Wilhelm Neurohr

Im Neuen Jahr 2007 feiert Europa den 50. Jahresvertrag der Römischen Verträge als Geburtsstunde der Idee Europa, begleitet von Schulprojekttagen, Europäischen Konzerten und Kunstfestivals. Im ersten Halbjahr 2007 wird die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel den EU-Ratsvorsitz übernehmen und zum europäischen „Geburtstagsgipfel“ am 25. März nach Berlin einladen. Ihr Hauptanliegen: Der umstrittene und 2005 an den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden gescheiterte Entwurf der EU-Verfassung soll in der Substanz unverändert von oben wieder belebt werden – ohne Reflexionsphase und zum Verdruss der nicht einbezogenen, aber wachen Zivilgesellschaft: Diese will ein anderes Europa als die „europäische Elite“ und einen Verfassungsprozess von unten. Die Menschen in Europa stehen am Beginn eines Entscheidungsjahres mit wichtigen Weichenstellungen für Europas Zukunft.

Für die meisten Menschen in Europa wird immer deutlicher, dass die „europäische Elite“ unter schwerwiegenden demokratischen Mängeln mit ihrer anhaltenden Politik über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger hinweg unsere gemeinsame Zukunft gefährdet. Es ist zu hoffen, dass sich die Menschen in Europa der Tragweite der jetzt anstehenden erneuten Auseinandersetzungen über den Verfassungsvertrag im Zeitraum bis zu den nächsten EU-Parlamentswahlen in 2009 bewusst werden. Der bereits von 18 Mitgliedsstaaten – davon nur 2 mit Volksabstimmungen - ratifizierte Verfassungsentwurf von 482 Seiten Umfang mit 448 Vertragsartikeln liest sich streckenweise wie ein Wunschkatalog von neoliberalen Wirtschafts- und Rüstungslobbyisten mit demokratischen Defiziten.

Europa der Vielfalt statt der einheitlichen Lebensverhältnisse

Die Idee Europa nach demokratischen, sozialen und solidarischen Prinzipien mit menschenwürdigem Antlitz verkommt darin zu einem Zerrbild eines vereinigten Staatengebildes, einseitig auf Marktideologien und militärische Aufrüstungsverpflichtungen fixiert, mit der Fortsetzung eines entmündigten EU-Parlamentes und mangelnder demokratischer Beteiligungsrechte. Der EU-Verfassungsentwurf bleibt hinter den Grundrechtsniveau der einzelnen Staaten größtenteils zurück. Die zentrale Macht der zentralen EU-Institutionen und Bürokratien soll demgegenüber noch weiter gestärkt werden, mit dem Ziel der Vereinheitlichung statt der Differenzierung der Lebensverhältnisse in einem Europa der Vielfalt.

Von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Stärkung der individuellen Grund- und Menschenrechte kaum ein Spur: Der in einem nur scheinbar demokratischen Verfahren aufgestellte monströse Entwurf sollte wohl von den Bürgerinnen und Bürgern weder gelesen noch verstanden werden, anstatt deren Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden unter intensiver Beteiligung in einen zukunftsfähige Grundrechtsrahmen zu gießen. Da der EU-Verfassungsvertrag die Souveränitätsverhältnisse berührt, bedarf er der direkten Legitimation der betroffenen Menschen durch Volksabstimmungen in allen EU-Staaten. Stattdessen werden Machtstrukturen ohne demokratische Legitimation verfestigt, falsche Wirtschaftstheorien werden zur Verfassungsnorm erhoben, ohne Sozialverpflichtung des Eigentums und mit Vorrang für Marktprinzipien und Konkurrenzwirtschaft zwischen Erwerbsabhängigen.

Militärische Aufrüstungsverpflichtungen als Verfassungsnorm lassen einen neuen Euro-Imperialismus befürchten. Schon heute ist Deutschland als größtes EU-Land weltweit beim Waffenhandel auf Platz 4, mit Steigerungsraten um 40% und mit Rüstungsausfuhren ohne Rücksicht auf Menschenrechte in 16 mehr als bedenkliche Krisenregionen und Entwicklungsländer, wie zum Jahreswechsel ein kritischer Bericht der beiden großen christlichen Kirchen offen legte. Schon jetzt liegt Deutschland beim Verteidigungsbudget hinter den großen Weltmächten auf Rang 6 und gibt pro Kopf der Bevölkerung mit 300 € mehr für die Rüstung aus als die Weltmacht China.

Fehlendes Vertrauen der Bürger in Europa

Auch wenn nun die EU-Erweiterung von 6 Gründungsstaaten vor 50 Jahren auf 27 Staaten in 2007 vom amtierenden EU-Kommissionspräsidenten Borroso als die „größte Errungenschaft der europäischen Geschichte“ bezeichnet wird, so ist das fehlende Vertrauen der Bürger in eine abgehobene EU-Bürokratie mit einflussreichen Lobbygruppen der Hauptgrund für die Krise der EU, die im Geburtstagsjahr 2007 mit einem „weiter so“ überspielt werden soll. Dabei hat das Scheitern des EU-Verfassungsvertrages – dank der französischen und niederländischen Bürgerinnen und Bürger – auch das Scheitern der bisherigen EU-Politik offen gelegt. Deren Ursachen wurden nicht angegangen, sondern die EU wird unverdrossen und pauschal als „Erfolgsprojekt“ ausgegeben.

Die soziale Frage und das europäische Sozialmodell sind kein Thema, ebenso wenig wie eine europäische Antwort auf die Globalisierung, jenseits der wirtschaftlichen und machtpolitischen Konkurrenzkämpfe mit anderen Erdteilen aus der Position als „größter und mächtigster Binnenmarkt der Welt“. Als thematische Jahresschwerpunkte für 2007 hat die amtierende EU-Ratspräsidentin Merkel vor allem die Außen- und Handelspolitik und die Energie- und Klimapolitik angekündigt, weil hier die nationalen und die Lobby-Interessen ausschlaggebend sind. Die Kritiker werden als Europa-Gegner oder Nationalisten diffamiert, obwohl sie „für ein anderes Europa“ eintreten – für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger von unten.

Ein anderes Europa ist möglich

Die wirklichen Zukunftsfragen Europas müssen jetzt von den Menschen in Europa selber in die Hand genommen werden, dezentral, europaweit an vielen Orten zu gleicher Zeit von unten, nach dem Vorbild der regionalen „Ateliers de Participation“ infolge des Verfassungsstreites. Das Gedenken an die römischen Verträge vor 50 Jahren – damals ging es zunächst ausschließlich und einseitig um die europäische Wirtschafts- und Atomgemeinschaft – sollte den Blick von der Vergangenheit in die Zukunft lenken: der Traum von Europa ist noch lange nicht realisiert. Jetzt beginnt erst die bisher versäumte Diskussion über ein fehlendes Leitbild von Europa in der Zivilgesellschaft.

Denn Europa ist mehr als nur eine bloße Interessengemeinschaft, ein Staatenbündnis, ein Militärbündnis und ein großer Binnenmarkt als eine Art „Supermarkt“. In den Köpfen und Herzen der Menschen ist die kulturelle Idee vom friedlichen Europa die Idee der grenzenlosen Freiheit im Geistesleben, der Gleichheit im Rechtsleben und der Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben – und diese reicht geistig und weltbürgerlich über die Grenzen des Kontinentes weit hinaus mit der solidarischen Verantwortung für die gesamte Welt. Dieser europäische Geist sollte an den Europa-Projekttagen am 22. Januar in die Schulen hineinwehen anlässlich des 50. Jahrestages der Geburt des neuen Europa, die erst noch vollzogen werden muss durch die Jugend Europas.