Wilhelm Neurohr

Die mehrheitliche Ablehnung des EU-Verfassungsvertrages durch die EU-Bürger in Frankreich und den Niederlanden 2005 sowie des nahezu inhaltsgleichen (grundgesetzwidrigen) Lissabonner Reformvertrages durch die Iren in 2008 wird von den politischen Eliten nicht akzeptiert, obwohl demokratisch und rechtsverbindlich zustande gekommen. Trotz anhängiger Verfassungsklagen nach dem im Bundestag beschlossenen Zustimmungsgesetz zur Umsetzung des EU-Reformvertrages hat Bundespräsident Horst Köhler im Oktober 2008 überraschend die deutschen Umsetzungsgesetze unterzeichnet, entgegen anders lautenden Ankündigungen. Bundeskanzlerin Merkel will die Europawahl 2009 nun mit einer „spannenden Auseinandersetzung über das Thema Subsidiarität“ gewinnen und der Verfassungsausschuss im Europa-Parlament will die europäischen Staatssymbole wie Hymne und Flagge „mit Stolz und Selbstvertrauen“ einfach in die Geschäftsordnung aufnehmen.

von Wilhelm Neurohr[1]

„Nach langer intensiver Prüfung“ hat der deutsche Bundespräsident Horst Köhler nach Aussage seines Sprechers am 8. Oktober 2008 die deutschen Gesetze zur Umsetzung des EU-Reformvertrages unterschrieben. Anders als die Kläger in Karlsruhe habe Köhler „keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken“ gesehen, die ihn an der Ausfertigung gehindert hätten. Wenngleich die völkerrechtliche Ratifizierung des Vertrages bis zur abschließenden Entscheidung Anfang 2009 weiter auf Eis liegt, hat der Bundespräsident damit auch die Karlsruher Richter, die bekanntlich für die „unabhängige“ dritte Gewalt im Staat nach Parteienproporz ausgesucht werden, möglicherweise in einen gewissen Entscheidungszwang gebracht. Werden deutsche Verfassungsrichter es nunmehr wagen, die verfassungsähnlichen EU-Reformverträge als in Teilen mit dem deutschen Grundgesetz für nicht vereinbar zu erklären - und sich damit dem Vorwurf der Behinderung des Fortganges der EU-Entwicklung ausgerechnet durch das größte EU-Mitgliedsland aussetzen?

Der Europaabgeordnete Jo leinen, Vorsitzender des Verfassungsausschusses für konstitutionelle Fragen im Europa-Parlament und Mitglied im Konvent für die EU-Grundrechtscharta, lässt sich weder vom Bürgervotum noch von dem ausstehenden Votum des höchsten deutschen Gerichtes bremsen. Sein EU-Verfassungsausschuss hat sich am symbolischen 11. September 2008 für die Aufnahme der europäischen Staatssymbole, also der Europahymne und –flagge in die Geschäftsordnung ausgesprochen. Diese sollen laut Jo Leinen in der „europäischen Bürgerkammer mit Selbstvertrauen und Stolz gezeigt werden“. Dabei ist bis heute nicht geklärt, was die EU mit dem voranschreitenden Integrationsprozess eigentlich sein will: Ein föderalistischer Bundesstaat, ein loser Staatenbund oder eine bloße Wirtschaftsunion als gemeinsamer Binnenmarkt (zuzüglich künftiges Militärbündnis?)

Europa als Bundesstaat oder als Staatenbund?

Seit langem streiten sich in der EU die „Intergouvernementalisten“ mit den Föderalisten. Die einen wollen einen Verbund dauerhafter souveräner Staaten, ein „Europa der Vaterländer“ ohne zunehmende Zentralisierung der Politik auf EU-Ebene (mit zunehmender Machtfülle für den EU-Ministerrat) und ohne Ausdünnung der Befugnisse der Mitgliedsstaaten. Die anderen streben einen europäischen Bundesstaat an mit vollständigen staatlichen Strukturen im Sinne klassischer Gewaltenteilung, also mit einem Parlament als souveräne Legislative und einer Regierung als souveräne Exekutive. Sie beklagen massive institutionelle Defizite bei den Organen und Entscheidungsverfahren auf der EU-Ebene. Manche Neumitglieder und Beitrittskandidaten würden sich auch mit einer bloßen Wirtschaftsunion anfreunden.

Momentan ist Europa ein ungeklärter Mix aus allem, mit einem Pseudo-Parlament, mit entmündigten Nationalparlamenten und einem von der allmächtigen Exekutive dominierten staatsähnlichen Überbau, also weit weg von einer Parlamentarischen Demokratie. Europa weiß nicht, was es eigentlich sein will, nur eines wird deutlich: Die EU als demokratisch nicht legitimierter „Superstaat“ und „Supermarkt“ ist weit weg von einer demokratischen Bürgerunion. Das macht es der Militär- und Wirtschafslobby leicht, Europa derweil nach ihren Interessen zu formen und zu steuern, bis hinein in die Verfassungs- und Reformverträge. Die über 30.000 Lobbyisten in Brüssel sind stattdessen die heimliche Regierung in Europa, wie auch die zivilgesellschaftlichen Organisationen Lobby-Control oder Transparency International immer wieder aufdecken.

Auf Demokratie, zumal auf direkte, plebiszitäre Demokratie, kann man dort wohl gerne verzichten, denn „alle Gefahr geht vom Volke aus“?. Im Mai 2005 lehnte der deutsche Bundestag mit einer Mehrheit von 96% eine Parlamentsvorlage zur Grundgesetzänderung ab, die eine Volksabstimmung zu den EU-Verträgen ermöglicht hätte, obwohl sich Umfragen zufolge 80% der Bürgerinnen und Bürger für ein Referendum ausgesprochen hatten.

Bundestagsabgeordnete völlig ahnungslos?

Für die deutschen Bundestagsabgeordneten sind die Gefährdung von Demokratie und Freiheit anscheinend nur Randthemen, obwohl der Bundestag als demokratisch gewählte Volksvertretung durch die EU-Exekutive und die darin eingebundene deutsche Regierung immer mehr entmündigt und entmachtet wird. Nach dem gescheiterten EU-Reformvertrag sollte die komplette Zuständigkeit für die Außenpolitik, Entwicklungspolitik, Handelspolitik und vor allem die Sicherheits- und Militärpolitik an die EU mit deren mächtigen EU-Außenkommissar übergehen, zuzüglich weiterer Ermächtigungen, ohne jede parlamentarische Beteiligung oder Kontrolle bei Militäreinsätzen.

Schon bisher werden etwa 85% aller Rechtsnormen für die Nationalstaaten zentralistisch von Brüssel direkt oder indirekt vorgegeben, mit Auswirkungen bis auf die kommunale Selbstverwaltungsebene. Auch was die eigene Regierung in Berlin nach Brüssel einspeist, hat der Bundestag nur noch im Nachhinein abzusegnen. In Europa wird somit die demokratische Gewaltenteilung und die Bürgerbeteiligung – zwei Wesensmerkmale von Demokratien - außer Kraft gesetzt, wie in autoritären oder diktatorischen Staaten. Bundestagspräsident Norbert Lammert äußerte dazu, dass die „Machtverschiebungen nach Brüssel das Ergebnis kalkulierten politischen Handelns seien“ und der demokratische Grundsatz der Gewaltenteilung „nicht ohne weiteres auf die EU zu übertragen“ sei.

Als der deutsche Bundestag zur Abstimmung über das Zustimmungsgesetz zum EU-Verfassungsvertrag aufgerufen war, hatten die ahnungslosen Abgeordneten den 400-seitigen EU-Vertragstext überhaupt nicht vorliegen, sondern bis auf die wenigen Verweigerer in allen Fraktionen blindlings zugestimmt. Für die Fernsehsendung Monitor war das Anlass, vor der Abstimmung mehrere Politiker der ersten Reihe (also keine Hinterbänkler) vor laufender Kamera zu fragen, ob sie denn einige wesentliche inhaltliche Eckpunkte dessen nennen könnten, was mit dem heutigen Beschluss an Kompetenzen vom Bundestag auf die EU übergeht. Fehlanzeige bei allen Spitzenpolitikern, die auch die zweite Frage nicht beantworten konnten, wie viele Sterne denn die EU-Flagge habe…[2]

Subsidiarität als Thema im Europawahlkampf 2009?

Bundeskanzlerin Merkel, die während Ihrer EU-Ratspräsidentschaft im 50. Jubiläumsjahr der EU federführend den Etikettenschwindel von der gescheiterten EU-Verfassung zum inhaltsgleichen EU-Reformvertrag vorangetrieben hatte und das anschließende „Nein“ der Iren nicht akzeptieren wollte, hat sich nun eine neue Strategie ausgedacht: Auf dem Deutschlandtag der Jungen Union im November 2008 verkündete sie, dass sie die Europawahl mit einer „spannenden Auseinandersetzung“ über das Thema Subsidiarität gewinnen will. Zuvor scheute sie mit den übrigen Staats- und Regierungschefs eine versprochene, aber unterdrückte öffentliche Auseinandersetzung zum Thema EU-Verfassung und Reformvertrag im Europawahljahr 2009 „wie der Teufel das Weihwasser“. Woher dieser Sinneswandel?

Das Subsidiaritätsprinzip gilt ja als Schutz vor einem vormundschaftlichen Superstaat, indem es Demokratie und Teilhabe von der untersten über die mittlere bis zur obersten demokratischen Entscheidungsebene gewährt. Die demokratischen Entscheidungsprozesse sollen ja in einem demokratischen Staatswesen von unten nach oben verlaufen und nicht umgekehrt), vom Individuum und der örtlichen oder regionalen Selbstverwaltungsebene über die Länder und die Staaten zum europäischen Staatenverbund. Genau daran krankt ja das Europa der EU, dass eben nicht die untergeordneten Einheiten Vorrang vor der nächst höheren und höchsten haben. Eine überstaatliche oder staatliche Ebene soll nicht das regeln, was die darunter liegende bewältigen kann. Die Umkehrung dieses Prinzips ist ja das Demokratie gefährdende Krankheitssymptom, der Konstruktionsfehler der historisch gewachsenen EU. Will die Bundeskanzlerin ernsthaft die EU neu erfinden und vom Kopf auf die Füße stellen und demokratisieren? Allein, es fehlt der Glaube!

Als bloßer politischer Leitsatz erweist sich das Lippenbekenntnis zur Subsidiarität als stumpfes Schwert gegen die in 50 Jahren verfestigten undemokratischen EU- Strukturen, in denen die wichtigsten Entscheidungen der demokratischen Kontrolle entzogen werden. Im EU-Verfassungsvertrag oder Lissabonner Reformvertrag, für den Frau Merkel sich geradezu verbissen eingesetzt hat, steht das genaue Gegenteil: Mehr Macht und Kompetenz für die Brüsseler Zentrale und weniger Initiativ- und Kontrollfunktion für die Parlamente der nachfolgenden Ebenen.

Entdemokratisierung, Militarisierung, Ökonomisierung und Kommerzialisierung Europas

Schlimmer noch: Neben Demokratie-Abbau geht es der EU um eine Militarisierung der Europa-Politik, um die verfassungsmäßige Festschreibung neoliberaler Wirtschaftsausrichtung (trotz des Aufwachens nach der Finanzmarktkrise?), um einen Abbau sozialer Rechte und sozialstaatlicher Prinzipien in Europa, um eine Privatisierung öffentlicher Dienste und Einrichtungen, die eigentlich der Gewährleistung der allgemeinen Menschenrechte dienen (wie freier Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen, zu menschenwürdigen bezahlbaren Wohnungen, zu Energie und Wasser unabhängig von der Zahlungsfähigkeit, zur Verkehrsinfrastruktur, zu Sozialeinrichtungen usw.). Der Umweltschutz ist kaum ein Thema trotz der Lippenbekenntnisse zum Klimawandel, und die Dominanz von Politik und Wirtschaft über die Kultur wird eher verstärkt als entflochten.

Der Versuch, diese Fehlentwicklungen in Vorträgen und Aufsätzen sowie vor allem in meinem vielfach rezensierten[3] Buch „Ist Europa noch zu retten?“ , das im Frühjahr 2008 erschienen ist, aufzuzeigen und Alternativen für ein europäisches Leitbild darzulegen, hat zu unterschiedlicher Resonanz geführt: Während die Europa-Referentin der Bundeskanzlerin, Dr.Undine Ruge, sowie der Europa-Berater der Kanzlerin, Prof. Dr. Kühnhardt vom Zentrum für Europäische Integrationsforschung mein Buch als „anregende Streitschrift“ mit Interesse zur Kenntnis genommen haben, hat der zitierte Europa-Abgeordnete Jo Leinen mir mitgeteilt, dass er nach der Lektüre von 70 Seiten das Buch zornig zur Seite gelegt habe wegen des vermeintlichen „Rundumschlages“ gegen die EU. Wie so oft, werden EU-Kritiker als „EU-Gegner“ in die Ecke der „Nationalstaatler“ gestellt, weil man sich ein anderes Europa mit den Bürgern von unten nicht vorzustellen vermag. Europa-Kritik ist so verpönt, dass auf einen kritischen Aufsatz von mir in einer Wochenschrift sogleich ein hoher Militärstratege aus der Nato sowie ein jetzt pensionierter Direktor bei der EU-Kommission und ein Mitarbeiter des Straßburger Europaparlamentes sowie einige Lobbyisten auf meinen Aufsatz unisono entgegneten und jedwede demokratische Bürgerbeteiligung zum EU-Reformvertrag für entbehrlich erklärten.

Ein positives Echo erhielt ich zu meinem Buch von Prof. Dr. Gesine Schwan (vormals Präsidentin der Europa-Universität Viandrina), von Prof. Dr. Klaus Buchner und Prof. Dr. Thomas Meyer (Buchautor: „Die Identität Europas. Europa eine Seele“), aber auch von Oskar Lafontaine bis Tobias Pflüger (Europaabgeordneter der Linksparte), bis hin zur Gerald Häfner, dem Bundessprecher von „Mehr Demokratie e.V.“, die sich für ein Referendum zu den Europa-Verträgen einsetzen unter dem Motto: „Europa – nicht ohne uns!“ Darum geht es, wenn sich die Wirtschaftsunion in eine Bürgerunion wandeln soll: um mehr Demokratie in einem Europa der Bürger. Deshalb sollten wir im Europawahljahr 2009 eine öffentliche Leitbild-Debatte über Ziel und Weg Europas anstoßen, um das nachzuholen, was in den letzten 50 Jahren im Europa der Staatsmänner und der Konzerne versäumt worden ist.

Angaben zur Person: Wilhelm Neurohr, Jahrgang 1951, nach Berufsausbildung im Bergbau Studium der Architektur, der Stadt- und Regionalplanung, der Ökologie und Verwaltungs- und Wirtschaftswissenschaften; Dipl.-Ing. für Städtebau und Landesplanung im Amt für Planung und Umweltschutz einer Kommunalverwaltung im nördlichen Ruhrgebiet; seit 14 Jahren Personalratsvorsitzender für 1500 Beschäftigte einer Kreisverwaltung; zivilgesellschaftliches Engagement in sozialen und Umweltinitiativen; zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema Globalisierung und Europa; Buchautor.


[1] Autor des Buches: „Ist Europa noch zu retten? Wie die EU den Europa-Gedanken verfälscht. Wege zu einer europäischen Identität“. Pforte-Verlag 2008, ISBN 978-385636-194-5,

sowie Verfasser der „7 Thesen zur nachhaltigen Zukunft Europas – Ein Beitrag zu einem europäischen Leitbild“, www.sozialimpulse.de

[2] Als Videoclip sind die peinlichen Interviews im Internet anzuschauen unter http://daserste.ndr.de/panorama/media/euverfassung100.html.

[3] Ausführliche Rezension in www.themen-der-zeit.de