Wilhelm Neurohr

Über 800 Menschen aller Altersgruppen aus 28 Ländern kamen in der ersten Augustwoche zur 5-tägigen „Europäischen Sommeruniversität“ ins Dreiländereck nach Saarbrücken, zu der das zivilgesellschaftliche Netzwerk von Attac erstmalig aufgerufen hatte. Auf der Suche nach einem gemeinsamen Weg zu einer demokratischeren EU wurde in Länderübergreifender Zusammenarbeit an konkreten Alternativen „für ein anderes Europa“ nach dem gescheiterten EU-Referendum in Irland gearbeitet. Wilhelm Neurohr berichtet als Teilnehmer.

In Hunderten von mehrsprachigen Seminaren und Workshops mit guter Atmosphäre wurde 5 Tage lang intensiv an einem erfolgreichen Aufbruch für ein „Europa von unten“ in einer sich verändernden Welt gearbeitet, begleitet von einem umfassenden Kulturprogramm, künstlerischen Aktivitäten und Meditation und gemeinsamem Singen sowie Menschenbegegnungen in täglichen Zeiträumen zum gegenseitigen Kennenlernen. Jedes Seminar wurde von Referenten aus mindestens zwei verschiedenen Ländern gemeinsam und mehrsprachig gestaltet. Vorbereitet wurden 15 Länderübergreifende Projekte mit gemeinsamen internationalen Kampagnen zur Bündelung von Kräften, denn das gemeinsame Handeln der 17europäischen Attac-Sektionen, die sich bislang in ihrem nationalen Rahmen Land für Land engagierten, stand als „Wendepunkt in der Geschichte von Attac“ im Vordergrund.

Neubegründung der EU auf der Basis sozialer und demokratischer Rechte

Das gemeinsame große Ziel ist die Neubegründung der EU auf der Basis von demokratischen und sozialen Rechten, nachdem die Iren und zuvor die Franzosen und Niederländer mit ihrem dreifachen Nein zu den EU-Verfassungs- und Reformverträgen „von oben“ die Ablehnung der neoliberalen und militärischen Projekte einer mit Europa einfach gleichgesetzten EU deutlich gemacht haben - stellvertretend für die an den Entscheidungen nicht beteiligten 500 Millionen Europäer. Europas Bürger haben bislang wenig zu sagen, wenn es um die Gestaltung und Zukunft Europas geht. Zugleich befinden sich die Galionsfiguren des europäischen Integrationsprozesses in der EU in einer tiefen Krise. Europa als ökonomisches Integrations- und Marktprojekt unter Vernachlässigung der sozialen und kulturellen Anliegen der betroffenen Menschen findet keinen Zuspruch.

Das inhaltliche Themenspektrum der Europäischen Sommeruniversität reichte deshalb von Fragen der Ethik der Globalisierung und der universellen Menschenrechte über soziale Grundrechte, demokratische Kontrollen und alternative Wirtschaftskonzepte bis hin zum Grundeinkommen für alle und zum Thema des Hungers in der Welt als strukturelles Problem. Die Auswirkungen der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise wurden beleuchtet mit dem Ziel der Schaffung eines Finanzsystems, das der Entwicklung der Menschen dient. Die Voraussetzungen für ein faires Welthandelssystem wurden erörtert und die Privatisierung des Wassers und der öffentlichen Güter stand auf dem kritischen Prüfstand. Ökologische Fragen von Klimawandel und Atomenergie bis gentechnikfreier Landwirtschaft und dezentraler Energieerzeugung standen ebenfalls auf dem Programm.

Europa ohne seine Bürger?

Im Vordergrund aber stand und steht die Überwindung des Demokratiedefizits in der EU und die aktuelle Debatte um die gescheiterte EU-Verfassung und den inhaltsgleichen Lissabonner Reformvertrag. Ein öffentliches Europäisches Forum, ein neuer Verfassungskonvent unter Bürgerbeteiligung und ein europaweites zeitgleiches Referendum über eine neue „Bürgerverfassung von unten“ sollen im Europa-Wahljahr 2009 angestrebt werden. Der zweite Schwerpunkt ist die „Entwaffnung der Finanzmärkte“ und des Weiteren sollen ein gemeinsames Netzwerk gegen die Privatisierung des Wassers und ein Europäisches Jugendnetzwerk gegründet werden. Auf einem europaweiten Aktionstag am 11. Oktober vor allen EU-Gebäuden und auf dem nächsten europäischen Sozialforum im schwedischen Malmö im September dieses Jahres sind das die Themenschwerpunkte. Auf breite Bürgerbeteiligung wird gehofft, dafür warb ich auch an meinem Bücherstand auf der Europäischen Sommeruniversität mit dem herausfordernden Titel: „Ist Europa noch zu retten?“[1]

Die Kluft zwischen Arm und Reich war in Europa noch nie so groß wie seit dem 50-jährigen Jubiläumsjahr der Europäischen Union. Trotzdem herrscht weiterhin der fundamentalistische Anspruch in Europa, alles nach einem einzigen wirtschaftlichen Prinzip formen zu wollen, obwohl dieses Prinzip erkennbar versagt. Für die immer größer werdende Zahl der ökonomischen Verlierer ist nicht erlebbar, dass Europa ein Gewinn für alle werden soll. Auch gegenüber den ärmeren Ländern in der Welt und deren Flüchtlingen begeht Europa Menschenrechtsverletzungen. Daraus kann kein gesunder Entwicklungsprozess für Europa und seine Menschen sowie für die übrige Welt erwachsen. Deshalb muss die Zivilgesellschaft selber die Frage beantworten: „Wer und was ist Europa, was ist es und wohin soll es sich entwickeln?“ Ab sofort reicht es nicht mehr, in einer europaweiten Zuschauerdemokratie auf Brüssel und die abgehobenen und befangenen Staatsmänner ohnmächtig zu starren, sondern initiativ zu werden.

Dafür steht das basisdemokratische Netzwerk Attac Deutschland mit seinen fast 20.000 Mitgliedern, das als Veranstalter der ersten Europäischen Sommeruniversität auf sein 10-jähriges Bestehen zurückblicken konnte und von vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen unterstützt wird, von Gewerkschaften, Arbeitsloseninitiativen, Eine-Welt-Gruppen, Migranten, Umweltorganisationen, Sozialen Dreigliederern, Friedensbewegten, Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty oder kirchlichen Gruppen wie Pax Christi, die auch die Sommeruniversität mitgestalteten. Weltweit gibt es Attac in 29 Ländern mit geschätzten 80.000 Mitgliedern, von denen auch Attac Marokko vertreten war.

Wie sehr jedoch den politischen Eliten die Europäische Sommerakademie ein Dorn im Auge war, zeigt die Weigerung der EU, Fördergelder zur Finanzierung der 200.000 € teuren Sommeruniversität zu genehmigen, mit dem fadenscheinigen Argument: „Die Folgewirkungen des Treffens seien zu wenig konkret.“ Zudem erhielten die eingeladenen Attac-Aktivisten aus Marokko, die dort mit Gefängnisstrafen und Misshandlungen zu kämpfen haben, als Teilnehmer kein Visum von den deutschen Behörden – obwohl deutsche Politiker gerne erklären, für wie wichtig sie die Stärkung der Zivilgesellschaft halten. Fortan ist verstärkt mit der Zivilgesellschaft in Europa zu rechnen.


[1] Wilhelm Neurohr: „Ist Europa noch zu retten? Wie die EU den Europa-Gedanken verfälscht. Wege zu einer europäischen Identität.“ Pforte-Verlag, März 2008