Wilhelm Neurohr

Zur Kritik von Bertram Batterewitz auf meinen Leserbrief zur außerparlamentarischen Opposition möchte ich gerne entgegnen: Mir lag es fern, die damalige 68-er Bewegung als soziale Protestbewegung pauschal zu diskriminieren oder ihre historischen Verdienste zu schmälern, indem ich auch die nicht zu leugnenden Schattenseiten erwähnte. Sehr viele Beteiligte waren damals von emanzipatorischen und antiautoritären Anliegen bewegt, die in der Tat zum Aufbrechen verkrusteter gesellschaftlicher Strukturen geführt haben, die heute noch (leider immer schwächer) positiv nachwirken. Viele Aktionsformen und ganze Denkschulen haben die Kritikfähigkeit und Zivilcourage gefördert und der Demokratie weitergeholfen. Sie wurden als Befreiungsschlag in einer erstarrten Gesellschaft empfunden. Dahinter sollten wir heute nicht zurückfallen.

Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass ganz viele damalige Aktivisten (insbesondere aus dem studentischen Milieu) - zumeist als Söhne und Töchter aus den gehobenen bürgerlichen und akademischen Schichten - von sehr ideologischen Grabenkämpfen in Flügeln und Fraktionen geprägt waren. Der federführende SDS (Sozialistische Deutsche Studentenbund) spaltete sich bekanntlich 1968 in viele kleine kommunistische Splittergruppen, darunter viele Sympathisanten auch des Stalinismus und Maoismus, also des zerbrochenen oder zerbrechenden real existierenden Sozialismus mit seinen inakzeptablen Menschenrechtsverletzungen. Allein der ermordete Rudi Dutschke blieb bei alledem eine Art charismatische „Lichtgestalt.“ Derweil spaltete sich ein kleiner Teil in Splittergruppen ab und ging in den (terroristischen) Untergrund mit einem großen offenen und heimlichen Sympathisantenkreis.

Anders als etwa in Frankreich blieb in Deutschland die APO eine reine Studenten- und Schülerbewegung, ohne Verbindung zu Gewerkschaften oder zur arbeitenden Bevölkerung. Selber war ich 1968 gerade als 16-jähriger in meinem Bergmannspraktikum unter Tage (am Ende meiner schon mit 13 Jahren begonnen Lehrzeit). Erst später auf dem 2. Bildungsweg war ich selber stellv. Asta-Vorsitzender an einer Hochschule und habe Demonstrationen mit organisiert. Was mir im Laufe der Jahre auch im persönlichen Umfeld auffiel: Die meisten der damaligen APO-„Mitläufer“ aus den gutbürgerlich-akademischen Schichten, so möchte ich sie nennen, sind im Laufe ihrer Biografie und Sozialisation wieder in das damals geschmähte „Establishment“ heute zurückgefallen und haben es sich dort unpolitisch bis spießig bequem gemacht. Der schillernde Mitbegründer von SDS und RAF, Horst Mahler, landete 1997 sogar ganz rechts außen bei der NPD.

Manche damalige Wortführer wie z. B. auch Jürgen Trittin, Otto Schily (früherer RAF-Anwalt) und Joschka Fischer hatten als etablierte Politiker fragwürdige Kriegseinsätze befürwortet, Basisabstimmungen in der grünen Alternativ-Partei verhindert oder als Innenminister bürgerliche Freiheiten der vermeintlichen Sicherheit geopfert. Heute ist Joschka Fischer als Unternehmensberater und Lobbyist für die Autofirma BMW, den Energieversorger RWE und die Nabucco-Pipeline tätig. Und Otto Schily sitzt heute im Aufsichtsrat einer Firma, die Personalisierungen von Ausweisdokumenten betreibt - was er zuvor als Innenminister veranlasst hatte. Das war der erfolgreiche „Marsch durch die Institutionen“? Auch Gerd Schröder war 68er…

Deshalb habe ich zu Recht darauf hingewiesen, lieber Bertram Batterewitz, dass jede Zeit ihre eigenen (glaubwürdigen) Protest- und Aktionsformen benötigt. Mit Nostalgie auf die Alt-68-er zurückzublicken, hilft uns heute in der etablierten „Zuschauerdemokratie“ nicht weiter. Ebenso nicht die alten ideologischen Einteilungen in „links“ und „rechts“, die ich für mich nicht gelten lasse. Traurig allerdings, dass meinem Kritiker Bertram Batterewitz für die heutige Zeit keine neuen Aktionsformen einer neuen zivilgesellschaftlichen „außerparlamentarischen Opposition“ einfallen als ein wenig zu Twittern oder alternativ und phantasielos die der Alt-68ervon denen viele heute als „Toskana-Fraktion“ ein selbstzufriedenes „Schickeria-Dasein“ führen oder sich ungeniert dazu bekennen, ihr Kreuz für Frau Merkel gemacht zu haben…