Wilhelm Neurohr

In seinem Interview mit dem Medienhaus Bauer vom Aschermittwoch wiederholt SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück das Mantra seiner positiven Bewertung der umstrittenen Agenda 2010 der rot-grünen Regierungsära von 1998 bis 2005. Er lobt den „reformfähigen“ Kanzler Gerhard Schröder ausdrücklich für seine damit erworbenen „Verdienste“ für den „wirtschaftlichen Erfolg“. Lediglich ein paar „Umsetzungsfehler“ bei der „Reformpolitik“ seien im Nachhinein zu beklagen.

Es gehört schon einige Unverfrorenheit dazu, Sozialabbau und finanzielle Umverteilungspolitik von unten nach oben als „positive Reformpolitik“ zu verkaufen. Und ein Millionenheer von Arbeitnehmern in prekären Beschäftigungsverhältnissen sowie die steigende Armutsquote mit 15 Mio. Betroffenen als „wirtschaftlichen Erfolg“ zu verkaufen, da bliebt einem geradezu „die Spucke weg!. Die unverfälschte Arbeitslosenstatistik geht nach Berechnungen des DGB von 6 Millionen Arbeitslosen in Wirklichkeit aus. Und „wirtschaftlichen Erfolg“ verzeichnen nur die wenigen Profiteure der Agenda-2010-Politik, deren Millionenvermögen in schwindelerregende Höhen steigt und in schädliche Finanzmarktspekulationen angelegt wird, während Staat und Kommunen und deren Bürger immer mehr verarmen, wie der letzte Armuts-Reichtums-Bericht offenbarte.

Offenbar ist schon in Vergessenheit geraten, dass zur „Agenda 2010“ neben Hartz IV auch die „Stärkung des Börsenstandortes Deutschlands“ unter den SPD-Finanzministern Steinbrück und Eichel gehörte, mit der Deregulierung der Finanzmärkte und der Freigabe von Hedgefonds etc., eine Hauptursache der anhaltenden Finanzmarktkrise. Kernstück der Agenda 2010 war auch die „Jahrhundert-Steuerreform“ von Finanzminister Eichel. Allein die Senkung der Spitzensteuersätze um 11% zugunsten der Vermögenden und andere Steuersenkungen hatten jährlich 53 Mrd. € Einnahmeverluste für Staat und Kommunen zur Folge. Quasi über Nacht konnten die Kommunen danach ihre Gemeinschaftsaufgaben nicht mehr finanzieren und gerieten in nie dagewesene Verschuldung. Ebenso stieg der Schuldenstand des Staates drastisch und wurde mit Streichung von Sozialleistungen kompensiert. Und heute redet die SPD in ihrem Wahlprogramm scheinheilig wieder von „Steuergerechtigkeit“ und „Finanzmarktregulierung“?

Mit den Hartz-IV-Gesetzen wurden plötzlich nach Betriebsschließungen die arbeitslos ge-wordenen Arbeitnehmer − wie etwa die Lidl-Frauen, die Nokia-Beschäftigten oder demnächst die Opel-Männer − zu „Schuldigen“ an ihrem Schicksal statt zu Opfern der neolibera-len Arbeitsmarktpolitik erklärt, indem sie sich den Erniedrigungen und gesetzlichen „Schikanen“ von Hartz IV unterziehen müssen. Dabei gibt es keine einzige seriöse wissenschaftliche Untersuchung, die angebliche „Erfolge“ von Hartz IV für die Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung nachweist – im Gegenteil: Die jüngste Studie des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und der Universität Leipzig kommt zum eindeutigen Ergebnis: Hartz IV hat weder zu einer Verkürzung der Arbeitslosendauer noch zu einer Verbesserung der Vermittlung geführt. Dementsprechend mager sieht auch die „Erfolgsquote“ der Jobcenter aus. Steinbrücks Lobhudelei über die Agenda 2010 ist also Lüge oder Wählertäuschung.

Damit wissen wir definitiv, was uns auch von der nächsten rot-grünen-Regierung unter einem Kanzler Steinbrück erneut erwarten würde, die uns mit einem Wahlprogramm „für soziale Gerechtigkeit“ täuscht. Die gutgläubige Parteibasis soll bloß nicht hinterher wieder sagen: „Das haben wir ja alles nicht gewusst“. Auch Schröder hatte sich nach seiner Wahl komplett vom SPD-Wahlprogramm verabschiedet. Wie Schröder mit seiner „Basta-Politik“ die Parteibasis in Zaum hielt, will es Steinbrück mit der „Beinfreiheit“. Gemeint ist dasselbe…