Wilhelm Neurohr

  • 5-wöchige eigene Beobachtungen vor dem Referendum in Frankreich:
  • Zahlreiche Veranstaltungen der 900 Bürgerkomitees
  • „Für einen „Elektroschock“ bei den politischen und wirtschaftlichen Eliten sorgen“
  • Das klare NEIN zur Verfassung als die Voraussetzung und Perspektive für ein solidarisches Europa von unten - als der eigentliche Gründungsakt für Europa
  • Hinter dem NEIN erkennbar: Die Sehnsucht nach einem anderen Europa:
  • basisdemokratisch und zivil
  • selbstverwaltungsfreundlich
  • sozial und solidarisch
  • nachhaltig und zukunftsfähig
  • tolerant und spirituell
  • Reichen aber diese Schlagworte aus?

> Wie sehen die zivilgesellschaftlichen Alternativen hinter dem NEIN konkret aus?

>Französische Zivilgesellschaft hat erkannt: jetzt folgt die eigentliche Arbeit:

  • Die Suche nach dem Sinn und Zweck eines vereinten Europa
  • Ein Klärungsprozess ohne Zeitdruck: Was ist gewollt? Innehalten und nachdenken!
  • Eine große Debatte ist darüber zu eröffnen!

Das NEIN verschafft uns „sozialen Sauerstoff“, so formulierte es Josè Bovè von attac Frankreich. Der nun fälligen neuen Verfassungsdiskussion sollte zunächst eine Leitbilddiskussion vorausgehen oder damit einhergehen! Als notwendige Klärung, was wir in eine korrigierte Verfassung hineinschreiben wollen! Wenn wir Europa von der Zukunft her denken, weniger von der Vergangenheit und Gegenwart, und nicht aus der Sicht der alten Staatsmänner und Wirtschaftsmagnaten, sondern aus der Sicht der Zivilgesellschaft, dann stellen sich doch folgende Leitfragen:

  • Welchem Leitbild folgt Europa?
  • Was ist das gemeinsame Wollen für Europa?
  • Was sind unsere Motive und Anliegen? Wovon lassen wir uns leiten in Europa?
  • Womit identifizieren wir Europäer uns?
  • Welches Menschenbild legen wir Europäer zugrunde?
  • Haben wir eine Vision von Europa? Ein Bild von der Zukunft?
  • Was ist die Idee Europas und was sind seine Ideale?
  • Wie ist die Zielrichtung und Orientierung für Europa?
  • Was kann und soll Europa sein?
  • Was wollen die Menschen in Europa wirklich?
  • In welchem Europa wollen wir leben?
  • Wie wollen wir in Europa zusammenleben?
  • Wie ist unser Rechtsempfinden und -bewußtsein?
  • Wie können neue, tragende Sozialformen in Europa aussehen?
  • Wie können wir den eigentlichen Sinn und Zweck des Wirtschaftens in Europa neu entdecken?

Gibt es dazu ein Vorstellungsvermögen der bald 371 Mio. EU-Bürger?

Und gibt es Vernetzungen und Organisationsformen und offene Räume für solche grundlegenden Diskussionen und Diskurse? Wie lassen sich diese herstellen? In Regionalforen, Bürgerkomitees, regionalen Arekliers oder Zukunftswerkstätten? Welche Europa-Idee lebt also in den Köpfen und Herzen der Menschen - eine Europa-Idee, die auch für nachfolgende Generationen tauglich ist und den Enthusiasmus der Jugend für Europa anspornt? Und wie kann die Europa-Idee der Zivilgesellschaft zum Durchbruch gelangen?

Das ganze läßt sich auch zuspitzen auf die Frage: Wollen wir ein kommerzielles Europa oder ein kulturelles Europa? In Europa tobt gewissermaßen der „Entscheidungskampf zwischen Kultur und Kommerz“ (Jeremy Rifkin, inzwischen Verfassungsbefürworter). Die soziale Neugestaltung Europas ist der zentrale Vorgang des 21. Jahrhunderts für Europa und die Welt - zugleich auch eine spirituelle Herausforderung. Wie ist nun die Ausgangssituation für eine zukunftsweisende Leitbilddiskussion?

  • Das politische und soziale System der Marktradikalen steht erkennbar kurz vor dem Kollaps.
  • Europa erlebt Symptome des Zusammenbrechens der bisherigen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Ordnung - jetzt ist etwas Neues angesagt, was nur von der Zivilgesellschaft ausgehen kann.

Mit der neoliberal geprägten EU-Verfassung würde dagegen ein Gesellschaftsbild und Menschenbild verfestigt:

  • in dem man den Menschen in Europa ihr soziale Wesen austreiben will,
  • in dem man den Egoismus zur Pflicht und Norm erklärt - und damit Menschen spaltet und ausgrenzt statt zusammenführt,
  • in dem, die rechtliche Gleichheit oder Gleichstellung der Menschen ausgehebelt werden soll - und der Sieg der Stärkeren über die Schwächeren die Ungleichheit befördert,
  • in dem die geistige Freiheit durch ein alleingültiges neoliberales Einheitsdenken abgelöst werden soll, das für alternativlos erklärt wird,
  • in dem in fundamentalistischer Manier ein einziges Wirtschaftsprinzip gelten soll, eine Art Götzendienst in der Anbetung des Mammons,
  • in dem demokratische und soziale Grundprinzipien des Zusammenlebens der Menschen als Sozialromantik denunziert werden,
  • in dem öffentliche und private, kommerzielle Intersssen gleichgesetzt werden - und damit die öffentliche Daseinsvorsorge in Mißkredit gebracht und abgeschafft wird,
  • in dem der Politik nur noch eine rein dienende Funktion für die Wirtschaftsinteresen zugewiesen wird mit dem Effekt einer Art Wirtschaftsdikatur, ohne demokratische Legitimation.

Diese neoliberale Denkweise, die sich im europäischen Wirtschaftsleben, im Staatswesen, im Militärischen und in der EU-Verfassung niederschlägt, höhlt also in ihrer Konsequenz die allgemeinen und individuellen Menschenrechte aus!

Bei dem Ringen um ein europäische Leitbild ist deshalb folgendes zu verdeutlichen:

Der vorliegende umstrittene EU-Verfassungstext:

  • fällt weit hinter die Ideale der französichen Revolution von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zurück - (damit ist viel ausgesagt darüber, in welcher Verfassung sich die Menschen befinden),
  • er ist des Europäischen Kulturraumes nicht würdig

- eines Kulturraumes mit großer Geistesgeschichte , Philosophiegeschichte, Kulturgeschichte und Kunstgeschichte - aus denen humanitäre Gesinnung hervorging und die einen Zusammenklang von Wissenschaft, Kunst und Sozialem bewirkten.

  • Statt das neue Europa an dieses positive Erbe der Vergangenheit anzuknüpfen, läuft es Gefahr, die negativen seiten des alten Europa in die Zukunft zu überführen:
  • Imperialismus, Militarismus, Nationalismus und Chauvinismus im internationalen Standort-Konkurrenzkampf.

Bei allen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Konzepten der Eliten von oben mangelt es an einem offenen, breiten gesellschaftlichen Diskurs über die Aufgaben und Ziele Europas und seine Rolle in der Welt.

  • Europa ist undenkbar als Superstaat, Supernation oder Supermacht, sondern es hat eine ausgleichende und friedensstiftende Funktion in der Welt, das gilt auch und gerade für den sozialen Frieden und Ausgleich.

Deshalb ist ein anderes Europa nicht nur möglich, sondern unbedingt nötig!

Eine nachhaltige Zukunftsorientierung Europas erfordert ein intensives Nachdenken:

  • über das Erfordernis einer Ethik der Kooperation statt der Konkurrenz,
  • über den Ausbau statt Abbau der indviduellen Menschenrechte, damit individuelle Freiheit zu gleichzeitiger Verantwortung für die Gemeinschaft beitragen kann,
  • über die Rolle der Zivilgesellschaft und über die schrittweise Ablösung des althergebrachten, in der inneren Erosion befindlichen Parteienwesens und Parteiendenkens aus dem 19. und 20. Jahrhundert,
  • über die Frage, wie eine kulturelle Erneuerung Europas aussehen kann; dazu gehört auch eine neue Politikkultur und eine veränderte Arbeitskultur, einen andere Beteiligungs- und Umgangskultur, aber auch eine neue Finanz- und Kapitalordnung usw.

Viele Ideen, Initiativen und Alternativen sind ja auf diesem Sozialforum virulent und müssen teilweise nur zusammengebracht werden zu konsensfähigen Leitideen. Wir brauchen also eine Reflexionsphase, eine Diskussionsphase und dann eine Überarbeitungsphase für die Verfassung mit neuen Referenden.. Europa als Kultur-, Staats- und Wirtschaftsgemeinschaft ist eigentlich weniger eine politische, geografische, wirtschaftliche oder militärische Notwendigkeit - sondern vielmehr eine soziale und kulturelle Herausforderung.

In einem Diskussionsbeitrag für ein europäisches Leitbild habe ich kürzlich 7 Thesen zur nachhaltigen Zukunft Europas formuliert, die auch schriftlich vorliegen und ausliegen. Diese sind nicht entlang des Verfassungstextes entwickelt, könnten aber vielleicht die Verfassungsdiskussion bereichern, indem sie einen Schritt vorher im Klärungsprozess ansetzen und einige Grundvoraussetzungen aufzeigen. Vor allem ist künftig zu differenzieren, was Sache des Staates, Sache der Wirtschaft und Angelegenheit der Zivilgesellschaft ist. Daraus können dann Grundrechte abgeleitet werden.

In den 7 Thesen mit jeweils 5 Leitsätzen sind folgende Themenfelder umfassend angesprochen:

  • These 1) handelt von der geistig-kulturellen Orientierung Europas als Wertegemeinschaft
  • These2) befasst sich mit der Zukunftsorientierung Europas und seinen zivilgesellschaftlichen Grundlagen
  • These 3) thematisiert die Anknüpfung an die Vergangenheit Europas und zu deren Bewältigung und Verwandlung
  • These 4) behandelt die soziale, wirtschaftliche und demokratische Gestaltung Europas,
  • These 5) befasst sich mit der zukünftigen Rolle Europas in der Welt
  • These 6) zeigt die einzelnen Gestaltungsfelder eines nachhaltigen Europa auf
  • These 7) behandelt schließlich den gemeinsamen Gestaltungsprozess der europäischen Verfassung.

Die Arbeitsthesen sollen hier im Einzelnen jetzt nicht vertieft werden. Weitere Orientierungen bieten auch die 10 Prinzipien für nachhaltige Gesellschaften, die vom IFG (vom Internationalen Forum für Globalisierung) zusammengestellt wurden.

Sie reichen von

  • Neuer Demokratie und Subsidiarität
  • über ökologische Nachhaltigkeit, Vielfalt und Wahrung gemeinsamen Erbes
  • bis zu Menschenrechten und Fragen der Arbeitsplätze, des Lebensunterhaltes, der Versorgung und Chancengerechtigkeit sowie der Vorsorge.

Mit dem Aufgreifen dieser Themenfelder kann hier und heute auf dem Erfurter Forum begonnen werden. Nachdem wir Deutschen mit Verweis auf die Verfassung für unmündig erklärt wurden, per Referendum über die EU-Verfassung abstimmen zu dürfen, laßt uns dafür in Deutschland die Europäische Leitbilddiskussion beginnen und anstoßen. Entwickeln wir ein kulturelles und menschengerechtes Gegenbild zu dem kommerziellen Europa der sozialen Zerstörung menschlichen Zusammenlebens!. Für ein anderes Europa, das möglich und nötig ist, wenn wir es wollen und von unten zivilgesellschaftlich gestalten.