Wilhelm Neurohr

Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU sowie die erneute Griechenland-Hilfe haben zwiespältige Reaktionen ausgelöst und erneut die Frage virulent werden lassen: Wohin driftet Europa? Die sogenannte „Euro-Krise“ oder „Schuldenkrise“ mit dem hilflosen Krisenmanagement der „Finanzexperten“ und den uneinigen Nationalstaaten mit ihren Egoismen lenkt von der eigentlichen Zukunftsfrage Europas ab, anstatt jetzt die entscheidende Frage aufzuwerfen: Wie sieht eigentlich die Zukunftsvision und Leitidee für Europa jenseits der anhaltenden Finanzmarktkrisen und des neu zu gestaltenden Bank- und Geldwesens aus? Ist Europa ohne politischen Kurswechsel und ohne inhaltliche und institutionelle Neuorientierung noch zu retten? Die soziale Frage stellt sich angesichts der Bedrohung des sozialen Friedens in Europa ganz neu und ist eng mit der Demokratiefrage verknüpft, vor allem aber mit der Frage einer überfälligen kulturellen Erneuerungsbewegung durch die europäische Zivilgesellschaft.

Die Kritik aus der europäischen Zivilgesellschaft und den sozialen Bewegungen in Südeuropa erscheint berechtigt, dass Europa nicht zuletzt unter dem politischen Einfluss Deutschlands zu einem autoritären neoliberalen Projekt verkommen ist, das europaweit zu der höchsten Arbeitslosigkeit und Armutsquote seit Bestehen der EU geführt hat. Mit dem binnenmarktorientierten EU-Projekt der Staatsmänner und Eliten von oben war den Menschen dagegen ursprünglich eine stetige Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse in Aussicht gestellt worden, während es mittlerweile für immer mehr Menschen sozial bergab geht, und das nicht nur in den südeuropäischen Krisenländern. Die Diktate der Troika werden als Angriffe auf die Demokratie und den Wohlfahrtsstaat erlebt. Die „Finanzkrise“ ist in Wirklichkeit eine fundamentale politische Krise, eine Demokratiekrise und eine Kapitalismuskrise. Die EU selber ist in einer Sinnkrise. Die Wirtschaft dient nicht mehr den Menschen - und die herrschende, der Wirtschaft dienende Politik auch nicht mehr.

Wenige Gewinner der Umverteilung wissen mit ihrem Reichtum nicht wohin und sorgen mit ihrem von der Realwirtschaft abgekoppelten Spekulationsgeld für den Zusammenbruch des Systems. Der spekulative Umgang mit Geld, Immobilien, Wirtschaftsgütern, Bodenschätzen und Lebensmitteln ohne Rücksicht auf die konkret beteiligten Menschen hat die Krise hervorgerufen. Geld ist nicht dazu da, sich selber zu vermehren, sondern das Gemeinwohl zu vermehren. Ungeachtet dieser elementaren Erkenntnisse gehen fast alle Hilfsmaßnahmen und politischen Kriseninterventionen jedoch an diesen Kernproblemen vorbei. Stattdessen soll überall der Krise begegnet werden mit Einschränkung der Demokratie, mit Abbau der Sozialleistungen und der öffentlichen Infrastruktur, mit Stellenabbau und Lohnverzicht, mit finanziellen Belastungen der Bürgerinnen und Bürger, umso mehr, je weniger Einkommen und Vermögen sie haben.

Wenn alle ökonomischen Akteure nur noch sparen, wird das Staatsdefizit am Ende größer statt kleiner, und es beginnt der Teufelskreis der sinkenden Steuern und Nachfragen, der sinkenden Löhne und ausbleibenden Investitionen. Das erleben wir gerade in Griechenland. Die Lehren aus der Weltwirtschaftskrise 1929 mit Rezession und Depression werden nicht gezogen. In einer derartigen Finanzkrise darf nicht nur der Rotstift angesetzt werden. Es stellt sich die Frage: Wie viel Sparen verträgt ein Land? Die von oben verordnete Sparpolitik droht die Länder Europas zu zerreißen und gegeneinander aufzubringen. Die Demokratie wird bei alledem ausgehöhlt.

Aber nicht nur in den Währungs- und Finanzfragen, auch in den übrigen Politikfeldern ist in Europa keine klare Orientierung zu erkennen, jedenfalls keine demokratisch legitimierte Ausrichtung der Europapolitik. Die EU-Länder, allen voran Deutschland, sind mit Rüstungsexporten von 5,4 Mrd. € (2011) auch in Krisenländer der größte Waffenlieferant der Welt. So breitet sich zunehmend eine weltweite militärische „Präventions- und Interventionspolitik“ der vor allem um ihre Wirtschaftsinteressen besorgten Europäer aus. Sozialpolitik und Sozialstaatlichkeit verliert an Stellenwert und Abrüstungspolitik findet nicht mehr statt. Auch Klima- und Umweltfragen wurden zu nachrangigen und vernachlässigten Randthemen und die Energiewende nur halbherzig angepackt. Und die Flüchtlings- und Menschenrechtspolitik der EU ist kein echter Bruch mit dem Erbe des Kolonialismus.

Die kulturelle und zivilisatorische Entwicklung Europas, auf dessen Kontinent einst die individuellen Menschenrechte erstmalig zur Geltung kamen, muss aus dieser humanitären Gesinnung Orientierung bieten für die Wirtschafts- und Finanzprobleme und die demokratische Erneuerung Das zu erkennen und zu ändern, sollte selbstkritisch statt selbstgefällig angepackt werden. In der politischen Gesamtschau war das Jahr 2102 für die Europäische Gemeinschaft ein verlorenes Jahr, ein Jahr des Rückschritts statt des Fortschritts.

„Die Krise als Chance“ ist diesmal nicht zutreffend, denn Europa geht erkennbar geschwächt statt gestärkt aus der nicht enden wollenden Krise hervor. Statt Gemeinschaftssinn geht die Tendenz eher in Richtung Stärkung der Nationalstaaten oder Renationalisierung. Einzelne Länder wollen ganz Europa ihren Stempel aufdrücken und verabschieden sich von der Solidarität. Kritiker sprechen bereits von der „Abwicklung Europas“ und davon, dass die (mit Europa fälschlich gleichgesetzte) EU statt eines „großen Sprungs nach vorn“ gerade die „größte Rolle rückwärts in ihrer Geschichte“ macht, mit einem sozialen Desaster für große Teile der Bevölkerung.

Der soziale Frieden als Voraussetzung für die Friedensfähigkeit Europas

Der soziale Frieden ist aber die grundlegende Voraussetzung für die weitere Friedensfähigkeit Europas generell. Davon kann auch die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Institution EU am 10. Dezember 2012, im vorläufigen Rekordjahr der gestiegenen Rüstungsexporte, nicht ablenken. Drei frühere Friedensnobelpreisträger - der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu (1984), die nordirische Preisträgerin Mairead Maguire (1980) und der argentinische Menschenrechtler Adolfo Pérez Esquivel (1980) - erklärten Anfang Dezember in einem gemeinsamen Brief, dass die „EU eindeutig kein Kämpfer für den sozialen Frieden“ sei, wie dies der Preisstifter Alfred Nobel in seinem Testament im Sinn gehabt habe. Die EU strebe nicht nach der Verwirklichung von Nobels globaler Friedensordnung ohne Militär. Auch hatte Alfred Nobel in seinem Testament verfügt, dass derjenige mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet werden soll, der im jeweils vorausgegangenen Jahr am meisten für den Frieden getan hat.

Dass die europäische Einigung trotz ihrer eklatanten Demokratie-Defizite insgesamt für die EU-Staaten seit Ende des 2. Weltkrieges 60 Jahre lang als stabiles innereuropäisches Friedensprojekt untereinander wirkt, soll nicht in Abrede gestellt werden - auch wenn der europäische Einigungsprozess (neben völkerrechtlichen Verträgen und rechtlichen Abkommen) von Anfang an zu wirtschaftslastig angelegt ist, nach der Philosophie: Wer miteinander Handel betreibt und gemeinsame wirtschaftliche Interessen verfolgt, der bekämpft sich nicht auf Kriegsschauplätzen. Doch diese Sicht greift zu kurz in Zeiten der Globalisierung mit der „Diktatur der Ökonomie“ und der kriselnden Finanzmärkte. Ist Europa nicht mehr als eine Währungsunion? Der europäische Einigungsprozess stand seit Jahrzehnten für Frieden und wirtschaftliche und soziale Stabilität als identitätsstiftende Leitidee. Nun steht das Projekt Europa auf der Kippe durch falsche wirtschaftliche und geldpolitische Orientierung und sträfliche Vernachlässigung der Sozialunion. Hinter der scheinbar heilen Fassade bröckelt die EU.

Friedensgesinnung hat zuvorderst eine kulturelle, ethische und moralische sowie zivilgesellschaftliche und soziale Basis. Daran mangelt es der EU als abgehobenes Projekt der Staatsmänner und Wirtschaftseliten von oben, mit unheilvoller Verflechtung und Interessensgleichsetzung von Politik und Wirtschaft sowie „Herrschaft der Lobbyisten“. Es gibt kein von den Völkern selber gemeinsam erarbeitetes Leitbild von unten für Europa und seine nachhaltige Friedensförderung auf einem gangbaren Weg in eine soziale Zukunft. Die Jugend Europas – zum Beispiel in Spanien mit bald 50% Jugendarbeitslosigkeit – erlebt Europa als Verursacher der ausbleibenden Perspektiven für eine verlorene Generation. Und als Problemlöser für ökologische Krisen wie den Klimawandel tritt Europa seit dem letzten Klimagipfel in Doha kaum noch glaubwürdig auf.

Deshalb kann Europa nicht einfach mit der institutionellen EU und ihren orientierungslosen und egoistischen Akteuren und Gremien gleichgesetzt werden, die sich mit der gültigen „Lissabon-Strategie“ durchgängig dem Neoliberalismus verschrieben haben, der im Lissabon-Vertrag als alleingültiges und alternativloses Wirtschaftsprinzip verfassungsähnlich festgeschrieben ist. Dieses wirkt aber in allen Lebensfeldern zerstörerisch und entzweit die Menschheit im Zuge der Verarmungs- und Verelendungsprozesse sowie der größer werdenden Schere zwischen Armut und Reichtum. Dagegen wehrt sich unter anderem die europaweite Initiative „umfairteilen“ seit ihrer Protestaktion am 28. September (www.umfairteilen.de). Noch nie zuvor war auch die Arbeitslosigkeit in Europa im Vorjahr größer als je zuvor seit der EU-Gründung.

Daran wird deutlich, dass zu einem dauerhaften Frieden vor allem auch der soziale Frieden als wichtigstes Fundament gehört. Das friedensstiftende europäische Demokratie- und Sozialmodell ist stattdessen ernsthaft in Gefahr. Und gegenüber den außereuropäischen Verlierern des marktradikalen europäischen „Handelskrieges“ und deren in Europa abgewehrten Flüchtlingsströmen aus den Armutsländern verhält sich Europa (mit seiner chauvinistischen und imperialistischen Vergangenheit) nicht gerade friedensfördernd und friedensstiftend. Geschweige mit seinen zuvor erwähnten Rüstungsexporten und -ausgaben in nie dagewesener Rekordhöhe, größer als in Zeiten des „kalten Krieges“ - mit Festschreibung der Aufrüstungsverpflichtungen (und Rechenschaft gegenüber der europäischen Rüstungsagentur) im Lissabon-Vertrag der EU. „Friedenspolitik“ wird auch in Europa fast nur noch militärisch definiert und folglich mit Aufrüstung statt mit Abrüstung begleitet.

Und die Neuausrichtung der europäischen Militärdoktrin in Richtung der Sicherung außereuropäischer Energie- und Rohstoffvorkommen und Handelswege erscheint als Fortsetzung des marktradikalen Konkurrenzkampfes der Kontinente als Fortsetzung der Politik mit anderen, nämlich militärischen Mitteln. Tatsächlich hat Europa mit seiner Militärpräsenz seine Kriegsschauplätze lediglich vom eigenen Kontinent in andere Kontinente verlagert. Dort werden im schlimmsten Extremfall Kindersoldaten mit deutschen Waffen vorgefunden oder durch deutsche Waffen erschossen. Deshalb wirkt der zur Schau getragene Stolz über die längste Friedensphase unserer europäischen Geschichte gut sechzig Jahre nach dem zweiten Weltkrieg selbstgefällig.

Ein verlorenes Jahr für Europa und die Welt geht zu Ende

Das zu Ende gehende Dauerkrisen-Jahr 2012 infolge der neoliberalen Banken,- Finanz,- Euro,- Schulden- und Wirtschaftskrise war nicht nur ein Jahr des hektischen, teils hilflosen Reagierens des EU-Krisenmanagements (mit einem Bild der Uneinigkeit und Zerstrittenheit als Kakophonie, ferner mit Mängeln der demokratischen Entscheidungs- und Beteiligungsprozesse). Die soziale Funktion des Geldes und die Gemeinwohlorientierung der Wirtschaft ist völlig aus dem Blick geraten und nicht Thema eines ganzheitlichen Rettungskonzeptes. Demokratie und Menschenrechte geraten dabei zwangsläufig unter die Räder.

Insofern sind die politisch geäußerten Ängste über sich anbahnende „bürgerkriegsähnliche Zustände“ in Griechenland und Spanien durch die aufgebrachte Bevölkerung nicht unberechtigt, die mit den Rettungspaketen und –auflagen in die Armut getrieben wird, derweil die wirtschaftliche Zukunftsentwicklung erkennbar abgewürgt wird. Der für die Einigung Europas beschworene Zusammenhalt des Euro-Raumes zeigt das ganze Dilemma einer vom Wesen des Geldes und der Realwirtschaft abgehobenen Währungsdiskussion - wahrlich kein beruhigendes Entscheidungsjahr als Beurteilungszeitraum für einen Nobelpreis an die EU. Der soziale Frieden ist allemal zerstört, und die jüngsten Demonstrationen wie auch Äußerungen von Politikern haben Vorurteile bis Hass von EU-Ländern untereinander gesät. Außer Appellen hat die EU wenig zur Behebung dieser Probleme im Kern unternommen, sondern verstärkt politische Entscheidungen zu Lastend der Demokratie in kleine Führungszirkel verlagert.

Besonders heuchlerisch: Bei den ansonsten drastischen Sparauflagen der EU-Troika für Griechenland war der exorbitante Rüstungshaushalt Griechenlands tabu, weil Deutschland der Hauptrüstungsexporteur an Griechenland ist, der noch in der ärgsten Krisenphase den Griechen für 3 Mio. € weitere Waffenkäufe abverlangte. Nobelpreisverdächtige Politik der EU sind anders aus. Was fehlt Europa, um ein würdiger Nobelpreisträger zu sein? Wenigstens darüber sollte nachgedacht werden anlässlich der Preisverleihung am 10. Dezember, anstatt sich auf 60 Jahren Vergangenheit auszuruhen. Ist es bereits Ausdruck aktiver Friedenspolitik im Sinne des Nobelpreises, wenn man untereinander 60 Jahre nicht übereinander hergefallen ist? So verbleibt den Preisverleihern nur der Verweis auf eine Verpflichtung der EU für die Zukunft.

Die Zukunft der EU muss als Thema an vorderster Stelle auf die Tagesordnung der Zivilgesellschaft, denn die Antworten und Ideen kommen nicht von Kommissionen, Räten, Regierungen und Gremien. Diese sind für die europäische Umgangskultur der Menschen auch gar nicht zuständig, sondern dass liegt in der wahrzunehmenden Eigenverantwortung aller europäischen Bürgerinnen und Bürger selber. Das sollte die Lehre aus dem „verlorenen Jahr“ für Europa sein, indem das kommende Jahr 2013 für einen Zugewinn an Demokratie und Freiheit sowie Solidarität intensiv genutzt wird.

Ist ein anderes, neues Europa jenseits der neoliberalen Eliten denkbar?

Mit dem Vorhergesagten wird die fehlende Zielrichtung des kriselnden europäischen Projektes im Ansatz aufgezeigt. Ein maßgeblicher Gründervater der europäischen Gemeinschaft des vereinigten Nachkriegs-Europas (und stellvertretender Generalsekretär des Völkerbundes), Jean Monet, betonte: „Wenn ich das Ganze noch einmal zu machen hätte, so würde ich nicht bei der Wirtschaft anfangen, sondern bei der Kultur.“ Diesen Geburtsfehler gilt es jetzt zu korrigieren!

Vorausgegangen war bekanntlich die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Montanunion (Schumann-Plan) und der gescheiterte Versuch, eine europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und eine Europäische politische Gemeinschaft (EPG) zu gründen. Stattdessen folgten die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Mithin spielten auch politisch-militärische und wirtschaftliche Machtinteressen in Zeiten des kalten Krieges mit der Blockbildung eine zentrale Rolle. Die Gründungs-Legende vom „Friedenprojekt Europa“ hat also nur vor dem Hintergrund der alten Militärdoktrin „Frieden durch Abschreckung“ Bestand.

Was jetzt Not tut für ein soziales, demokratisches und friedliches Europa, ist eine völlige Neugründung Europas auf anderem, zunächst kulturellen Fundament mit einer dezidiert angelegten Friedens- und Abrüstungsstrategie und einem neuen Geld- und Wirtschaftskonzept und Sozialmodell sowie einem partizipatorischen Demokratiemodell. Hätte sich die EU auf diesem Feld im letzten Jahr profiliert, dann hätte sie den Nobelpreis wahrlich verdient. Aber kein profilierter EU-Politiker hat dies auf seiner Agenda, wohl aber die europäische Zivilgesellschaft. Sie hat den Nobelpreis irgendwann verdient mit ihrer Neubesinnung auf den geistigen europäischen Ursprung und Auftrag Europas, also Europa als Kulturprojekt statt als von Interessen geleitetes Wirtschaftsprojekt.

Die Krise durch Solidarität und Demokratie bewältigen, das ist die Kernforderung des gemeinsamen Aufrufes „Europa neu begründen“ von Intellektuellen und Wissenschaftlern wie Prof. Elmar Altvater, Prof. Jürgen Habermas und zahlreichen Erstunterzeichnern aus den Reihen der Wirtschafts -und Sozialwissenschaftler, der Philosophie und Theologie, zusammen mit den Gewerkschaftsführern etwa von ver.di und IG Metall. Der DGB hat ein eigenes 4-Punkte-Programm für einen Kurswechsel in Europa vorgelegt, das neben Vorschlägen für die Bewältigung der Finanzmarktkrise auch ein umfassendes Zukunftsprogramm als „New Deal“ für Europa vorschlägt, unter Einschluss einer verbesserten Bildungsqualität. Sie alle halten die derzeitige Europa-Politik für wirtschaftlich kontraproduktiv, sozial verantwortungslos und demokratiepolitisch destruktiv und rückschrittlich.

Eine öffentliche Debatte über Europas Zukunft wird gefordert, damit sich die europäische Öffentlichkeit über eine Leitidee für ein soziales und demokratisches Europa verständigt. Und ein neuer Konvent wird vorgeschlagen, in dem darüber nachgedacht wird, in welcher Verfassung sich Europa befindet und wie es neu verfasst werden kann. Ein anderes Europa ist denkbar, das die Geburtsfehler der alten Union mit ihrer einseitigen Fixierung auf den Markt und ihrer elitären Aufhebung der Demokratie beseitigt. Ohne zukunftsfähige Leitideen aus der Zivilgesellschaft kann die europäische Einigung nicht gelingen. Europa muss sich auf einen neuen Entwicklungspfad begeben, und Deutschland trägt hierbei eine besondere Verantwortung.

Bemerkenswerte Veranstaltungen zu Europas Gegenwarts- und Zukunftsfragen

Aufrufe zur Umkehr in Europa gibt es bereits viele. Jetzt wird es Zeit, sie in die Tat umzusetzen. So gibt es neben dem erwähnten Aufruf „Europa neu begründen“ u. a. den Aufruf der Initiative: „Demokratie statt Fiskalpakt“ sowie die attac-Aktion: „Bank wechseln!“ Und es gibt das Blockupy-Bündnis gegen ein neoliberales Europa. Vom 8. Bis 11. November fand in Florenz das Treffen der Teilnehmer des europäischen Sozialforums statt, um Kräfte zu sammeln „für ein anderes Europa“. Ferner gibt es länderübergreifende Anstöße zum Aufbau von Solidaritäts-Komitees in ganz Europa. Am 14. November koordinierte der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) europaweite Protestaktionen.

Im Ruhrgebiet, dort wo Europas Gründung auf der Basis von Kohle und Stahl einst begann, fanden im November und Dezember 2012 mehrere bemerkenswerte zivilgesellschaftliche Veranstaltungen über europäische Zukunftsfragen statt. Die zuvor beschriebene Initiative „Europa neu begründen“ wollte es nicht bei einem bloßen Aufruf belassen, sondern lud am 17. November in der Universität Duisburg-Essen zu einer Konferenz über Alternativen zur Sparpolitik. Hier gab zunächst Prof. Oskar Negt ein Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen ab und skizzierte damit einen Gesellschaftsentwurf für Europa. In einer Gesprächsrunde von Wissenschaftlern und Gewerkschaftern wurden Strategien und Wege zu einem demokratischen und sozialen Europa diskutiert. Insbesondere wurde die Frage aufgeworfen, welche Rolle die europäischen Institutionen einnehmen sollen und welche die zivilgesellschaftlichen Akteure, die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Zuguterletzt ging es um Alternativen zur Sparpolitik in den einzelnen Ländern und um konkrete Schritte in ein demokratisches und solidarisches Europa.

Eine weitere bemerkenswerte Europa-Veranstaltung als Podiumsgespräch „Europa in neuer Verfassung“ fand am 27. November in der Philharmonie Essen statt, veranstaltet vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und der Universitätsallianz der Ruhrgebiets-Hochschulen sowie dem „Institute for Adwanced Study in the Humanities“, ferner der „Initiative Europäische Horizonte“ und der „Edition Körber-Stiftung“ . Der EU-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit , Fraktionssprecher der Grünen im EU-Parlament sowie der ehemalige belgische Premierminister Guy Verhofstadt diskutierten als Buchautoren („Für Europa. Ein Manifest“ ,Hanser Verlag München 2012) mit Prof. Leggewie (wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung) und den 200 Teilnehmenden über eine grundlegende Reform der europäischen Union. Einer Union, in der Supranationalität, demokratische Bürgerbeteiligung, föderative Elemente und subregionale Zusammenschlüsse wie die Mittelmeerunion eine wesentliche Rolle spielten, aber auch Aspekte der Nachhaltigkeit, des fairen Handels und sanften Tourismus in Europa als interkultureller Lerngemeinschaft. Ein föderales Europa mit einer neuen, von einem Konvent zu erarbeitenden Verfassung, die allen EU-Bürgern zur Abstimmung und Mitgestaltung vorgelegt wird, so der Vorschlag.

Am 6. Dezember gab es unter dem Titel „Wem gehört Europa?“ eine weitere Veranstaltung im Ruhrgebiet, und zwar mit dem EU-Abgeordneten und Dreigliederer Gerald Häfner im Audimax der Freien Universität Witten-Herdecke, veranstaltet von den Studierenden, die den Gruppen oikos Susttainable Innovator Series (SISS) und der Studienstiftung des Deutschen Volkes angehören. Ausgehend von der Schuldenkrise und der demokratischen Legitimationskrise bemerkte Gerald Häfner, dass es noch nie so schlecht um die Demokratie in Europa bestellt war wie in der derzeitigen Krisensituation.

Er stellte fest: Europa ist in einer tiefen Krise – finanziell, ökonomisch, politisch, sozial. Der Kontinent lebt sich auseinander. Die soziale Spaltung der Gesellschaft nimmt zu. Und das Gefühl des Ausgeliefertseins an nicht mehr demokratisch legitimierte Kräfte wächst. Seine aufgeworfenen Fragen: Welche Konsequenzen ziehen wir aus der gegenwärtigen Krise? Wohin entwickelt sich Europa – und wohin sollte es sich entwickeln? Wie kann aus einem Europa der Regierungs- und Finanzmarktinteressen ein Europa der Bürger werden?

In der Diskussion mit den Teilnehmenden wurde die Idee eines europäischen Konvents unter Bürgerbeteiligung skizziert, in der über den weiteren europäischen Weg und die Konstruktion der EU ganz neu nachgedacht wird. An mehr direkter Demokratie in Europa führe in Zukunft kein Weg vorbei, so heißt es auch in der Europa-Kampagne von mehr Demokratie e.V., die anstrebt, dass in einem Konvent Vorschläge für eine demokratischere EU entwickelt und öffentlich diskutiert werden. Fazit des Abends: Europa gehört seinen Bürgern und nicht den Eliten, deshalb hat jeder Einzelne seine Verantwortung für das Gelingen des europäischen Projektes.

Am 10. Dezember beschäftigte sich die Regionalgruppe von Attac in der Ruhrfestspielstadt Recklinghausen mit dem Thema „Europa neu begründen?!“ Attac setzt sich für eine neue EU-Verfassung ein, die sich nicht ausschließlich am schrankenlosen Wettbewerb orientiert. Und für den 15. Dezember lud Kai Ehlers vom „Forum integrierte Gesellschaft“ zu einem Treffen ein zum Thema: „Europa – ein auslaufendes Modell?“. Er verweist darauf, dass wir Zeugen von Zuspitzungen globaler Umwälzungen werden, als deren Ausgang eine neue Weltordnung zu erwarten ist. Und er fragt: Sind wir auch TeilnehmerInnen und auch Subjekte dieses Prozesses? Sind wir aktiv beteiligt? Haben wir etwas mitzuteilen? Werden wir gefragt? Welche Art von Ordnung (oder Unordnung) entsteht da? Und was ist aus der europäische Idee des vorigen Jahrhunderts geworden? Wohin steuert das Europa heute unter den Beschlüssen zum „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM) und denen der NATO-Anforderungen nach Aufgabe der nationalen Souveränitäten im Rahmen des neuen NATO-Dogmas „Smart Defence“? (Gemeint ist laut Generalsekretär Asmussen das „intelligente Ausgeben“ der nach Sparmaßnahmen knapperen Mittel für die NATO durch Zentralsierung).

Also eine Vielfalt an wichtigen Zukunftsfragen für Europa, die gleichzeitig virulent und teilweise miteinander verknüpft sind – und die nicht über die Köpfe der 500 Millionen Menschen in Europa hinweg entschieden werden dürfen!

Aufbruch in einen europäischen Frühling 2013?

Am 14. November gab es im Ruhrgebiet zudem das Treffen einer kleinen vorbereitenden Initiativgruppe unter Beteiligung des Autors dieser Zeilen mit dem Europa-Abgeordneten Jürgen Klute und einem griechischen Aktivisten. Geplant ist im ersten Quartal 2013 ein Europa-Forum oder Runder Tisch als größere zivilgesellschaftliche Veranstaltung im Ruhrgebiet mit namhaften Wissenschaftlern, Politikern, Gewerkschaftern und Initiativgruppen, um Wege aus der europäischen Krise von unten zu entwickeln und Aktionen anzustoßen und zu koordinieren. Die ersten europaweiten Proteste vom November 2012 dürfen nicht ungehört verhallen, sondern sind verstärkt fortzusetzen und mit politischen Alternativen zu untermauern, wie etwa Rettungsschirme für die Menschen, für die Sozialsysteme und die Kommunen. Entwickelt werden sollen Zukunftsbilder von einem Europa, in dem wir leben wollen – oder eben gerade nicht. Ein Aufbruch statt eines Zusammenbruchs ist vonnöten, oder wenn man so will: Ein europäischer Frühling!

Europa als bisheriges Projekt der alten Staatsmänner, der Märkte, Banken und Konzerne muss zu einem Projekt der Bürger werden, vor allem aber zu einem Zukunftsprojekt der Jugend Europas! (Siehe hierzu auch „7 Thesen zur nachhaltigen Entwicklung Europas“ als Beitrag zu einem europäischen Leitbild, im Dreigliederungsrundbrief Sozialimpulse Nr. 2/2995). Deshalb ist es erfreulich, wenn sich die Schulen, teilweise als „Europa-Schulen“ dieser Thematik verstärkt annehmen, so auch die Jeetze-Schule in Salzwedel, eine private Reform-Gesamtschule. Am 17. Januar 2013 findet dort ein Podiumsgespräch statt mit Rebekka Harms - die als Spitzenkandidatin der Grünen ins Europaparlament einzog und dort Vorsitzende der grünen Fraktion im EU-Parlament ist – sowie mit Wilhelm Neurohr (Buchautor „ist Europa noch zu retten?“, Pforte-Verlag 2008, jetzt Futurum-Verlag), seit Anbeginn im Dreigliederungs-Netzwerk. Sein kritisches Europa-Buch mit Anregungen für Aktivitäten und identitätsstiftenden Leitideen für ein anderes Europa war in Salzwedel Gegenstand einer Unterrichtsreihe im Geografie-Unterricht. Die Schüler selber hatten daraufhin die Idee dieser Podiumsveranstaltung und ergriffen dazu die Initiative.

Allenthalben ist jetzt eine Aufbruchstimmung für ein anderes Europa „von unten“ zu erzeugen, damit kein weiteres verlorenes Jahr für Europa entsteht, sondern ein Jahr des neuen Aufbruchs in eine europäische Zukunft durch eine europäische Sozial- und Bürgerbewegung sowie Jugendbewegung. Das neue Europa muss aus der Zukunft gestaltet werden, nicht aus der Vergangenheit. Europa ist etwas Werdendes, nicht etwas Vollendetes. Es ist deshalb ein Europa für die junge Generation mit den in ihr lebenden Bestrebungen nach einer spirituellen und sozialen Zukunft. Die Zukunftskräfte Europas sind also nirgendwo anders zu finden als in jeder einzelnen Individualität, die sich als gemeinschaftsfähig erweist. Nur die Macht der Ideen und der Geist der Solidarität bringen Europa mit seiner Vielfalt weiter. So gesehen ist Europa kein Ort, sonder eine universelle Idee. Und diese lebt von den Menschenbegegnungen und -verständigungen.

Die soziale, wirtschaftliche, demokratische und kulturelle Zukunft Europas sowie seine Rolle in der Welt sind ganz neu zu gestalten – eine aufregende Herausforderung mit vielen Gestaltungsfeldern! Die Umgestaltung der Sozialsysteme im Gegensatz zu ihrem derzeitigen Abbau ist gefragt. Die Vision: Das vereinte Europa steht nach seiner wachrüttelnden Krise nicht länger in Konkurrenz und Vormachtstellung zu anderen Kontinenten und ihren Menschen, sondern es trägt zur Entwicklung und Förderung der ganzen Menschheit in der einen Welt bei. Das ist die eigentliche Idee und Mission Europas, die verschüttet war und wiederzuentdecken sowie mit sozialem und kulturellem Leben zu füllen ist. Die Zukunft des neuen Europa beginnt hier und jetzt, mit den engagierten, aktiven, kritischen und innovativen Menschen in der Zivilgesellschaft, die aus der „Zuschauer-Demokratie“ heraustreten.

Die soziale Neugestaltung der europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung im Sinne von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ist eine zentrale Aufgabe dieses Jahrhunderts in Europa und für die Welt. Nur wenn diese Aufgabe wirklich ergriffen wird und wir uns aus dem Vakuum der Orientierungs- und Ideenlosigkeit befreien, gibt es sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Fortschritt in Europa und ein Überwinden der momentanen Krisen, bzw. eine Verhinderung ihrer katastrophalen Ausweitung und Zuspitzung. Wenn Europa etwas wirklich Neuartiges sein will, eine Idee, hinter der alle europäischen Völker stehen, dann muss es zuallererst in Sachen Demokratie Innovationsgeist zeigen – denn Demokratie ist friedensstiftend. Und Europa muss ein Kontinent der aktiven Bürgergesellschaft werden. Denn nicht Staaten vereinigen wir, sondern Menschen. Deshalb gilt weiterhin: „Europa - nicht ohne uns!“