einen europäischen Rettungsfond; Einrichtung einer eigenen europäischen Rating-Agentur als unabhängige Stiftung.

3. Steuergerechtigkeit herstellen, Reichtum umverteilen und Fiskalpakt verhindern: Deutliche und gezielte Erhöhung der steuerlichen Einnahmen für Staat und Kommunen für die öffentlichen Gemeinschaftsaufgaben und zugunsten gerechter Vermögensverteilung (Aufhebung der Vermögenskonzentration), insbesondere durch höhere und gerechte Besteuerung großer Vermögen und Einkommen, (vor allem auch leistungsloser Einkommen durch große Erbschaften, Spekulationsgewinne und Aktienverkäufe etc.).; Steueroasen schließen und Steuersünder aufspüren, Beseitigung von Steuerprivilegien, Aufhebung des undemokratischen Fiskalpakts mit Zwang zum Sozialabbau. Einführung eigener Kommunalsteuer für Städte und Gemeinden.

4. Staaten und Kommunen entschulden und Schuldenursachen beseitigen: "Gesellschaftspakt Schuldentilgung" mit Lastenausgleichsfond (Umfinanzierung der Altschulden) zur radikalen Entschuldung überforderter Schuldnerländer und Kommunen durch geordneten Schuldenschnitt und durch Schuldenstreichung, vorheriges Audit über staatlichen Verschuldungsursachen und –zusammenhänge; Einführung von Eurobonds als solidarische Maßnahme (Für den Finanzmarkt attraktive, niedrig verzinste Anleihen der EU-Gruppe zur Weitergabe an bedürftige Länder gegen geringe Gebühr und Anreiz zum Abbau von Neuverschuldung).

5. Umorientierung der Sparprogramme – an richtiger Stelle sparen: Sparpotenziale bei den immensen Rüstungsausgaben ausschöpfen, bei Subventionen an die Wirtschaft und für ökologisch schädliche Produkte, bei "Rettungspaketen" für Ansprüche privater Kapitalanleger, bei Prestige-Projekten wie Stuttgart 21 u.a.m. anstelle der Sparprogramme im Sozialbereich.

6. Investitionen anreizen und Konjunktur beleben – Marshallplan für die Krisenländer: Staatliche und europaweite Konjunkturprogramme und Investitionsanreize sowie öffentliche Investitionen in Bildungs-, Forschungs- und Infrastrukturprojekte etc. zur Belebung der Wirtschaft in den Krisenstaaten, (in Anlehnung an Marshallplan und den deutschen Lastenausgleich sowie "Aufbau Ost" seinerzeit in Deutschland).

7. Geldreformen einleiten zur Währungsstabilisierung: Abschaffung des Zinseszins (als Hauptursache für die zwanghafte Geldvermehrung), Evtl. Erwägung von sog. "Expressgeld" in Griechenland als staatliches Regionalgeld (alternativ zum Rückzug auf Drachme, zum Verbleib Griechenlands in der Eurozone mit Entspannung der Situation und Vorteile für Wirtschaftsaufschwung), Unterstützung der örtlichen Regionalgeld-Initiativen in den einzelnen Regionen Europas (zur Stärkung regionaler Wirtschaftskraft im Euro-Raum unabhängig von Währungsschwankungen), Einführung von sog. "Vollgeld" (Ausweitung der gesetzlichen Zahlungsmittel und Geldschöpfung nur noch durch gemeinwohlverpflichteter Nationalbank statt von Eigeninteressen verfolgenden Geschäftsbanken); Unterstützung der attac-Aktion: "Banken wechseln".

8. Soziale Sicherheit und Kaufkraft für die Menschen schaffen - durch Grundeinkommen und Mindestlöhne: Kräftige Lohnerhöhungen, Gewährleistung tarifgerechter Löhne, Beendigung des Lohndumpings insbesondere im Exportland Deutschland (sowie schrittweise Angleichung der Löhne und staatlichen Sozialleistungen in Europa nach den jeweiligen Lebenshaltungskosten); Europaweites Verbot der Leiharbeit; Erhöhung der Sozialleistungen bei Arbeitslosigkeit und Bedürftigkeit; Soziale Grundsicherung für alle Europäer durch bedingungsloses Grundeinkommen und armutsfeste Renten; u. v. m.

9. Demokratisierung der Wirtschaft und eine solidarische Gemeinwohlökonomie: Striktere Abgrenzung statt Vermischung zwischen Politik und Wirtschaft; Einrichtung eigener Wirtschaftsräte als demokratische Beratungs- und Mitgestaltungsorgane (Wirtschaftsdemokratie); Stärkung der Mitbestimmung in allen Unternehmen; Stärkung der gewerkschaftlichen Einflussmöglichkeiten; Ablösung des Bruttoinlandproduktes als wirtschaftlichen Erfolgsmaßstab durch Wohlstandsindikatoren; Stärkung des Non-Profit-Sektors, Stärkere Kontrolle von Qualitäts- und Sozialstandards in Produktions- und Dienstleistungsbetreiben mit Transparenz der Prozesse, Bildung von Assoziationen zwischen Produzenten, Händlern und Verbrauchern, Stärkung der Verbraucherschutzes und der Verbraucherrechte sowie der Verbraucherberatung; Verschärfte Haftungsregelungen für Produzenten und Dienstleister.

10. Aufklärung über Wirtschaftszusammenhänge als notwendiges Bildungs- und Weiterbildungsprogramm: Verpflichtende Einführung von Rechts- und Wirtschaftskunde in allen Schulformen und Studiengängen, gezielte Ausweitung der Weiterbildungsprogramme über volks- und gesamtwirtschaftliche (nicht nur betriebswirtschaftliche) Zusammenhänge zur Erlangung von Wirtschaftkompetenz und Beurteilungsfähigkeit. Kurzum: Behebung des ökonomischen Analphabetentums und Einstieg in die Gemeinwohlökonomie, indem wir das Wirtschaftssystem von Grund auf neu denken lernen.

Ich schließe mit einer nicht immer so bewussten Binsenweisheit: Nirgendwo sonst sind die Menschen mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten so sehr lebensnotwenig aufeinander angewiesen und voneinander abhängig wie im globalen Wirtschaftsleben: Einer für alle, alle für einen. In der arbeitsteiligen Gesellschaft wäre der Einzelne heutzutage gar nicht mehr lebensfähig ohne Solidarität.

In der französischen Revolution hieß das Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben, Gleichheit im Rechtsleben und Freiheit im Geistesleben.