Wilhelm Neurohr

Hinter uns liegt die Europawahl vom 7. Juni mit extrem niedriger Wahlbeteiligung von 43%, gefolgt vom bemerkenswerten Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 30. Juni über das Demokratie-Defizit der EU - mit entlarvenden Reaktionen aus Politik und Medien dazu, obwohl sie gerade eine verfassungsrechtliche Nachhilfestunde in Demokratie erteilt bekommen hatten. Einstweilen liegt der Lissabonner Reformvertrag auf Eis, denn der Ratifizierungsprozess ist damit vorerst gestoppt.

Vor uns liegen deshalb die eiligen Beratungen des Bundestages zur verfassungskonformen Nachbesserung des verfassungswidrigen Begleitgesetzes zum Lissabonner Reformvertrag, denn der Bundestag muss nach den Ohrfeigen aus Karlsruhe nachsitzen – und hat sich dazu selber unter Zeitdruck gesetzt bis zum September 2009 mit Unterbrechung der Sommerpause, damit der EU-Reformvertrag „spätestens" Anfang 2010 in Kraft treten kann (ursprünglich sollte er schon Anfang 2009 rechtskräftig sein…).

Und vor uns liegt noch das ausstehende wiederholte Referendum in Irland voraussichtlich am 2. Oktober, denn das irische Volk hatte am 13. Juni 2008 den Herrschenden nicht das gewünschte zustimmende Abstimmungsergebnis zum Lissabonner EU-Reformvertrag geliefert und soll dies nun gefälligst nachholen. Solange wollen auch Tschechien und Polen ihre abschließende Ratifizierung noch aussetzen. Europa in der Dauerkrise – eine Krise der Demokratie in einem „vormundschaftlichen Superstaat", der seine zentralstaatliche Vollmacht mittels „Staatstreich" statt durch demokratische Legitimation ausweitet? Scheitern die Betreiber des wünschenswerten europäischen Integrationsprozesses an ihren eigenen Demokratiedefiziten und Machtansprüchen? Welche Auswege gibt es aus der europäischen Demokratie-Krise? Von welchem Demokratieverständnis lassen wir uns in Zukunft leiten?

Das demokratische System darf durch die EU nicht ausgehöhlt werden

Der europäische Einigungsprozess darf nicht dazu führen, dass das demokratische System Deutschlands ausgehöhlt wird, so lautete der Weckruf aus Karlsruhe: Die eklatanten Defizite an Demokratie in der EU tasten den Kerngehalt der Verfassungsidentität unseres Grundgesetzes an, dessen 60-jährige Bewährung alle Politiker gerade erst feierlich hervorgehoben haben - so lautet die eigentliche zentrale Feststellung des Bundesverfassungsgerichtes vom Juni 2009 in seinem 150-seitigen einstimmigen Urteil zum umstrittenen Lissabonner EU-Reformvertrag (vormals EU-Verfassungsentwurf). Die darin erweiterten Befugnisse der EU sind zwar nicht grundgesetzwidrig, weil die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen wie die EU in bestimmten Grenzen zulässig ist. Aber im Begleitgesetz müssen Bundestag und Bundesrat ihre Beteiligungs- und Kontrollrechte stärker verankern und wahrnehmen, seitdem 84% aller Rechtsnormen und Gesetzesakte aus Brüssel (ohne wirksame demokratische Kontrolle und Beteiligungsverfahren) vorgegeben werden - bei gleichzeitiger (Selbst-) Entmündigung der demokratisch legitimierten Nationalparlamente: Nur noch 16% der Gesetze stammen originär aus dem Bundestag.

In Zukunft muss bei wichtigen Entscheidungen zur EU also erst der Bundestag eingeschaltet werden, damit nicht die Regierungsmitglieder als Exekutive völlig freie Hand bei Verhandlungen und Festlegungen in Brüssel haben, ohne parlamentarischen Auftrag und ohne demokratische Kontrolle. Die Bundesregierung wird in Brüssel künftig mehr an das Votum des Bundestages gebunden. Folglich hat Karlsruhe die völkerrechtliche Ratifizierung des verfassungswidrigen Begleitgesetzes gestoppt Denn dieses Gesetz „über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in EU-Angelegenheiten" verdient seinen Namen nicht und wurde von Karlsruhe deshalb für verfassungswidrig erklärt.

In einer Demokratie kann die Exekutive nicht an die Stelle der Legislative treten; die Gewaltenteilung und das Subsidiaritätsprinzip können nicht aufgehoben werden; Zuständigkeiten dürfen nicht überschritten und nicht ohne weiteres verlagert werden. Die EU kann sich nicht als unkontrollierte Zentralinstanz verselbständigen, ohne dass vorher die Bürgerinnen und Bürger und deren gewählte Repräsentanten in den Mitgliedsstaaten wirksam beteiligt werden. Eine dicke Ohrfeige also für das mangelnde Verfassungs- und Demokratieverständnis der verantwortlichen Regierungs- und Parlamentspolitiker, die davon unbeeindruckt die ausufernden Machtbefugnisse für Brüssel verteidigen und die schleichende Entmachtung des Bundestages als notwendige Konsequenz aus den weitreichenden gewollten Kompetenzverlagerungen nach Brüssel bezeichnen.

Das Volk als Souverän und dessen gewählten Abgeordneten als demokratisch legitimierte Repräsentanten müssen jedoch demokratischen Einfluss behalten auf die Entscheidungen und Rechtsetzungen ihrer Regierung und der EU-Gremien. Nur so können eingetretene Demokratiedefizite und Souveränitätsverluste oder -verzicht aufgefangen werden, lauten die unmissverständlichen Forderungen der Verfassungshüter. Deutschland darf den Vertragserweiterungen des EU-Reformvertrags erst dann beitreten, wenn die erweiterten Mitwirkungsrechte des Bundestages und Bundesrates verbindlich in Kraft getreten sind. Den Mitgliedsstaaten darf nicht der Spielraum für politische Gestaltung genommen werden: Über Krieg und Frieden, über Strafrecht und Polizei, über Einnahmen und Ausgaben, über Bildung, Medien und Religion muss im Wesentlichen weiterhin in Deutschland entschieden werden. Denn dieser Kernbestand an Grundrechten und kultureller Identität bleibt unveräußerlicher Teil der staatlichen Souveränität.

Die undemokratische EU ist ein Staatenverbund und kein Bundesstaat

Allzu voreilig war insofern das hörbare Aufatmen in Berlin am 30. Juni, denn der Karlsruher Richterspruch, wonach der EU-Reformvertrag nach erheblich angewachsenen EU-Befugnissen gerade „noch" mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar sei, begräbt in Wirklichkeit einen Brüsseler Traum: Nämlich den von einem Bundesstaat Europa ohne vorherige Willenserklärung des Volkes, in dem eines Tages die Mitgliedsstaaten herabsinken auf das Niveau mehr oder minder einflussloser Provinzen ohne demokratisches Mitspracherecht. Denn vor allem hat Karlsruhe folgendes klargestellt: Das deutsche Grundgesetz will zwar eine europäische Integration, diese muss jedoch auf der Grundlage souverän bleibender Mitgliedsstaaten erfolgen.

Das Grundgesetz erlaubt nicht den Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat, weil dies gegen die staatliche Souveränität der Bundesrepublik verstoßen würde. Über einen solchen Verzicht auf die eigene staatliche Souveränität könnte nur unmittelbar das deutsche Volk in einer demokratischen Abstimmung entscheiden. Im Klartext: Die EU ist ohne ein solches Bürgervotum nach wie vor ein Vertragsverbund souveräner Staaten mit einem strukturellen, unauflösbaren Demokratiedefizit und kein übergeordneter Superstaat. Damit ist die EU als supranationale Organisation nur politischer Sekundärraum und kein eigenständiger souveräner Bundesstaat mit eigenen Staatsbürgern. Als staatsähnliches Gebilde mit fortbestehenden demokratischen Defiziten darf sich die EU nicht wie ein Staat gegenüber seinen Gliedern und Untertanen gebärden.

Der Lissabon-Vertrag darf nicht als versteckter Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat interpretiert werden. Die weiteren Integrationsschritte dürfen nicht die Gestaltungsfähigkeit der Mitgliedsstaaten aushöhlen und zur demokratie- und freiheitsgefährdenden Übertragung weiterer Befugnisse auf Brüssel erfolgen. Und der Integrationsprozess darf nicht zu einer Aushöhlung des demokratischen Herrschaftssystems in Deutschland führen. Auch die Ewigkeits-Garantie des sozialen Rechtsstaates und des Föderalismus dürfen von der EU nicht ausgehöhlt werden. Das alles und noch viel mehr haben die Verfassungsrichter deutlich ausgeführt.

Europäischer Gerichtshof ignoriert demokratische Verfassungsrechte der Mitgliedsstaaten und ihrer gewählten Parlamente

Und da die EU noch kein Bundesstaat ist, sondern vorerst ein Verbund souveräner Staaten bleibt, kann auch der nicht legitimierte EU-Gerichtshof nicht das deutsche Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht übergehen. Zur Erhaltung der demokratischen Selbstbestimmung und zur Wahrung der Wirksamkeit des Wahlrechtes ist es unverzichtbar, dass das Bundesverfassungsgericht darüber wacht, dass Brüssel seine eingeräumten Kompetenzen nicht überschreitet. Die Macht der EU-Kommission und die angemaßten Kompetenzen des EU-Gerichtshofes sollen also nach dem Willen der obersten deutschen Verfassungsrichter beschnitten werden. Denn der Europäische Gerichtshof hat mit immer erstaunlicheren Begründungen den Mitgliedsstaaten ureigene Kompetenzen entzogen und im Zweifel stets für Brüssel entschieden. Dazu ist es aber nicht befugt, denn es kann nicht das Demokratieprinzip im deutschen Grundgesetz und in anderen Nationalverfassungen aushebeln.

Es mangelt nämlich in der EU bei der Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse und bei den Entscheidungen über die Lebensumstände der Bürgerinnen und Bürger sowie bei Militäreinsätzen oder beim Strafrecht an dem politisch und parlamentarisch organisierten öffentlichen Diskurs, wie er nur innerhalb der Mitgliedsstaaten geführt werden kann – so die Auffassung der deutschen Verfassungsrichter. Die Demokratie-Defizite verschwinden nicht etwa von ganz alleine, indem mit dem Lissabonner Reformvertrag den EU-Gremien noch mehr Rechte und Zuständigkeiten eingeräumt würden; vielmehr hat dies weiteren Demokratie-Abbau für die Bürgerinnen und Bürger und deren Vertretern in den bisher zuständigen, nunmehr entmündigten Nationalparlamenten zur Folge.

Gemessen an den grundgesetzlichen Vorstellungen der parlamentarischen Demokratie ist das EU-Parlament undemokratisch: Es kann trotz erweiterter Kompetenzen nicht schleichend in die Rolle der Nationalparlamente einrücken, weil es sich um kein wirkliches Parlament handelt, das etwa eigene Gesetzesinitiativen ergreifen, wirksame Regierungskontrolle betreiben oder eigene Wahlvorschläge für die EU-Kommission einbringen könnte. Die Zusammensetzung des EU-Parlamentes entspricht nicht einmal dem demokratischen Gleichheitsgrundsatz beim Wahlverfahren, da die Wählerstimmen in den einzelnen Ländern völlig unterschiedliches Gewicht haben.

Trotz Ohrfeige für die Undemokraten: Politiker wollen sich beim Staatstreich nicht bremsen lassen?

Ein uneingeschränkter Vorrang des EU-Rechtes vor dem nationalen Verfassungsrecht, wie im Lissabonner Reformvertrag festgeschrieben, wird also nicht anerkannt. Folglich hat dass Verfassungsgericht eine Reihe von Forderungen an den Bundestag als Gesetzgeber und als demokratische Kontrollinstanz gestellt. Doch sowohl Parlamentarier als auch Regierungspolitiker wollen den Auflagen und Empfehlungen der obersten Verfassungsinstanz nicht ohne weiteres folgen. Trotz der vom Bundesverfassungsgericht auferlegten Verpflichtungen und Forderungen an den Bundestag wollen die Politiker in der EU-Politik am liebsten so weitermachen wie bisher, so ist aus den ersten Reaktionen und Äußerungen jedenfalls herauszulesen.

Das 150-seitige Urteil des Bundesverfassungsgerichtes war gerade verkündet und noch nicht ausgewertet, da riefen sich Regierungspolitiker der großen Koalition ebenso wie Parlamentarier der Bundestagsmehrheit sogleich jubelnd zum Sieger und die Kläger zu Verlierern aus - und die ihnen zugeneigten Medien verstärkten das große Aufatmen: Der umstrittene Lissabonner EU-Reformvertrag sei „rechtens" und die EU damit gerettet! Alles könne so weitergehen wie bisher, das Hinterzimmer-Vertragswerk sei mit dem Grundgesetz angeblich vereinbar. In Wirklichkeit haben weder die Parlamentarier noch die Staats- und Regierungschefs das Vertragsdokument von etlichen Hundert Seiten (mit 300 Verweisen auf 3000 Regelungen in verschiedenen anderen Verträgen) gelesen, weil es unlesbar ist. Eine vom EU-Parlamentsausschuss für Konstitutions- und Verfassungsangelegenheiten einstimmig geforderter Konsolidierungstext, also eine leicht lesbare Fassung des Vertragstextes, die von jedem Bürger verstanden werden kann, war von den Staats- und Regierungschefs nicht gewollt.

Obwohl der ursprüngliche Titel „EU-Verfassung" aus dem Vertragswerk gestrichen und dieses in den (weitgehend inhaltsgleichen) Lissabonner „EU-Reformvertrag" umgetauft wurde, wird in dieser EU-„Ersatzverfassung" weiterhin behauptet, dass die EU mit ihrem EU-Gerichtshof ein legitimiertes Verfassungssystem sei. Genau das aber haben die deutschen Verfassungsrichter verneint. Die Bundestagsabgeordneten wollten das alles gar nicht so genau wissen und auch nicht fein säuberlich unterscheiden. Jedenfalls hatten die Bundestagsfraktionen von SPD, CDU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen vor der Abstimmung zum Begleitgesetz einen Antrag der Linksfraktion auf Zugänglichkeit eines kompletten Gesetzesentwurfes mitsamt der konsolidierten Fassung des EU-Reformvertrages einmütig abgelehnt und die Antragsteller als „Europa-Gegner" bezeichnet.

Was daraufhin ohne jede Bürgerbeteiligung (und ohne Kenntnis des inhaltlichen Wortlauts des Hunderte Seiten umfassenden Vertragswerkes) vom ahnungslosen Bundestag blindlings durchgewunken worden war, was zuvor in Regierungshinterzimmern unter größter Geheimhaltung im Eiltempo umformuliert worden war – zu 90% ist der Reformvertrag inhaltsgleich mit dem von den Völkern in Frankreich und Niederlanden abgelehnten EU-Verfassungsvertrag – das erwies sich nun als ein gelungener, weil verfassungsrechtlich abgesegneter Staatstreich?

Europa der Kommissionen und Ministerräte statt Europa der Bürger?

Hat das Europa der Kommissionen, der Räte und Ministerräte über das Europa der Bürger damit gesiegt? Ist die schleichende Einführung des europäischen Bundesstaates durch die Hintertür ohne Bürgervotum und mit schrittweiser Entmachtung der deutschen Volksvertreter ein Sieg der Demokratie – oder eher vergleichbar mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933, wie der Staatsrechtler Prof. Dr. Murswiek den Lissabonner Reformvertrag nach seinem Rechtsgutachten in der Süddeutschen Zeitung vom 17. April verglich? Immerhin wurden bei der Abstimmung im Bundestag über den EU-Reformvertrag zugleich auch die Artikel 23, 45 und 93 des deutschen Grundgesetzes mit Zweidrittelmehrheit geändert, ohne zu wissen, wofür – allein im Vertrauen darauf, dass die EU schon den richtigen Weg einschlagen würde. Und die dem EU-Vertrag vorangestellte Grundrechte-Charta, auf die man die Vertragskritiker gerne verweist, kann von jedem Staat nach 5 Jahren durch einfache Regierungserklärung ohne Parlamentsbeschluss jederzeit gekündigt werden.

Sind die vor dem Verfassungsgericht klagenden Gegner einer solchen Entwicklung, von der linken Linkspartei bis zur rechten CSU, die ewig Gestrigen, die nationalistischen Europa-Gegner? Oder wie es andere Kommentatoren in den Medien vorsichtig andeuteten: Hängen auch die Verfassungsrichter einem überholten Demokratie- und Staatsmodell nach mit ihrer juristischen Grenzziehung „Bis hierhin und nicht weiter"? Sie halten die bisherigen Mitwirkungsrechte des deutschen Parlamentes für zu gering und beurteilten sie deshalb teilweise als verfassungswidrig. Vor Inkrafttreten des EU-Reformvertrages müssen erst die Mitwirkungsrechte von Bundestag und Bundesrat in Kraft sein.

Allerdings haben es die Verfassungsrichter nicht gewagt, einzelne (auch problematische) Kapitel des EU-Reformvertrages zu beanstanden - obwohl darin z.B. die im Grundgesetz verankerte Sozialverpflichtung des Eigentums in die uneingeschränkten Eigentumsverfügung umgekehrt wird, oder die unternehmerischen Freiheiten und der ungehinderte Finanz- und Kapitalverkehr Vorrang vor den sozialen Rechten erhalten. Aber die Richter haben in ihrer „Sternstunde des Bundesverfassungsgerichtes" klare Vorgaben für die verfassungskonforme Auslegung des Vertrages in problematischen Bereichen (wie etwa der Sozial-, Innen- und Sicherheitspolitik) gemacht. Eine grundgesetzwidrige Auslegung und Anwendung ist damit untersagt - ohne den Vertrag als Ganzes verfassungsgerichtlich zu stoppen.

Und ohne Zustimmung des Parlamentes kann kein deutscher Minister als Vertreter der Exekutive durch bloßes Handzeichen im EU-Ministerrat mal eben eigenmächtig Recht setzen, auch das wurde eindeutig klargestellt. Genau dagegen wehrten sich aber weinige Tage nach dem Urteil eine Reihe führender Politiker mit allerlei Argumenten - mit geringem Widerspruch einzelner Parlamentarier. Man muss die CSU in Bayern nicht mögen – aber sie hat nebst der Linkspartei am konsequentesten die Einbindung der Parlamente und der Bürger daraufhin gefordert und dazu auch den Konflikt mit der Kanzlerin im Wahlkampf nicht gescheut.

Die Volksvertreter im Parlament müssen aber auch ihre demokratischen Rechte und Pflichten wahrnehmen wollen, auf die sie bisher in Europa-.Angelegenheiten vielfach in einem Akt der Selbst-Entmündigung verzichtet haben – bis hin zum bloßen Durchwinken des Lissabon-Vertrages ohne rechtzeitige und ohne vollständige Vorlage - aus falsch verstandener Expertengläubigkeit in der EU-Politik und aus bedenklichem Demokratie-Verständnis. Selbst nach dem Spruch der Verfassungsrichter kam bei Parlamentariern Unmut auf über die zu erwartende Mehrarbeit und Mehrbelastung bei Erfüllung der Verfassungsvorgaben, die man am liebsten gleich wieder abschwächen würde. Es ist zu hoffen, dass im Herbst der nach dem 27. September neu gewählte Bundestag mit einer demokratischeren Einstellung an die Europafragen herangeht und endlich Abstimmungen der Bürgerinnen und Bürger in wichtigen Europa-Fragen zulässt durch die entsprechende Grundgesetzänderung..

Bedenkliche politische Reaktionen auf das Karlsruher Urteil

Die bisherigen Abgeordneten waren befangen in ihren Denkgebäuden: Muss nicht in einem modernen Europa zwangsläufig die „lupenreine Demokratie" von gestern der europäischen (Super-)Staatsräson weichen, wegen der übergeordneten Integrations- und Binnenmarktziele und der Militärmachtpläne? Ist das althergebrachte europäische Demokratie- und Sozialstaatsmodell damit nicht überholt? Lässt sich ein europäisches Staatsgebilde mit fast 500 Millionen Menschen nur zentralistisch und dirigistisch steuern? Diese heiklen Zukunftsfragen der abgängigen Demokratie wurden politisch nicht klar gestellt und nicht vertieft, die Demokratiefrage nicht im Sinne der Bürger beantwortet und die eigentliche Zielfrage „Europa wohin?" erneut verdrängt. Ein „anderes Europa" als das undemokratische Brüsseler Konglomerat scheint für all jene undenkbar, die immer schon ihre gerade praktizierte Politik für „alternativlos" erklären. Als Chance für Korrekturen in der Ausrichtung der Europapolitik wurde das Karlsruher Urteil nur durch die Linkspartei als Klägerin gesehen. Die klagende CSU verteidigte zuvorderst das wichtige Demokratieprinzip mit der Gewaltenteilung und das Subsidiaritätsprinzip –und ist hier den anderen demokratischen Parteien voraus, die in den Bayern eher EU-Skeptiker und damit sogleich „Gegner des Integrationsprozesses" wittern.

Mittlerweile sind immer mehr Politiker dabei, rechtzeitig vor den Bundestagsberatungen die Vorgaben aus Karlsruhe abschwächen oder teilweise ignorieren und nicht befolgen zu wollen. Allein der unnötig gesetzte Zeitdruck während der parlamentarischen Sommerpause lässt keine gründlichen Beratungen zu. Schon bei der Anhörung in Karlsruhe hatte Außenminister Steinmeier argumentiert, der Lissabonner Reformvertrag sei ohne Einschränkungen notwendig, um die „Handlungsfähigkeit der auf 27 Staaten angewachsene EU sicherzustellen". Mehr Demokratie gefährdet die Handlungsfähigkeit der Staats- und Regierungschefs und ihrer Ministerräte? Nach dem Richterspruch zeigte er sich erleichtert, dass der Lissabon-Vertrag nicht neu verhandelt werden müsse und ratifiziert werden könne. Für die Bundeskanzlerin Angela Merkel war nach dem Karlsruher Spruch die grundsätzliche Zustimmung zum EU-Reformvertrag, den sie seinerzeit als EU-Ratspräsidenten maßgeblich mit vorangetrieben hatte, das Wichtigste, weil der Vertrag damit „eine wichtige Hürde genommen" habe. Der Vertrag als Selbstzweck? Noch vor der Bundestagswahl solle das alte Parlament die erforderlichen Nachbesserungen zügig umsetzen.

Anhaltende öffentliche Diskussionen über europäische Demokratiefragen scheuen die Europapolitiker wie der „Teufel das Weihwasser". Es mangelt der EU und den Regeierungschefs an einem demokratischen Leitbild für Europa. Der noch amtierende EU-Präsident Barroso drängte sogleich auf eine „rasche Umsetzung" des Abkommens in Deutschland und begrüßte die angebliche „Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz". Der Vorsitzende des konstitutionellen Ausschusses im Europaparlament, Jo Leinen behauptete wahrheitswidrig und polemisch, der „Generalangriff der Kläger" sei gescheitert und der Vertrag zu Lissabon sei „zu 100% mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar"; deshalb sei der 30. Juni als Tag des Richterspruches „ein guter Tag für Europa". Und der Leiter der Europaprojekte der lobbyistisch einflussreichen Bertelsmann-Stiftung begrüßte das Urteil mit seiner richterlichen „Wortbombastik" als „ein Stück europäische Rechtsgeschichte," bei der es angeblich auch um das Thema „Souveränitätsverzicht" ginge.

Noch deutlicher wurde der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, der stellv. CDU-Bundesvorsitzende Jürgen Rüttgers: Das Demokratiedefizit der EU dürfe kein Hindernis für die „Vereinigten Staaten von Europa" sein; dafür sei der Vertrag von Lissabon nur ein Anfang. Er verband diese Forderung mit massiver Schelte am Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. Demokratie ist für Rüttgers also nachrangig, der in seinem Bundesland vor 2 Jahren auch die innerbetriebliche Demokratie der Personal- und Betriebsräte im öffentlichen Dienst per Gesetzesänderung drastisch eingeschränkt hatte, um Hürden gegen die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen zu beseitigen – ein Kernanliegen auch der EU mit ihrer EU-Dienstleistungsrichtlinie.

Auch der frühere CSU-Vorsitzende Theo Waigel hat vor überzogener EU-Kritik gewarnt, nachdem seine CSU-Kollegen gegen den Widerstand von Bundeskanzlerin Merkel im Juli eine stärkere Mitsprache von Bundestag und Bundesrat und mehr Bürgerbeteiligung in EU-Angelegenheiten im Sinne des Karlsruher Urteils forderten: Die Regierung könne laut Waigel bei EU-Verhandlungen nicht ständig zu Hause beim Parlament um Erlaubnis fragen. Von der Ablehnung eines „imperativen Mandats" war sogar die Rede. Mehr Demokratie ist also hinderlich für die Verhandlungen in den Regierungshinterzimmern? Die Exekutive soll durch die Legislative nicht behindert werden bei der Rechtsetzung – ein verfassungswidriger Rollentausch mit Aufhebung der Gewaltenteilung! Noch problemloser geht die Regierungsarbeit sicherlich in einer Diktatur vonstatten, wo jegliche parlamentarischen und damit öffentlichen Debatten sowie „Verzögerungen" unterbleiben.

Die demokratischen Legitimationsprobleme der EU

Selbst nach dem Desaster der Europa-Wahl vom 7. Juni wurde die demokratische Legitimationsfrage der EU gar nicht erst aufgeworfen: 43% Wahlbeteiligung in Deutschland und in Europa insgesamt reichen aus? Nur in 7 von 27 Mitgliedsstaaten lag die Wahlbeteiligung knapp über 50%; deutlich darüber nur wieder in Belgien und Luxemburg mit 90% oder Italien mit immerhin 65%. Die östlichen Staaten Tschechien, Polen, Rumänien oder Litauen dümpelten zwischen 21% und 28% Wahlbeteiligung, die Slowakei bei nur 19%. Und Frankreich, Großbritannien und Portugal (Heimatland des EU-Kommissionspräsidenten Barroso) erreichten gerade einmal 35% bis 37%, Spanien 44%.

Was wäre, wenn nur diejenigen Staaten in der EU verbleiben könnten, deren Wahlzuspruch bei über 50% liegt? Doch ist die Wahlenthaltung nicht durchgängig auf demokratisches Desinteresse zurückzuführen, sondern Umfragen zufolge mehrheitlich eine bewusste Wahlenthaltung der Menschen wegen der unzureichenden Einflussmöglichkeiten und der mangelnden Transparenz der Entscheidungsprozesse. Die EU darf keinesfalls den Umkehrschluss daraus ziehen, dass sie berechtigt sei, daraufhin demokratische Teilhabe zu entziehen und Demokratie als entbehrlich zu betrachten.

Wie weit darf die EU in das Leben der einzelnen Bürgerinnen und Bürger eingreifen ohne deren demokratische Einwirkungsmöglichkeit und ohne wirkliche demokratische Legitimation? Das weit verbreitete Unbehagen vieler Europäer an der undurchsichtigen Ausbreitung der EU und ihrer Institutionen, die das gesamte europäische Rechtsleben „von oben" vorgibt, ist verständlich: Die EU gebärdet sich in der Tat wie ein vormundschaftlicher Superstaat mit Selbstermächtigung - und die Nationalpolitiker der EU-Mitgliedsstaaten haben allmählich Gefallen an den Entscheidungswegen in Hinterzimmern ohne Kontrolle und Beauftragung durch Volk und Parlamente? Dem europäischen Integrationsgedanken und seiner Akzeptanz erweist man damit einen Bärendienst – und lernt trotz aller Rückschläge nicht dazu. Nach wie vor verträgt sich Demokratie offensichtlich nicht mit den Vorstellungen eines weiterhin neoliberal beeinflussten, allzuständigen und zentralistischen Einheits- und Wirtschaftsstaates, dessen heimliche Regierung die Lobbyisten sind. An mehr Demokratie und Transparenz hat man dort kein Interesse.

Was aber können die Kriterien und Maßstäbe sowie Verfahren und Schritte hin zu einer demokratischen EU sein, die sich bereits klammheimlich vom Staatenbund auf den noch ungeklärten Weg zu einem demokratischen Bundesstaat begeben möchte? Und wie kann der Staat künftig Entscheidungs- und Gestaltungsmacht wieder an die beteiligten Menschen zurückgeben, die eigenverantwortlich und dezentral ihre kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Belange mitbestimmen möchten? Was ist von dem Schlagwort eines „Europa der Regionen" übrig geblieben? Die Demokratie in Europa muss neu erfunden und wieder belebt werden, wenn das vereinigte Europa eine Zukunft haben soll. Europa wird entweder demokratisch sein, oder es wird zu Ende sein, kaum das es begonnen hat.

Wenn nur eines von 27 Mitgliedsstaaten in seiner Verfassung ein Referendum der Bevölkerung zu grundlegenden Verfassungs- und Reformfragen der EU zulässt - andere Staatsregierungen ein versprochenes freiwilliges Referendum dann lieber doch nicht durchführten wie in Großbritannien oder Dänemark oder Österreich, oder Frankreich sogar seine Nationalverfassung änderte, um das zugesagte Referendum zu unterbinden – dann ist es um die Demokratiefrage in Europa schlecht bestellt. Umfragen zufolge wäre der EU-Reformvertrag von Lissabon in vielen Mitgliedsstaaten am Votum der Bevölkerung gescheitert, wenn sie denn dazu gefragt würden. Und weil das eingeholte Bürgervotum in Irland, stellvertretend für die 480 Mio. EU-Bürger, mit 53% Ablehnung des EU-Reformvertrages ein den Regierenden nicht genehmes Ergebnis erbrachte und nur deshalb eine Wiederholung am 2. Oktober erfolgt, weil man sich (nach allerlei Drohungen und Zugeständnissen sowie mit massiver Einflussnahme auf die Meinungsbildung) nunmehr Zustimmung erhofft, dann wollen sich die Regierenden offenbar ein anderes, passendes Volk wählen.

Von Demokratieverständnis in Europa zeugt das jedenfalls nicht – dagegen ist die Oligarchie in Russland fast schon eine „lupenreine Demokratie". Was ist dann, wenn den Europa-Politikern das zweite Votum in Irland wieder nicht passt? Zwar stellen die knappen Umfragewerte (etwa 54% Zustimmung und 28% Ablehnung) und die aus der Wirtschaftskrise abgeleitete Stimmungswandel diesmal einen „Erfolg" in Aussicht. Doch auch bei der letzten Abstimmung waren die Regierenden sich bei noch deutlicheren Umfragewerten ihrer Sache sicher und wurden von der deutlichen Ablehnung (53%) dann überrascht. Allerdings schon einmal, bei der Ablehnung des früheren Nizza-Vertrages der EU durch die Iren mit 44% zu 46%, gelang dann im zweiten Anlauf mit verstärkter „Ja"-Kampagne die Umkehrung in eine Zustimmung von 63% zu 37%.

Auf einen solchen Effekt hoffen die EU-Politiker auch diesmal. Ihnen gehrt es nur um eine formale Legitimation, weniger um eine inhaltliche Akzeptanz bei der europäischen Bevölkerungsmehrheit. Schon die Vertrags-Ratifizierung durch die 26 Nationalparlamente hatte der EU-Kommissionspräsident im Vorfeld als eine „reine Formsache" bezeichnet – und sollte damit recht behalten. Die meisten Parlamente winkten den EU-Reformvertrag ohne Diskussion durch; lebhafte Parlamentsdebatten gab es nur in Österreich und Tschechien. Die deutschen Bundestagsabgeordneten blamierten sich bei einem Kurzinterview eines Fernsehsenders vor der Abstimmung zum EU-Reformvertrag (Zustimmungsgesetz) allesamt mit absoluter Unwissenheit auf die Frage, welche wichtigsten Kompetenzen des Bundestages nach ihrer Beschlussfassung auf das EU-Parlament übergehen würden. Sie wussten schlichtweg nicht, was sie beschlossen hatten – und zwar wurden Spitzenpolitiker befragt und keine „Hinterbänkler" (Die Stammelei unserer Volksvertreter ist im Internet bei youtube mitzuleiden…)

Nur mit einem erweiterten Demokratieverständnis hat Europa eine Zukunft

Das politische System der EU ist unter demokratischem Verständnis auf Abwegen, beginnend bei den Zuständigkeitsfragen und mangelnden Zuständigkeitsabgrenzungen, über die fragwürdigen Abstimmungsverfahren bis hin zum mangelnden Subsidiaritätsprinzip. Die demokratischen Defizite bei den EU-Organen mit ihrer Exekutivlastigkeit und mangelnden demokratischen Kontrolle, mit einem Pseudo-Parlament mit fehlenden Kernkompetenzen und einer zu mächtigen Kommission und einem zu mächtigen Außenkommissar, mit nichtöffentlichen Regierungszirkeln, mit einem nicht legitimierten Gerichtshof und mit unzureichender direkter Demokratie usw. bereiten allergrößtes Unbehagen. Das politische System der EU ist nicht wirklich demokratisch und bleibt weit hinter den demokratischen Standards und Verfassungsgrundsätzen der Mitgliedsstaaten zurück. Die Bürger als demokratische Akteure und das Volk als Souverän kommen in dem EU-System kaum vor.

In dem lesenswerten Buch „Europa nicht ohne uns!" von „Mehr Demokratie e.V. (vsa-Verlag Hamburg 2009) werden Auswege aus der demokratischen Misere der EU aufgezeigt, gemessen an demokratischen Kriterien, Zielen und Idealen. Eine verstärkte Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger, denen die Letztkontrolle über die Ausgestaltung der EU obliegen muss, ein demokratisches Institutionengefüge, ein demokratischer Konvent für Vertragsreformen, direkt-demokratische Verfahren einer mehrstufigen Volksgesetzgebung mit Bürgerbegehren und Referenden sowie eine dezentrale Zuständigkeitsverteilung mit regionaler Selbstbestimmung in einem Europa der Regionen werden nicht nur vorgeschlagen, sondern in ihrer Ausgestaltung konkret skizziert. Konkrete Vorschläge werden auch für die Demokratisierung der EU-Institutionen mit klarer Gewaltenteilung unterbreitet.

In dieser Vision einer demokratischen EU geht alle Staatsgewalt wieder vom Volke aus, während in der EU bisher so gehandelt wird, als ginge „alle Gefahr vom Volke aus". In dem Konzept zur Demokratisierung der EU sind die Bürger nicht länger ohnmächtige Zuschauer, sondern handelnde Akteure. Im Zentrum der EU stehen dabei die Bürgerinnen und Bürger und die von ihnen erteilte Legitimation europäischer Politik. Ein demokratisches Europa ohne seine Bürgerinnen und Bürger ist undenkbar – denn wir sind Europa und Europa wird nichts ohne uns! Das muss die Botschaft sein, wenn wir nach dem Urteil des Verfassungsgerichtes die EU aus der demokratischen Dauerkrise herausführen wollen, weil uns der Europa-Gedanke und das Europa-Projekt zu wichtig sind, als dass wir es einem kleinen demokratie-scheuen Regierungszirkel oder wirtschaftlichen Interessengruppen überlassen, die von Demokratie nichts halten. Europa ohne Demokratie hat keine Zukunft – das ist im Umkehrschluss eine Aufforderung an alle Demokraten, für mehr Demokratie zu kämpfen. „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum atmen!" (Gorbatschow). Europa – nicht ohne uns!