Wilhelm Neurohr

Steht Europa wirk­lich vor einem Scher­ben­hau­fen, nach­dem in Irland die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger den hef­tig umstrit­te­nen EU-Ver­trag von Lis­sa­bon abge­lehnt haben? Oder könnte sich gerade dadurch erst eine echte Chance erge­ben, die Idee und Vision von einem gemein­sa­men Europa wirk­lich zu klä­ren und zu kon­kre­ti­sie­ren – anstatt einen fal­schen Weg wei­ter zu ver­fol­gen? Sie­ben The­sen zu einer nach­hal­ti­gen Zukunft Euro­pas sol­len zum Nach­den­ken und Dis­ku­tie­ren einladen:

Der Traum von Europa - Inne­hal­ten und Nach­den­ken

Der Traum von Europa ist nicht aus­ge­träumt. Aber er muss her­auf geho­ben wer­den ins wache Bewusst­sein. Sonst dro­hen Euro­pas Ideale unter­zu­ge­hen in einem öko­no­mi­schen Neo­li­be­ra­lis­mus, wie er den Ver­fas­sungs­ver­trag genauso prägt wie den Lissabon-Vertrag und damit die gras­sie­rende Europa-Müdigkeit ver­stärkt. Der Friede war und ist Euro­pas schöns­ter Traum - nach dem Ende des Kal­ten Krie­ges vor allem der des sozia­len Frie­dens: Es soll kein gna­den­lo­ser Über­le­bens­kampf - jeder gegen jeden - herr­schen, in dem sich die Macht des jeweils Stär­ke­ren durch­setzt. Jetzt ist wahr­haft euro­päi­sches Den­ken ange­sagt, wür­dig der Zivi­li­sa­tion und Kul­tur des Kon­ti­nents. Soll der Traum von Europa Wirk­lich­keit wer­den, müs­sen wir alle als gemein­schafts­fä­hige Indi­vi­duen diese andere Wirk­lich­keit schaffen.

Das Nein zum man­gel­haf­ten Lissabon-Vertrag ist - wie auch schon das Nein zur Ver­fas­sung vor eini­gen Jah­ren – Anlass, um inne zu hal­ten und sich Zeit zur Besin­nung zu neh­men, und um frei von Zeit­druck, mit dem mäch­tige Inter­es­sen diese Besin­nung ver­hin­dern wol­len, zu fra­gen, wo der Kor­rek­tur­be­darf für soziale Fehl­ent­wick­lun­gen liegt – ob es nicht einer grund­le­gen­den Alter­na­tive zum bis­her ein­ge­schla­ge­nen Weg bedarf?

Um andere Wege zu fin­den, bedarf es aller­dings eines Kom­pas­ses: gemein­sam getra­gene Visio­nen, Leit­bil­der und Ziele. Die Frage ist: Was wol­len wir Euro­päe­rin­nen und Euro­päer wirk­lich? Die über­große Mehr­heit lehnt nicht die euro­päi­sche Inte­gra­tion als sol­che ab. Wohl aber gerät die gegen­wär­tige Rich­tung, in die die Euro­päi­sche Union treibt, zuneh­mend in die Kritik.

Europa, das sind nicht nur Brüs­se­ler Büro­kra­tie, der „von oben” ent­wi­ckelte Ver­fas­sungs­ver­trag, die Lissabon-Strategie, kurz: die gesamte Agenda, die maß­geb­lich von den Lob­by­is­ten der Kon­zerne bestimmt wird. Neben die­ser Agenda, die sich auf die Kon­kur­renz­fä­hig­keit im Welt­mart sowie welt­po­li­ti­sche, auch auf mili­tä­ri­sche Macht gestützte Ein­fluss­nahme im Wett­streit der Kon­ti­nente rich­tet, gibt es auch noch ein ande­res Europa.

Europa von unten - eine Her­aus­for­de­rung der Zivil­ge­sell­schaft

Zivil­ge­sell­schaft­li­che Initia­ti­ven, Pro­jekte und Alter­na­tiv­kon­zepte beein­flus­sen den Wer­de­gang des ver­ein­ten Europa auf ihre Weise von unten. Was die Men­schen in Europa gemein­sam wol­len, wel­che Vor­stel­lun­gen sie von einem ver­ein­ten Europa haben und wie Europa seine Zukunft nach­hal­tig gestal­tet, ist bis­her nicht wirk­lich unter brei­ter Betei­li­gung der Bevöl­ke­rung dis­ku­tiert wor­den - obwohl es von den Men­schen abhängt, ob das Pro­jekt Europa gelingt.

Was über Jahr­zehnte gewach­sen ist - von der Mon­tan­union über die Euro­päi­sche Wirt­schafts­ge­mein­schaft nun zur poli­ti­schen Union - bedarf zunächst einer kul­tu­rel­len und zivi­li­sa­to­ri­schen Per­spek­tive, als die eigent­li­che, tra­gende Grund­lage für einen Eini­gungs­pro­zess. Von einer zukunfts­fä­hi­gen Euro­pa­po­li­tik wer­den Zukunfts­ent­würfe und Gestal­tungs­wil­len erwar­tet und nicht nur das Exe­ku­tie­ren von Sachzwängen.

Bei allen poli­ti­schen, öko­no­mi­schen und mili­tä­ri­schen Kon­zep­ten und Vor­ga­ben „von oben” man­gelt es an einem offe­nen Dis­kurs und gesell­schaft­li­chen Kon­sens über die eigent­li­che, geistig-kulturelle Auf­gabe und Ziel­rich­tung Euro­pas – über sei­nen sozia­len Auf­trag, seine grund­le­gende Idee und Vision sowie über die Rolle der Zivil­ge­sell­schaft. Mit den nach­fol­gen­den The­sen wird der Ver­such unter­nom­men, Ansätze für eine Leit­bild­dis­kus­sion über das gemein­same Wol­len in Europa zu geben. Europa braucht ein Bild sei­ner Zukunft. Es geht nicht darum, um jeden Preis eine ganz neue oder beson­dere Idee für Europa zu suchen, son­dern die vor­han­de­nen und geschicht­lich errun­ge­nen Ideen zusam­men­klin­gen zu las­sen und umzusetzen.

In Zei­ten der Glo­ba­li­sie­rung ist Europa gefor­dert, seine Grund­ord­nung nicht nur an sei­nen eige­nen Bedürf­nis­sen zu mes­sen, son­dern durch seine eigene Sozi­al­ge­stalt zugleich zu einer nach­hal­ti­gen Zukunft der Mensch­heit bei­zu­tra­gen. Da es sich um Über­le­gun­gen für ein Leit­bild han­delt, wer­den an vie­len Stel­len Zustände in der Gegen­warts­form beschrie­ben, die aller­dings erst noch erreicht wer­den müs­sen. Sol­che For­mu­lie­run­gen sind also nicht als Behaup­tun­gen über schon voll­stän­dig erreichte Befä­hi­gun­gen zu verstehen.

These 1: Zur geistig-kulturellen Ori­en­tie­rung Euro­pas als Wer­te­ge­mein­schaft

Europa ist undenk­bar als Superna­tion oder Super­macht, auch nicht als blo­ßer Bin­nen­markt. Häu­fig wird gesagt, Europa sei eine Wer­te­ge­mein­schaft. Was aber ist das? Rich­tig ist: Die Iden­ti­tät Euro­pas wur­zelt in einem gemein­sa­men kul­tu­rel­len Erbe und drückt sich in Bestre­bun­gen für die Zukunft aus. Für die Zukunft braucht Europa eine Ethik der Koope­ra­tion nach innen und außen. Europa ist ein Garant für die all­täg­li­che Ver­wirk­li­chung der indi­vi­du­el­len Men­schen­rechte und für die Frei­heit des gemein­schafts­fä­hi­gen Indi­vi­du­ums.
Europa hat seine Wur­zeln im Huma­nis­mus, im Chris­ten­tum und in der Aufklärung.

Der Wert der ein­zel­nen mensch­li­chen Per­sön­lich­keit ist auf die­sem Kon­ti­nent zum ers­ten Mal ent­deckt wor­den, in den Men­schen­rech­ten ist die Urteils- und Hand­lungs­frei­heit des Ein­zel­nen zur Grund­lage der sozia­len Ord­nung erklärt wor­den. Europa, das ist ein neues Ver­ständ­nis des Sozia­len für die Mensch­heits­zu­kunft: Die Sym­biose von per­sön­li­cher Frei­heit und Ver­ant­wor­tung für die Gemeinschaft.

Doch der geschil­derte Befrei­ungs­pro­zess ist nicht voll­en­det, solange seine Schat­ten­sei­ten - Mate­ria­lis­mus und Ego­is­mus - nicht bewäl­tigt sind. Die Men­schen in den nicht­eu­ro­päi­schen Kul­tu­ren haben in der Glo­ba­li­sie­rung - wie sie von Europa aus­ge­gan­gen ist - vor allem die Schat­ten­sei­ten erle­ben müs­sen. Solange Europa seine Werte von Frei­heit, Gleich­heit und Brü­der­lich­keit weder zur kon­se­quen­ten Grund­lage sei­ner eige­nen sozia­len Ord­nung, noch sei­nes Han­delns in der Welt macht, ver­fehlt es seine eigene Iden­ti­tät und die sie tra­gen­den Werte. Weder Tur­bo­ka­pi­ta­lis­mus noch Kol­lek­ti­vis­mus ver­tra­gen sich mit ihnen.

Ein Europa, das sich zu den Rech­ten aller Men­schen bekennt, ist dazu auf­ge­for­dert, die Welt von ver­schie­de­nen Sei­ten anzu­schauen und die unter­schied­li­chen Inter­es­sen der Men­schen und Völ­ker aus­glei­chen zu hel­fen - ein kos­mo­po­li­ti­scher, uni­ver­sel­ler und ethisch-moralischer Auftrag.

Weil Europa auf die kul­tur­schöp­fe­ri­sche Kraft der ein­zel­nen mensch­li­chen Indi­vi­dua­li­tät bauen muss, darf seine Gestal­tung nicht ein­zig oder vor­ran­gig durch Öko­no­mie und eine sich an ihr ori­en­tie­rende Poli­tik erfol­gen. Die Welt erwar­tet von Europa vor allem kul­tu­relle Erneue­rungs­im­pulse - neben einer Poli­tik, die Gren­zen überwindet.

Aus dem Gesag­ten ergibt sich, dass die Wer­te­ge­mein­schaft, von der die Rede ist, gerade nicht das kol­lek­tive Aus­le­ben beson­de­rer euro­päi­scher Tugen­den mei­nen darf. Die Werte von Frei­heit, Gleich­heit und Geschwis­ter­lich­keit sind gerade keine, die das Han­deln kol­lek­tiv prä­gen. Viel­mehr schaf­fen sie den Raum, indem indi­vi­du­ell errun­gene Ethik und indi­vi­du­el­les Han­deln eines jeden Ein­zel­nen das Gemein­schafts­le­ben berei­chert: Europa hat keine Mis­sion – außer der, den sozia­len Raum zu schaf­fen, in dem jeder Ein­zelne seine indi­vi­du­elle Mis­sion fin­den kann. An diese Grund­über­le­gun­gen lasse sich eine Reihe kon­kre­te­rer Leit­sätze anschließen:

1.1. Europa ist über­all, wenn es in den Köp­fen und Her­zen der Men­schen als etwas Posi­ti­ves für die Völ­ker­ver­stän­di­gung wirk­sam wird. Die Zukunfts­auf­gabe Euro­pas ist eine Mensch­heits­auf­gabe für die ganze Welt, aber keine Mensch­heits­be­glü­ckung durch eine selbst ernannte Elite. Europa ist mehr als ein blo­ßer Wirt­schafts­stand­ort. Nicht öko­no­mi­scher Wett­be­werb und admi­nis­tra­tive Ver­gleich­bar­keit kön­nen im Vor­der­grund ste­hen, son­dern kul­tu­relle und ethi­sche Krea­ti­vi­tät. Europa stif­tet Frie­den zwi­schen den Völ­kern und Men­schen, auf der Grund­lage des sozia­len Friedens.

1.2. Europa ist weni­ger eine öko­no­mi­sche, poli­ti­sche oder geo­gra­fi­sche, geschweige denn eine mili­tä­ri­sche Not­wen­dig­keit. Es ist viel­mehr eine nach­hal­tige Ent­wick­lungs­auf­gabe für die Zukunft - Schau­platz für Neues in der Welt. Es geht um die Form und Qua­li­tät des Zusam­men­le­bens von mor­gen, in der nach­ka­pi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft. Es han­delt sich um eine Gemein­schafts­auf­gabe, an der alle gleich­be­rech­tigt zu betei­li­gen sind, um ihre indi­vi­du­el­len Wert­hal­tun­gen mit ein­brin­gen und ihre sozia­len Fähig­kei­ten der Gemein­schaft zur Ver­fü­gung stel­len zu können.

1.3. Zu den neu errun­gen Wer­ten Euro­pas gehö­ren soziale Gerech­tig­keit, Demo­kra­tie, indi­vi­du­elle Frei­heit, Soli­da­ri­tät, Tren­nung von Kir­che und Staat, eth­ni­sche und reli­giöse Tole­ranz, Ratio­na­li­tät und Spi­ri­tua­li­tät, Prä­gung von Frie­dens­ge­dan­ken und Anlei­tung zur Frie­dens­fä­hig­keit, Ach­tung vor der Natur und Umwelt sowie Mit­leid für lebende Wesen und Anteil­nahme an deren Sor­gen, Nöten und Schicksal.

1.4. Ein zukunfts­fä­hi­ges Europa der Nach­hal­tig­keit gestal­tet sich aus einer neuen zivil­ge­sell­schaft­li­chen Kul­tur mit indi­vi­du­el­len und gemein­schaft­li­chen Wert­hal­tun­gen, an der alle Men­schen, Grup­pen und Völ­ker betei­ligt wer­den. Wie die Men­schen mit­ein­an­der umge­hen, die Umgangs­kul­tur, ist ent­schei­dend. Europa stellt sich ganz neu der kul­tu­rel­len Frage aus sei­ner Völ­ker­viel­falt und sei­nem geis­ti­gen Reich­tum der ein­zel­nen Menschen.

1.5. Etwas Neues und Zukunfts­fä­hi­ges kann im politisch-sozialen und wirt­schaft­li­chen Leben Euro­pas nur ent­ste­hen, wenn die­ses aus dem geistig-kulturellen, dem künst­le­ri­schen und spi­ri­tu­el­len Bereich genährt und durch­drun­gen wird. Das poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Leben in Europa kann von den geistig-kulturellen Bedürf­nis­sen und Betä­ti­gun­gen der Men­schen nicht abge­kop­pelt wer­den. Aus der geis­ti­gen Betä­ti­gung wird für die Men­schen in Europa ein ethi­scher Indi­vi­dua­lis­mus im Sozia­len lebens­fä­hig, indem die indi­vi­du­elle ethisch-moralische Ver­hal­tens­weise der Ein­zel­nen inner­halb der Gemein­schaft zu einer sozia­len Gesamt­ent­wick­lung bei­trägt. Darum sind Erzie­hung und Bil­dung in Frei­heit das höchste Gut in Europa, frei von poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Ein­flüs­sen und Interessen.

These 2: Zur Zukunfts­ori­en­tie­rung Euro­pas und zu sei­nen zivil­ge­sell­schaft­li­chen Grund­la­gen

Das neue Europa muss aus der Zukunft gestal­tet wer­den, nicht aus der Ver­gan­gen­heit: Europa ist etwas Wer­den­des, nicht etwas Voll­en­de­tes. Es ist des­halb ein Europa für die junge Gene­ra­tion mit den in ihr leben­den Bestre­bun­gen nach einer spi­ri­tu­el­len und sozia­len Zukunft. Europa ist nicht das der alten Staats­män­ner und Wirtschaftsmagnaten.

Wir brau­chen eine leben­dige Europa-Idee in den Köp­fen und Her­zen der Men­schen, damit aus dem Eini­gungs­pro­zess des 21. Jahr­hun­derts her­aus spä­ter etwas ver­erbt wer­den kann an nach­fol­gende Gene­ra­tio­nen. Europa braucht den Enthu­si­as­mus der Jugend, sonst wird es ein Pro­jekt der Alten. Die Hoff­nun­gen der Welt grün­den auf eine neue Gene­ra­tion von Euro­pä­ern mit einem Stre­ben nach einem bes­se­ren Mor­gen für alle Men­schen. Alternde Gesell­schaf­ten kön­nen die Zukunfts­pro­bleme nicht meistern.

Das neue Europa ist mehr als ein Staa­ten­bund oder ein öko­no­mi­sches Geflecht von Inter­es­sen. Es ist ein sozia­les und kul­tu­rel­les Netz­werk von zukunfts­wil­li­gen Men­schen in sei­ner Mitte, in sei­nem Wes­ten, Osten, Nor­den und Süden. Die­ses dif­fe­ren­zierte Europa der Ein­heit in der Viel­falt muss zivil­ge­sell­schaft­lich gestal­tungs­fä­hig blei­ben, damit die Jugend ihr Europa in offe­nen Betei­li­gungs­pro­zes­sen schaf­fen kann. Europa muss vor­be­rei­tet sein auf die gro­ßen Ver­än­de­run­gen, die aus dem zivil­ge­sell­schaft­li­chen Bereich ent­ste­hen, aus dem Mit­ein­an­der vie­ler Menschen.

Das Europa der Zukunft ist ein geis­ti­ger Kon­ti­nent der Ent­wick­lung und Mensch­wer­dung, ein welt­of­fe­ner Kon­ti­nent der Welt­bür­ger von mor­gen. Das Europa der akti­ven Bür­ger­ge­sell­schaft ist ein zivil­ge­sell­schaft­li­cher Gestal­tungs­raum für Eigen­in­itia­tive und zur Ver­wirk­li­chung der indi­vi­du­el­len Men­schen­rechte zuguns­ten der gesam­ten Mensch­heit. Europa wird in Zukunft unter­schei­den ler­nen, was Sache des Staa­tes, Sache der Wirt­schaft und was Ange­le­gen­heit der Zivil­ge­sell­schaft ist.

2.1. Wir brau­chen kein Europa der Büro­kra­ten oder Tech­no­kra­ten, kein nor­mier­tes Europa. Die Euro­päi­sche Union hat bis­her an kei­ner Stelle neue, tra­gende Sozi­al­for­men ent­wi­ckelt. Die zukunfts­tra­gen­den Kräfte Euro­pas sind nir­gendwo anders zu fin­den als in jeder ein­zel­nen Indi­vi­dua­li­tät, die sich als gemein­schafts­fä­hig erweist. Indi­vi­du­elle Frei­heit ist des­halb das höchste Gut in einem zukunfts­fä­hi­gen Europa, in dem indi­vi­du­el­len Men­schen­rechte den höchs­ten Stel­len­wert haben und all­täg­lich gelebt wer­den - gerade auch im euro­päi­schen Wirt­schafts­le­ben, das die Men­schen­rechte viel­fach aus­blen­det oder igno­riert. Europa braucht des­halb zur Gewähr­leis­tung der all­ge­mei­nen Men­schen­rechte einen funk­ti­ons­fä­hi­gen öffent­li­chen Sek­tor der Daseins­vor­sorge, frei von kom­mer­zi­el­len Inter­es­sen. Frei­heits­rechte hän­gen ohne Sozi­al­rechte in der Luft.

2.2. Das neue Europa lebt von der Ein­heit in der Viel­falt, nicht von der Ver­ein­heit­li­chung. Europa ver­trägt kei­nen Zen­tra­lis­mus mit einem all­zu­stän­di­gen Ein­heits­staat, son­dern ist nur ent­wick­lungs­fä­hig von unten als ein Europa der Regio­nen in all ihrer Dif­fe­ren­ziert­heit. Das ver­ei­nigte Europa ist der Prüf­stein und die Bewäh­rungs­probe für die all­täg­li­che Ver­wirk­li­chung der sozia­len und kul­tu­rel­len Bedürf­nisse und damit der all­ge­mei­nen Men­schen­rechte. Das neue Europa lebt von den Inter­es­sen der Men­schen für­ein­an­der, im Han­deln mit­ein­an­der, in den Men­schen­be­geg­nun­gen über alle Gren­zen hinweg.

2.3. Europa ist vor allem das Europa der akti­ven Bür­ger­ge­sell­schaft - ein kul­tu­rel­ler Lebens- und Schick­sals­raum in der Mitte der Welt für zivil­ge­sell­schaft­li­che Gestal­tungs­räume und Eigen­in­itia­tive zuguns­ten der gesam­ten Mensch­heit. Das junge Europa hat sich weni­ger durch die offi­zi­elle Poli­tik bewegt als viel­mehr ent­schei­dend durch die Bür­ger­be­we­gun­gen: Frauen-, Friedens- und Frei­heits­be­we­gun­gen, Demokratie- und Umwelt­be­we­gun­gen, soziale Bewe­gun­gen - auch ein Europa fried­li­cher Revo­lu­tio­nen im Osten und Erneue­run­gen wie der Perestro­jka. Nicht Insti­tu­tio­nen, Gesetze oder Tra­di­tio­nen ver­hel­fen zum Auf­bruch in das zukünf­tige Europa, son­dern seine frie­dens­fä­hi­gen und sozial kom­pe­ten­ten Men­schen sind zur Gestal­tung her­aus­ge­for­dert und bereit, als freie Indi­vi­duen ein sozia­les Gan­zes herbeizuführen.

2.4. Wir brau­chen für die Zukunft kein öko­no­misch domi­nier­tes Europa der Zah­len, Sta­tis­ti­ken und Quan­ti­tä­ten. Europa ist kein bloß ver­glei­chen­des Zah­len­ge­bilde und braucht weni­ger sta­tis­ti­sche Zukunfts­pro­gno­sen als viel­mehr Zukunfts­ak­ti­vi­tä­ten für eine lebens­werte Zukunft. Qua­li­tät geht vor Quan­ti­tät. Die Lebens­qua­li­tät für alle Schich­ten des Mensch­seins muss in den Mit­tel­punkt der Betrach­tun­gen und Bestre­bun­gen rücken.

2.5. Nicht Macht­stre­ben und Macht­den­ken, nicht die Ver­meh­rung von Ein­fluss und Wirt­schafts­kraft brin­gen Europa für die Zukunft wei­ter, son­dern allein die Macht der Ideen außer­halb des Gewohn­ten und der Geist der Soli­da­ri­tät und mensch­li­chen Ver­bun­den­heit, über die Gren­zen des Kon­ti­nents hin­aus. Die Umge­stal­tung der Sozi­al­sys­teme - im Gegen­satz zu ihrem jetzt lau­fen­den Abbau - ist ein Kampf um Euro­pas spi­ri­tu­elle Identität.

These 3: Zur Anknüp­fung an die Ver­gan­gen­heit Euro­pas und zu deren Bewäl­ti­gung und Ver­wand­lung

Euro­pas Erbe ist auf­ge­braucht. Die reich­hal­ti­gen, kul­tu­rel­len Schätze und Tra­di­tio­nen des abend­län­di­schen Euro­pas ver­blas­sen. Euro­päi­sches Bewusst­sein sollte den­noch anknüp­fen an die Geistes-, Philosophie-, Kultur- und Kunst­ge­schichte Euro­pas. Diese soll­ten wir zeit­ge­mäß und indi­vi­du­ell ver­wan­deln und fortentwickeln.

Nicht zuletzt aus den his­to­ri­schen und ideo­lo­gi­schen Irr­tü­mern und Schand­ta­ten des krie­ge­ri­schen, natio­na­lis­ti­schen und chau­vi­nis­ti­schen Europa sind glei­cher­ma­ßen die Leh­ren für die Gegen­wart und Zukunft zu zie­hen - vom alten zum neuen Europa. Die­ses ver­trägt kein altes Den­ken und kei­nen neuen Mate­ria­lis­mus. Was in Europa an Ver­ei­ni­gungs­stre­ben aus der wirt­schaft­li­chen Mon­tan­union von Kohle und Stahl begann, sich mit der euro­päi­schen Wirt­schafts­ge­mein­schat (EWG) fort­setzte und in die Euro­päi­sche Union mün­dete, muss jetzt über die wirt­schaft­li­chen und natio­nal­staat­li­chen Inter­es­sen hin­aus gedacht und gestal­tet werden.

Nach­dem das alte Europa seine Ver­gan­gen­heit auf­ge­ar­bei­tet hat, kann es sich auf sei­nen neuen Auf­trag für die Welt besin­nen: Es begibt sich auf den huma­nis­ti­schen Weg in eine men­schen­wür­dige und nach­hal­tige Zukunft für alle. Dazu muss es auch seine Leh­ren aus der fehl­ge­lei­te­ten Gegen­wart zie­hen, wenn der Weg in die Zukunft nicht durch das Dik­tat der Öko­no­mie ver­baut wer­den soll. Ein neues, ver­wan­del­tes Den­ken muss Europa aus der Zukunft ergrei­fen. Alle poli­ti­schen Ideen der Ver­gan­gen­heit kön­nen die Pro­bleme der Gegen­wart in Europa nicht meis­tern. Und alle Ideen der Gegen­wart kön­nen die Pro­bleme der Zukunft nicht meis­tern, die wie­der eigene Ideen her­vor­brin­gen wird.

3.1. Die his­to­ri­schen Hin­ter­las­sen­schaf­ten und Prä­gun­gen des alten Europa aus der grie­chi­schen und römi­schen Epo­che, der mit­tel­al­ter­li­chen Kai­ser­zeit, der Klös­ter und des Adels, des Barock und der Renais­sance, des Abso­lu­tis­mus und sogar der fran­zö­si­schen Revo­lu­tion sind ver­blasst. Der Zusam­men­klang von Wis­sen­schaft, Kunst und sozia­lem Leben ist ver­lo­ren gegan­gen und muss wie­der her­ge­stellt und erneu­ert werden.

3.2. Faschis­mus und Sta­li­nis­mus sind in Europa Ver­gan­gen­heit. Der Natio­na­lis­mus ist weit­ge­hend zurück­ge­drängt, auch wenn die alten Gespens­ter immer noch in man­chen Köp­fen und unter­schwel­lig in der Poli­tik spu­ken. Die Natio­nal­staa­ten ver­lie­ren der­weil an Bedeu­tung. Die Wun­den aus den dunk­len Kapi­teln der euro­päi­schen Geschichte mit dem kriegs­dunk­len 20. Jahr­hun­dert begin­nen zu hei­len. Die Ver­söh­nung der Völ­ker ist im Gange, aber ihre zuneh­mende innere Spal­tung in arm und reich nimmt zu. Das dür­fen wir nicht zulas­sen, weil von Europa sozia­ler Aus­gleich aus­ge­hen muss. Jeg­li­che Form von Abhän­gig­keit, Aus­beu­tung und Skla­ven­tum muss der unsäg­li­chen Ver­gan­gen­heit ange­hö­ren; darum ist auch der „Arbeits­markt”, auf dem ein Teil des Men­schen als Ware gehan­delt wird, ein Anachronismus.

3.3. Geblie­ben ist ein alles beherr­schen­der Mate­ria­lis­mus, der sich immer mehr ver­stärkt und mitt­ler­weile das gesamte euro­päi­sche Den­ken und Han­deln bestimmt. Alle Hoff­nun­gen auf eine Lösung der Pro­bleme unse­rer natür­li­chen und sozia­len Umwelt durch ein ein­sei­tig materialistisch-orientiertes Den­ken sind zum Schei­tern ver­ur­teilt. Sind doch diese Pro­bleme zum gro­ßen Teil gerade durch eben jene Den­kart ent­stan­den. So ist ein Umden­ken erfor­der­lich, wenn die Idee Europa und die euro­päi­sche Kul­tur und Zivi­li­sa­tion nicht in der Deka­denz enden soll. Europa sollte in die­ser neuen Epo­che gene­rell Abschied neh­men von alten Denk­mus­tern und Ideo­lo­gien. Für das neue Europa eig­net sich das Den­ken aus dem 19. und 20. Jahr­hun­dert nicht – geschweige denn das aus dem Mit­tel­al­ter, wie es in Tei­len der Kir­chen, der Jus­tiz und in man­cher­lei For­men des Aber­glau­bens noch fort­wirkt. Euro­päi­sches Den­ken baut im 21. Jahr­hun­dert auf ganz neuen Denk­an­sät­zen und lässt die Ver­gan­gen­heit hin­ter sich, ohne sie zu vergessen.

3.4. Die unkri­ti­sche Tech­nik­gläu­big­keit aus dem Zeit­al­ter der Indus­tria­li­sie­rung und der gro­ßen Erfin­dun­gen der Neu­zeit als Pro­blem­lö­ser für die Zukunft hält sich hart­nä­ckig als Ersatz­re­li­gion, ebenso wie der alles über­la­gernde Glaube an die soziale Gestal­tungs­kraft der Öko­no­mie und des freien Mark­tes. Ihre Anbe­tung ist zum Göt­zen­dienst gewor­den. Von ihnen erhofft man sich allein durch die Öff­nung der Märkte und des gren­zen­lo­sen Han­dels dau­er­haf­ten Fort­schritt, Wohl­stand und soziale Zukunft. Das ist ein Aber­glaube, der schon bald der Ver­gan­gen­heit ange­hö­ren sollte. Er ist Erbe und Teil des alten Europa, ebenso wie das poli­ti­sche und öko­no­mi­sche Macht­stre­ben des immer mäch­ti­ger wer­den­den Euro­pas im Wett­kampf der Kon­ti­nente als neuer euro­päi­scher Chauvinismus.

3.5. Ein euro­päi­scher Chau­vi­nis­mus wäre schlim­mer als all die ver­schie­de­nen natio­na­len Chau­vi­nis­men der ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derte. Im Extrem­fall droht eine Art Euro­fa­schis­mus gegen­über den “Ver­lie­rern der Drit­ten Welt”. Das ist die wich­tigste Lehre aus der Ver­gan­gen­heit: Europa hat nicht eine herr­schende oder beherr­schende Rolle anzu­stre­ben, son­dern eine die­nende, aus­glei­chende und ver­mit­telnde Auf­gabe zwi­schen den Pola­ri­tä­ten in der Welt - ein Aus­gleich nach innen und außen. Das unter­schei­det das neue Europa wesent­lich vom alten.

These 4: Zur sozia­len, wirt­schaft­li­chen und demo­kra­ti­schen Gestal­tung Euro­pas

Für die Zukunft Euro­pas kommt es ent­schei­dend auf die mensch­li­chen Taten an, nicht auf die äuße­ren poli­ti­schen Ver­hält­nisse. Europa muss schritt­weise Abschied neh­men von alten Staats­for­men und dem dem brü­chig gewor­de­nen ideo­lo­gi­schen Par­tei­en­we­sen aus dem vori­gen Jahr­hun­dert mit sei­nem Kon­for­mis­mus - zuguns­ten neuer, erwei­ter­ter und direk­ter Demo­kra­tie­for­men sowie Partizipations- und Gestal­tungs­mög­lich­kei­ten. Im Mit­tel­punkt steht als trei­bende Kraft und Ide­en­ge­ber eine leben­dige, ver­ant­wor­tungs­be­wusste und krea­tive Zivil­ge­sell­schaft in einem Europa der Regio­nen und der mensch­li­chen Netzwerke.

Europa muss sich zugleich ver­ab­schie­den vom heu­ti­gen, neo­li­be­ra­len Wirt­schafts­dik­tat, des­sen zer­stö­re­ri­sche Wir­kung für die Öko­lo­gie und das soziale Zusam­men­le­ben in einer gespal­te­nen Gesell­schaft ebenso sicht­bar wird wie des­sen glo­ba­les Schei­tern bereits abseh­bar ist. Der Mark­tra­di­ka­lis­mus ist bereits geschei­tert. Die­ser Neo­li­be­ra­lis­mus wird sich tot lau­fen wie alle Ideo­lo­gien mit ver­kürz­tem Men­schen­bild. Er ist weder effek­tiv noch nach­hal­tig und wider­spricht der Sozi­al­ge­stal­tung und der Sozi­al­staats­idee aus euro­päi­scher Geis­tes­hal­tung. Europa braucht den erneu­ern­den Umbau der sozia­len und wirt­schaft­li­chen Sys­teme, da das alte kapi­ta­lis­ti­sche Wirt­schafts­sys­tem mit­samt sei­nem die­nen­den, poli­ti­schen Sys­tem vor dem Kol­laps steht. Die soziale Neu­ge­stal­tung ist der zen­trale Vor­gang des neuen Jahr­tau­sends in Europa und für die Welt.

Die neuen For­men des Zusam­men­le­bens in der post­ka­pi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft Euro­pas gestal­ten sich nach den Prin­zi­pien der Soli­da­ri­tät und der Sub­si­dia­ri­tät. Mit­ein­an­der statt Gegen­ein­an­der, Koope­ra­tion statt gna­den­lo­sem Kon­kur­renz­kampf sind in Zei­ten der Glo­ba­li­sie­rung im euro­päi­schen Wirt­schafts­le­ben und welt­weit ange­sagt. Europa kann nicht län­ger in fun­da­men­ta­lis­ti­scher Weise nach einem ein­zi­gen wirt­schaft­li­chen Prin­zip geformt wer­den. In einer Demo­kra­tie müs­sen immer Alter­na­ti­ven mög­lich und zuge­las­sen sein.
Europa stellt sich des­halb ganz neu der sozia­len Frage als sei­ner Kern­auf­gabe und Ver­pflich­tung für die Welt. Es darf nicht zur wei­te­ren sozia­len Spal­tung der Mensch­heit bei­tra­gen. Die für die beste­hende Spal­tung ver­ant­wort­li­che, enge und unge­sunde Ver­flech­tung zwi­schen Wirt­schaft, Poli­tik und Kul­tur muss ent­wirrt wer­den: Glie­de­rung und Dif­fe­ren­zie­rung ist ange­sagt. Europa setzt dem global-agierenden Kapi­tal aus dem poli­ti­schen Rechts­le­ben her­aus einen sozia­len und poli­ti­schen Rahmen.

Das euro­päi­sche Kul­tur­le­ben kor­ri­giert das sozi­al­dar­wi­nis­ti­sche Welt- und Men­schen­bild, das momen­tan das Wirt­schafts­le­ben beherrscht. Die Ideale der fran­zö­si­schen Revo­lu­tion sind in ihrer spe­zi­fi­schen jewei­li­gen Bedeu­tung für die gesell­schaft­li­chen Sub­sys­teme die Grund­la­gen für die noch zu ver­wirk­li­chende, soziale Zukunfts­ge­stal­tung: Frei­heit vor­ran­gig im Kultur- und Geis­tes­le­ben, Gleich­heit vor­ran­gig im poli­ti­schen Rechts­le­ben und Geschwis­ter­lich­keit („Brü­der­lich­keit”) vor­ran­gig im Wirtschaftsleben.

4.1. Ein sozia­les und demo­kra­ti­sches Europa kann nicht öko­no­misch und poli­tisch von oben herab gestal­tet wer­den. Die Gemein­wohlo­ri­en­tie­rung muss in Europa vom demo­kra­ti­schen Rechts­le­ben und von der Zivil­ge­sell­schaft aus­ge­hen. Das euro­päi­sche Sozi­al­staats­mo­dell ist in zeit­ge­mä­ßer Umwand­lung in die Zukunft zu über­füh­ren, um allen ein men­schen­wür­di­ges Dasein zu sichern, unab­hän­gig vom Erwerbs­ein­kom­men oder von ver­füg­ba­ren Arbeits­plät­zen. Tei­len macht alle reich - und für die ande­ren Men­schen tätig zu sein, ist sinnstiftend.

4.2. Die soziale und kul­tu­relle Dimen­sion Euro­pas ver­trägt sich nicht mit dem Ver­ständ­nis von Arbeits­kraft als Ware auf dem „Arbeits­markt”. Die­ses redu­ziert den Men­schen auf einen Kos­ten­fak­tor, schürt die Lohn­kos­ten­kon­kur­renz und treibt die Men­schen in ein moder­nes Skla­ven­tum, das mensch­li­che Exis­ten­zen zer­stört und Zukunfts­ängste sowie Erkran­kun­gen her­vor­ruft. Ein sozia­les Europa der Soli­da­ri­tät ver­mei­det alles, was zu sol­chen zer­stö­re­ri­schen Ver­hält­nis­sen führt. Es über­win­det alles, was zu neuer Abhän­gig­keit, zu unsi­che­ren Lebens­um­stän­den oder zur Ver­schlech­te­rung der Lebens­qua­li­tät und zur Ein­schrän­kung der Men­schen­rech­ten und -würde führt.

4.3. Europa braucht eine Erneue­rung der Kul­tur­ar­beit und eine neue Arbeits­kul­tur, los­ge­löst vom Erwerbs­zwang, also eine Tren­nung von Arbeit und Ein­kom­men. Jeder Mensch mit oder ohne Erwerbs­ar­beit hat ein Recht auf men­schen­wür­di­ges Dasein allein auf­grund der Tat­sa­che, dass er Mensch ist. Dies ist das euro­päi­sche Sozi­al­prin­zip und Men­schen­ver­ständ­nis. Im neuen Europa wird mensch­li­che Arbeit nicht mehr als Ware auf dem Markt betrach­tet, son­dern als Bei­trag zur Kul­tur­ent­wick­lung und als Ver­wirk­li­chung mensch­li­cher Fähig­kei­ten zuguns­ten der mensch­li­chen Gemein­schaft. Wenn Europa die Zukunft der Arbeit meis­tern will, so beginnt diese mit der Arbeit am Men­schen. In Europa ist für die Men­schen sehr viel zu tun, jeder wird gebraucht und nie­mand ausgegrenzt.

4.4. Das neue Europa ent­deckt den eigent­li­chen Sinn und Zweck des Wirt­schaf­tens für die Men­schen neu. Es gestal­tet eine asso­zia­tive Wirt­schaft mit Abstim­mung der Pro­du­zie­ren­den und Han­del­trei­ben­den mit den Ver­brau­chern und Kon­su­mie­ren­den. Es ver­mei­det die Durch­mi­schung poli­ti­scher und wirt­schaft­li­cher Interessen.

4.5. Europa gewähr­leis­tet zugleich die Frei­heit und Unab­hän­gig­keit des Geistes- und Kul­tur­le­bens von Staats- und Wirt­schafts­ein­flüs­sen. Es strebt über­dies nach einem erwei­ter­ten Demo­kra­tie­ver­ständ­nis, nach Par­ti­zi­pa­tion und Mün­dig­keit der Men­schen, deren Rechts- und Gerech­tig­keits­emp­fin­den sowie Unrechts­ge­fühl der Maß­stab allen poli­ti­schen Ent­schei­dens und Han­delns ist.

These 5: Zur zukünf­ti­gen Rolle Euro­pas in der Welt

Das ver­einte Europa steht nicht län­ger in Kon­kur­renz und Vor­macht­stel­lung zu den ande­ren Kon­ti­nen­ten und ihren Men­schen, son­dern es trägt im Mensch­heits­in­ter­esse zu ihrer Ent­wick­lung und För­de­rung in der einen Welt bei. Europa betreibt Wie­der­gut­ma­chung sei­ner his­to­ri­schen Schuld der Kolo­nia­li­sie­rung und der ver­form­ten Glo­ba­li­sie­rung, deren ein­sei­tige Aus­rich­tung von ihm aus­ging. Euro­pas Bür­ge­rin­nen und Bür­ger mit ihrer sprach­li­chen Viel­falt sind längst Welt­bür­ger mit Opfer­be­reit­schaft, die ihre geschicht­li­ches und natio­na­les Bewusst­sein aus­wei­ten zu einem euro­päi­schen Weltbewusstsein.

Europa nimmt ver­stärkt eine aus­glei­chende und ver­mit­telnde Rolle in der Welt wahr, ins­be­son­dere bei den Kon­fron­ta­tio­nen zwi­schen den Pola­ri­tä­ten, zu denen die dua­lis­tisch geprägte Mensch­heit neigt. Europa selbst bemüht sich, seine dua­lis­ti­sche Auf­fas­sung der Welt­ver­hält­nisse im Inne­ren wie im Äuße­ren vor­bild­haft zu über­win­den, sei es im Ost-West- oder Nord-Süd-Konflikt, im Kampf und Streit von Kul­tu­ren, Reli­gio­nen und Eth­nien oder im Kon­flikt zwi­schen so genann­ten Arbeit­ge­bern und Arbeit­neh­mern, zwi­schen Alt und Jung, zwi­schen oben und unten usw.

„Mit­ein­an­der statt gegen­ein­an­der”, so lau­tet auch das Prin­zip des euro­päi­schen Wirt­schafts­han­delns in einer soli­da­risch zu gestal­ten­den, glo­ba­len Welt, in der alle Men­schen von­ein­an­der abhän­gig und auf­ein­an­der ange­wie­sen sind. Ego­is­mus, Vor­teils­den­ken und Kon­kur­renz­prin­zip sind hier fehl am Platze. Europa ent­wi­ckelt ein neues Ver­hält­nis zu einem Geld­we­sen „ohne Zin­sen und Infla­tion” , damit der Euro eine heil­same, anstatt schä­di­gende Wir­kung im Inne­ren wie auch für die Welt­wirt­schaft und Welt­ent­wick­lung vor­bild­haft ent­fal­tet. Die Men­schen Euro­pas neh­men die Bürde der Ver­ant­wor­tung für die Welt auf sich und gewin­nen so das Ver­trauen der Welt. Euro­pas nach­hal­tige Zivi­li­sa­tion basiert auf Lebens­qua­li­tät für alle Men­schen auf der Erde statt auf unbe­grenzte Akku­mu­la­tion indi­vi­du­el­len Reichtums.

5.1. Europa ver­zich­tet auf jeg­li­che mili­tä­ri­sche Auf­rüs­tungs­ver­pflich­tun­gen, son­dern wen­det sich wie­der einer Poli­tik der Abrüs­tung zu, die es dann auch in sei­ner Ver­fas­sung fest­schreibt. Europa eman­zi­piert sich poli­tisch, mili­tä­risch und kul­tu­rell von den USA - ohne indes eine eigene Welt­macht, Mili­tär­macht oder Wirt­schafts­macht wer­den zu wol­len. Europa bleibt den Men­schen in den USA, ins­be­son­dere in der orga­ni­sier­ten Zivil­ge­sell­schaft freund­schaft­lich und soli­da­risch ver­bun­den. Welt­weite Kriegs­ein­sätze aus wirt­schaft­li­chen oder macht­po­li­ti­schen Grün­den lie­gen Europa fern, abge­se­hen von Unter­stüt­zun­gen und Betei­li­gun­gen an frie­dens­stif­ten­den UNO-Einsätzen.

5.2. Europa bemüht sich aus einer spi­ri­tu­el­len Welt­auf­fas­sung sei­ner Men­schen ernst­haft, aktiv und ver­ant­wor­tungs­be­wusst um einen welt­weit wirk­sa­men Aus­gleich zwi­schen Arm und Reich. Es sorgt für einen Gleich­ge­wichts­zu­stand in der Welt in geis­ti­ger und mate­ri­el­ler Hin­sicht. Es ver­tritt nicht nur die Inter­es­sen der Euro­päe­rin­nen und Euro­päer, son­dern das All­ge­mein­mensch­li­che im gesam­ten Mensch­heits­in­ter­esse. Armut in Europa und in der Welt wird nicht län­ger als indi­vi­du­el­les Pro­blem ange­se­hen, son­dern als gesell­schaft­li­che Herausforderung.

5.3. Das welt­of­fene Europa betreibt in sei­nem eige­nen Lebens- und Arbeits­raum die Ablö­sung von Auto­ri­tä­ten und Grup­pen­den­ken zuguns­ten der Eman­zi­pa­tion und Mün­dig­keit der Indi­vi­dua­li­tä­ten mit dem Aus­ba­lan­cie­ren von Indi­vi­dua­li­tät und Gemein­schaft. Dar­aus ent­wi­ckelt es neue Sozi­al­for­men: Gemein­schaft, die aus indi­vi­du­el­ler Frei­heit ent­steht. Das Gelin­gen die­ses Ver­suchs wird der gesam­ten Mensch­heit zugute kommen.

5.4. Wo alt­her­ge­brachte, reli­giöse For­men nicht mehr tra­gen, bemü­hen sich Men­schen in Europa um neue Erkenntnis- und Lebens­for­men, die unab­hän­gig von Kon­fes­sio­nen, Glau­bens­rich­tun­gen oder -ableh­nun­gen neue christ­li­che oder reli­giöse Gemein­schafts­bil­dun­gen ande­rer Art zeit­ge­mäß ermög­li­chen. Zum Bei­spiel durch ein vom Ego­is­mus befrei­tes, brü­der­li­ches oder geschwis­ter­li­ches Wirt­schaf­ten mit Teil­habe aller Men­schen am Reich­tum die­ser Erde und bei Scho­nung ihrer Res­sour­cen. Europa wirkt ideo­lo­gie­frei und kon­struk­tiv für die Welt. Es hilft mit, von allen Kul­tu­ren, Reli­gio­nen, Völ­kern, Grup­pen und Indi­vi­dua­li­tä­ten die­ser Welt das jeweils Beste für die Vor­be­rei­tung des nächs­ten Schrit­tes der mensch­li­chen Ent­wick­lung zu ver­ar­bei­ten. In einer zuneh­mend ver­netz­ten und glo­ba­li­sier­ten Welt arbei­tet es mit an einem neuen Mensch­heits­be­wusst­sein der schick­sal­haf­ten Zusam­men­ge­hö­rig­keit und wech­sel­sei­ti­gen Abhängigkeit.

5.5. Europa schlägt ein neues Kapi­tel der Geschichte auf, das sich an Lebens­qua­li­tät, Nach­hal­tig­keit, Frie­den und Har­mo­nie aus­rich­tet. Das moderne Fort­schritts­den­ken löst sich von sei­ner rein mate­ri­el­len Basis. Im Vor­der­grund steht die För­de­rung des mensch­li­chen Geis­tes - als wün­schens­werte Anhäu­fung geis­ti­gen Reich­tums. Dadurch befreien sich in Europa die Men­schen aus ihrem mate­ria­lis­ti­schen Gefäng­nis und aus ihren see­li­schen Nöten. Europa sprengt so die Gren­zen sei­ner Ter­ri­to­rien und sei­ner alten Bewusst­seins­hal­tung. Wir erle­ben die Geburt eines neuen euro­päi­schen Trau­mes. Wir erle­ben die Wie­der­ge­burt Europas.

These 6: Zu den Gestal­tungs­fel­dern eines nach­hal­ti­gen Europa

Europa geht in Zukunft den Weg einer kon­se­quent nach­hal­ti­gen Ent­wick­lung auf allen Gebie­ten; es strebt nach sozia­ler, wirt­schaft­li­cher und öko­lo­gi­scher Nach­hal­tig­keit in glo­ba­ler Sicht­weise als Alter­na­tive zum kurz­sich­ti­gen mate­ri­el­len Gewinn­stre­ben. Europa ver­steht sich als ein leben­di­ger sozia­ler und öko­lo­gi­scher Orga­nis­mus. Ein nach­hal­ti­ges Europa för­dert die freie Indi­vi­dua­li­tät, die Spi­ri­tua­li­tät und die in Frei­heit selbst gewählte Religiosität.

Europa strebt nach Wahr­haf­tig­keit, Frie­den und Gewalt­lo­sig­keit nach Innen und Außen. Es ringt um ein neues Bewusst­sein und um einen wirk­li­chen Auf­bruch mit dem nöti­gen Enthu­si­as­mus. Gefor­dert ist auch der spe­zi­fi­sche Bei­trag der ein­zel­nen Län­der und Völ­ker sowie der ein­zel­nen Euro­päer für das gemein­same Ganze, in dem auch Kin­der, alte Men­schen, Behin­derte und Migran­ten sowie sozial Schwa­che ihren bevor­zug­ten Platz haben.

Der euro­päi­sche Sozi­al­staat als demo­kra­ti­scher Rechts­staat wird nicht län­ger als ein „Markt­hin­der­nis” betrach­tet, son­dern eine neue Soli­da­ri­tät und Sozi­al­ethik wird als Teil euro­päi­scher Iden­ti­tät und als Fun­da­ment europäisch-abendländischer Werte ange­se­hen. Europa been­det die Dis­kre­di­tie­rung und Öko­no­mi­sie­rung sei­nes Geis­tes­le­bens und wen­det sich gegen Ver­ding­li­chung, Fremd­be­stim­mung und Ent­wür­di­gung des Men­schen im Wirtschaftsleben.

Europa strebt den Erhalt sei­ner kul­tu­rel­len und öko­lo­gi­schen Viel­falt an, die Pflege sei­ner bäu­er­li­chen Kul­tu­ren, sei­ner Kul­tur­land­schaf­ten und sei­ner Stadt­kul­tu­ren. Europa bemüht sich um einen neuen Gestal­tungs­im­puls für Archi­tek­tur, Städ­te­bau, Land­schafts­ge­stal­tung, Kunst und Sozi­al­ge­stal­tung. Europa pflegt die Stät­ten eines spi­ri­tu­el­len Lebens.

Die Men­schen Euro­pas stre­ben aus der Lebens­wirk­lich­keit her­aus nach Frei­heit – ins­be­son­dere der Gedanken-, Gewalt-, Bewegungs-, Bildungs-, Religions- und indi­vi­du­el­ler Frei­heit sowie der Befrei­ung von Macht­ver­hält­nis­sen und Zwän­gen. Die all­täg­li­che Ver­let­zung der Men­schen­würde durch die Art und Weise der momen­tan vor­herr­schen­den Wirt­schafts­ge­stal­tung muss durch ein men­schen­ge­mä­ßes Wirt­schafts­le­ben über­wun­den werden.

6.1. Europa ringt sich zu einem Ver­bot des pri­vi­le­gier­ten Zugangs der ein­fluss­rei­chen Lobby-Organisationen zur EU-Kommission durch. Es legt alle Beein­flus­sun­gen von Gesetz­ge­bun­gen und Par­la­men­ta­ri­ern offen. Die Wirt­schaft in Europa kann keine „Pri­vat­wirt­schaft” sein, son­dern ist in höchs­tem Maße von öffent­li­chem Inter­esse. Sie hat dem Gemein­wohl zu die­nen und der Ver­sor­gung aller - nicht nur mit Waren, Gütern und Dienst­leis­tun­gen, son­dern auch mit Arbeit und Einkommen.

6.2. Europa braucht eine leben­dige Land­wirt­schaft und eine Sym­biose aus Stadt- und Land­kul­tur, anstatt einer aus­ufern­den Ver­städ­te­rung. Es wirkt den Ten­den­zen zur Zer­sie­de­lung und Land­schafts­stö­rung, zu unfrucht­ba­ren Böden, zu ver­seuch­tem Grund­was­ser und zur abneh­men­den Rege­ne­ra­ti­ons­fä­hig­keit von Pflan­zen und Tie­ren ent­ge­gen. Europa sorgt für eine gesunde Ernäh­rungs­grund­lage für seine Men­schen und berück­sich­tigt die Gesundheits- und Qua­li­täts­in­ter­es­sen der Ver­brau­cher. Es gewähr­leis­tet den öffent­li­chen Zugang zu Was­ser, Ener­gie, Ver­kehrs­in­fra­struk­tur, kul­tu­rel­len, sozia­len und medi­zi­ni­schen Ein­rich­tun­gen sowie Bildungsangeboten.

6.3. Die Men­schen sind das soziale Poten­tial Euro­pas, seine wich­tigste Res­source. Die Qua­li­tät der Völ­ker­viel­falt und Men­schen­viel­falt ist gewis­ser­ma­ßen der Leben­sa­tem für die Ent­fal­tung der euro­päi­schen Seele. Diese kann durch Aus­tausch und Men­schen­be­geg­nun­gen in ihrer Ent­wick­lung begüns­tigt wer­den. Nach­dem die frei­wil­lig ver­ein­ten Natio­nen sich zu Europa beken­nen, müs­sen Euro­pas Visio­nen in der Rea­li­tät ver­an­kert werden.

6.4. Das für alle zugäng­li­che, freie, euro­päi­sche Bildungs- und Hoch­schul­we­sen wid­met sich ver­stärkt den euro­päi­schen Ideen und nach­hal­ti­gen Gestal­tungs­fel­dern, ohne sich von wirt­schaft­li­chen und poli­ti­schen Inter­es­sen und Ein­flüs­sen ver­ein­nah­men zu las­sen. Die Wis­sen­schaft selbst strebt nach Erneue­rung, Öff­nung und gedank­li­cher Beweg­lich­keit und ver­lässt Dog­men und pseu­do­wis­sen­schaft­lich begrün­dete Wirt­schafts­ideo­lo­gien. Die geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen Fach­dis­zi­pli­nen erhal­ten wie­der einen höhe­ren Stel­len­wert gegen­über der nur technisch-naturwissenschaftlichen Aus­rich­tung am wirt­schaft­li­chen Verwertungsinteresse.

6.5. Europa gestal­tet eine neue Boden- und Eigen­tums­ord­nung und eine neue Finanz- und Kapi­ta­l­ord­nung sowie eine neue Arbeits­ord­nung - in der Erkennt­nis, dass Arbeit, Boden und Kapi­tal unver­käuf­lich sind und die Dyna­mik des Zin­ses­zin­ses die Wirk­sam­keit des Geld­we­sens zer­stö­ren. Europa ver­steht sich als eigen­stän­di­ges Modell, dass anre­gend mit Alter­na­ti­ven auf die gefähr­dete Welt ein­wir­ken kann. In Europa steht kul­tu­relle Viel­falt über Assi­mi­la­tion, Lebens­qua­li­tät über der Anhäu­fung pri­va­ten Reich­tums, nach­hal­tige Ent­wick­lung über unbe­grenz­tem mate­ri­el­les Wachs­tum, uni­ver­selle Men­schen­rechte und die Rechte der Natur über Eigen­tums­rech­ten, glo­bale Zusam­men­ar­beit über ein­sei­ti­ger Machtausübung.

These 7: Zum gemein­sa­men Gestal­tungs­pro­zess der euro­päi­schen Ver­fas­sung

Der Wille und das Rechts­emp­fin­den aller Euro­päer muss in die Ver­fas­sung Euro­pas ein­flie­ßen kön­nen. Diese kann nur ohne Zeit­druck in einem gemein­sa­men Gestal­tungs­pro­zess neu ent­wi­ckelt wer­den, an dem alle Betrof­fe­nen in basis­de­mo­kra­ti­scher Weise umfas­send betei­ligt wer­den, um ein Bild von der Zukunft zu ent­wer­fen. Vor­schläge über die for­male Seite die­ses Pro­zes­ses exis­tie­ren bereits. Die Leit­bild­dis­kus­sion sollte der erneu­ten Ver­fas­sungs­dis­kus­sion voraus- oder mit ihr einhergehen.

Ein Grundlagen-Leitbild als Ori­en­tie­rungs­hilfe für die Wer­te­dis­kus­sion ist hilf­reich für die Pro­zess­be­glei­tung, die mit einer Kultur- und Struk­tur­de­batte zu ver­knüp­fen ist. Die Ver­fas­sung sagt etwas über den Zustand der Men­schen und die Gestal­tung ihres Gemein­schafts­le­bens aus, nicht allein über die Vor­stel­lun­gen von poli­ti­schen Eli­ten. Die fäl­lige Neu­auf­lage der Ver­fas­sungs­dis­kus­sion sollte los­ge­löst vom vor­lie­gen­den Ver­trags­text und unbe­ein­flusst von wirt­schaft­li­chen Lobby-Organisationen erfol­gen. Die neue Ver­fas­sung ver­zich­tet auf jeg­li­che Fest­le­gun­gen – etwa zuguns­ten einer neo­li­be­ra­len Wirt­schafts­ord­nung sowie auf mili­tä­ri­sche Rüs­tungs­ver­pflich­tun­gen. Sie ver­zich­tet auch auf alle Detail-Regelungen, die den Rah­men einer Ver­fas­sung spren­gen und offene poli­ti­sche Gestal­tung verhindern.

Dem gegen­über muss das Subsidiaritäts- und das Demo­kra­tie­prin­zip deut­li­cher Ein­gang in die Ver­fas­sung fin­den. Eine Sozi­al­charta ist als ein Kern­be­stand­teil in den Ver­fas­sungs­rang zu erhe­ben. Europa strebt nach einer sozia­ler Erneue­rung und huma­ner Gestal­tung des Wirt­schaf­tens - dies muss auch in der Ver­fas­sung zum Aus­druck kommen.

Eine euro­päi­sche Ver­fas­sung darf inhalt­lich nicht hin­ter den fort­schritt­li­che­ren natio­na­len Ver­fas­sun­gen, wie etwa dem Grund­ge­setz, zurück­blei­ben und Bür­ger­rechte oder natio­nale Beteiligungs- und Ent­schei­dungs­rechte zen­tra­lis­tisch ein­schrän­ken. Sie muss viel­mehr den Cha­rak­ter einer Rah­men­ver­fas­sung erhal­ten, die sich auf gesamt­eu­ro­päi­sche Aspekte beschränkt. Die Ver­fas­sung sollte durch­gän­gig das Zukunfts­bild, Rechts­emp­fin­den und - bewusst­sein zum Aus­druck brin­gen, das in den Men­schen Euro­pas im Sinne eines gemein­sam ent­wi­ckel­ten Leit­bil­des lebt. Die Ver­fas­sung sollte einen Rechts­rah­men schaf­fen, der es allen Men­schen in Europa ermög­licht, eigene Initia­tive, Selbst- und Mit­ver­ant­wor­tung in selbst­ver­wal­te­ten Struk­tu­ren zu übernehmen.

7.1. Europa braucht einen ganz­heit­li­chen Denk­an­satz, um der Gestal­tung des poli­ti­schen, wirt­schaft­li­chen und sozia­len Sys­tems im 21. Jahr­hun­dert gerecht zu wer­den. Dies muss sich auch in der Ver­fas­sung nie­der­schla­gen. Wenn ein politisch-wirtschaftliches Hyper­sys­tem – wie die EU Europa und mit ihm die ganze Welt­ord­nung – fehl­steu­ert, kann der Ein­zelne nur wirk­sam gegen­steu­ern, wenn er Alli­an­zen bil­det mit ande­ren guten Kräf­ten. Die­sen zivil­ge­sell­schat­li­chen Gestal­tungs­kräf­ten muss Europa auch bei der Ver­fas­sungs­dis­kus­sion unge­hin­der­ten Frei­raum zur Ent­fal­tung bie­ten. Auch die Mäch­ti­gen der Wirt­schaft und Poli­tik müs­sen die Sack­gasse erken­nen, um aus ihr herauszufinden.

7.2. Da wirt­schaft­li­ches Kon­kur­renz­den­ken und mili­tä­ri­sche Rüs­tungs­ver­pflich­tun­gen wirk­li­che Völ­ker­ver­stän­di­gung ver­hin­dern oder erschwe­ren, müs­sen sol­che Ele­mente in der Ver­fas­sung aus­ge­räumt wer­den. Die Ver­fas­sung sollte den Men­schen in Europa auch signa­li­sie­ren, dass die Idee und Zukunft Euro­pas nicht aus einer unauf­halt­sa­men Welle der Dere­gu­lie­rung, Pri­va­ti­sie­rung und Kom­mer­zia­li­sie­rung und aus dem Abbau sozi­al­staat­li­cher Siche­rungs­sys­teme besteht. Die Ver­fas­sung hat viel­mehr zu ver­deut­li­chen, was Recht und Unrecht ist und was mor­gen soli­da­risch gesche­hen soll.

7.3. Europa erlebt Sym­ptome des Zusam­men­bre­chens der bis­he­ri­gen sozia­len, wirt­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Ord­nung. Es bedarf des­halb einer neuen ethi­schen Ori­en­tie­rung, aus deren Geist die Ver­fas­sungs­in­halte geprägt sein müs­sen. Denn wenn Europa so wei­ter­macht wie bis­her, wird es die gegen­wär­tige Ord­nung keine 15 Jahre mehr auf­recht erhal­ten kön­nen ohne schwerste Kri­sen. Des­halb muss die Ver­fas­sung die neue Ord­nung ermög­li­chen und sicht­bar machen.

7.4. Eine euro­päi­sche Ver­fas­sung sollte das euro­päi­sche Modell ver­deut­li­chen, das als staat­li­che Auf­gabe ein Min­dest­maß an Sicher­heit und sozia­ler Gerech­tig­keit schafft und die Gren­zen des Mark­tes auf­zeigt. Die Ver­fas­sung sollte – auf die Grund­werte der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion gestützt – deut­lich machen, was Sache des Staa­tes, der Wirt­schaft und der Zivil­ge­sell­schaft und des freien Kul­tur­be­rei­ches ist. Es sollte auch deut­lich wer­den, was Sache der Gemein­den, der Regio­nen und der Natio­nal­staa­ten ist.

7.5. Der euro­päi­schen Ver­fas­sung kann die Umver­tei­lung von oben nach unten, die Spal­tung in Arm und Reich, in Gewin­ner und Ver­lie­rer nicht gleich­gül­tig sein. Sie hat einen Rah­men zu schaf­fen für gerech­ten Aus­gleich. Die Ver­fas­sung darf auch nicht über innere Ero­sion der par­la­men­ta­ri­schen Par­tei­en­de­mo­kra­tien und die Dekadenz-Erscheinungen im staat­lich und wirt­schaft­lich abhän­gi­gen Kultur- und Medi­en­be­trieb hin­weg­ge­hen, die läh­mende Lethar­gie und Kon­for­mis­mus her­vor­ru­fen. Die Ver­fas­sung hat viel­mehr einen recht­li­chen Rah­men zu set­zen, der einer Erneue­rung der euro­päi­schen Kul­tur und Poli­tik­kul­tur Chan­cen gewährt.