Wilhelm Neurohr

Wiederholt war in der Zeitung zu lesen, dass SPD-Spitzenpolitiker dafür plädierten, wegen der ungeklärten NSA-Abhör- und Spionageaffäre die geplanten Verhandlungen zum so genannten „Freihandelsabkommen“ mit den USA auszusetzen. Nachdem jedoch die Koalitionsverhandlungen mit der CDU voranschreiten und für Siegmar Gabriel der Vizekanzlerposten winkt, ist davon keine Rede mehr – im Gegenteil: Die SPD und ihre Bundestagsfraktion haben sich im Rahmen der Koalitionsverhandlungen nunmehr deutlich dafür ausgesprochen, zügig die Verhandlungen über ein transatlantisches Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA aufzunehmen, das spätestens 2015 unter Dach und Fach sein soll.

Dabei gäbe es gute Gründe für die „ahnungslose“ SPD und den gesamten Bundestag, das umstrittene Freihandelsabkommen nicht nur wegen der NSA-Affäre in Frage zu stellen, sondern vielmehr wegen der insgesamt darin enthaltenen inhaltlichen Brisanz und des undemokratischen Verfahrens. Denn die Folgen dieses im Interesse von Wirtschaftslobbyisten angestrebten Abkommens zum „Abbau von Handelshemmnissen“ wären für die deutschen und europäischen Arbeitnehmer und Verbraucher verheerender als etwa die Agenda 2010 o. ä. und bewirkten obendrein ein Aushebeln der Demokratie und der Verfassung. Darauf weisen unter anderem 21 zivilgesellschaftliche Nichtregierungsorganisationen weltweit hin, die dafür eigens ein Bündnis zur Aufklärung der Bevölkerung und zur Verhinderung des Abkommens gebildet haben. Denn das Abkommen zielt auf Begünstigung von Unternehmensinteressen vor Allgemeinwohlinteressen und nicht in erster Linie auf Absenkung von (kaum noch vorhandenen) Zöllen.

Dabei geht es keineswegs nur um Warenhandel, sondern u. a. auch um den Handel mit Finanzprodukten, IT-Datenhandel, Patente und Urheberrechte, Nutzung von Land und Rohstoffen, Gesundheitswesen und kulturelle Dienstleistungen, Rechte und Arbeitsmöglichkeiten von Immigranten sowie öffentliche Auftragsvergabe – von Letzterem wären sogar unsere Kommunen betroffen. Die Finanzindustrie drängt auf ein Zurückschrauben der Finanzmarktregulierungen der EU. Die Lebensmittel- und Fleischindustrie will den Europäern ihre Chlorhähnchen wieder verkaufen können. Die US-Unternehmensverbände wollen die Kennzeichnung von Lebensmitteln und die Auskunftsrechte der Verbraucher abschaffen. Und nicht zuletzt steht der USA-Lebensmittel- und Saatgutkonzern Monsanta bereit, gentechnische Einschränkungen in der EU auszuhebeln. Überdies sollen Regulierungen für Gesundheit, Transportwesen, Energie- und Wasserversorgung eingeschränkt werden und örtliche Flächennutzungs- und Raumplanungsgesetze möglichst abgeschafft werden.

Die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit dem Kürzel TTIP finden deshalb wieder einmal unter strikter Geheimhaltung unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, und zwar im Rahmen eines pauschalen Verhandlungsmandates für die EU-Kommission (angeblich „um die Verhandlungsstrategie mit den Verhandlungspartnern dadurch geheim zu halten“). Die Nationalparlamente und das EU-Parlament erhalten anschließend nur noch Gelegenheit, das Abkommen für die so genannte „Wirtschafts-Nato“ als Ganzes zu verabschieden, nicht aber über inhaltliche Einzelheiten oder Änderungen zu befinden. Hingegen sind die großen Lobbyverbände und Konzerne von Anfang an in intensiv die Verhandlungen eingebunden und haben sogar die inhaltlichen Vorgaben geliefert.

Warum die kritische Öffentlichkeit nichts über die geplanten Inhalte vorher erfahren soll, schon gar nicht vor dem Europa-Wahljahr 2014? Vordergründig wird das „Abkommen zur Beseitigung von Zollschranken und Handelshemmnissen“ mit angeblichen wirtschaftlichen Arbeitsmarkt- und Wachstumsimpulsen für die beteiligten Staaten begründet, die nach Einschätzung unabhängiger Fachleute eher gering bis „nicht messbar“ sein werden. Doch in Wirklichkeit verfolgt man nach den ersten durchgesickerten „Blaupausen“ der intransparenten Vorverhandlungen also ganz andere Absichten: Das „Freihandelsabkommen“ ist eher ein „trojanisches Pferd“ für den Durchbruch bestimmter Konzerninteressen zur Aushebelung von „handelshemmenden“ gesetzlichen Umwelt- und Klimaschutzvorgaben, Gesundheits- und Verbraucherschutzrechten, Datenschutzregelungen, einschränkenden Sozialstandards und Arbeitsschutz usw. Bisher schon bestehende Handelsabkommen bestätigen erste Befürchtungen.

Die Gegner des Abkommens sprechen sogar von einem „Komplott der Konzerne gegen Rechtsprechung und Demokratie“, warum? Ein Kernpunkt ist das Sonderklagerecht großer Konzerne gegen staatliche Gesetzesregelungen, mit denen Gewinne geschmälert werden und deshalb Entschädigungsklagen in Milliardenhöhe angestrengt werden können (wie derzeit die Klage des schwedischen Energiekonzerns Vattenfall gegen die Bundesrepublik wegen entgangener Gewinne durch den Atomausstiegsbeschluss). Aber das würde künftig nicht vor den ordentlichen Gerichten erfolgen, sondern vor eigenen Schiedsgerichten mit 3 spezialisierten Anwälten (die evtl. vorher die Konzerninteressen vertreten haben) ohne Berufungsmöglichkeit. Großkonzerne hätten somit den gleichen Rechtsstatus wie Nationalstaaten oder Staatengemeinschaften und könnten demokratisch zustande gekommene Gesetze aushebeln, die ihren Profit-Interessen zuwiderlaufen. Die staatliche Souveränität und demokratische Willensbildung ginge verloren, Investorenrechte gingen vor nationale Gesetze.

Im bevorstehenden Europawahljahr 2014 müssen wir Bürgerinnen und Bürger also wachsamer und „widerstandsfähiger“ sein als je zuvor!