Wilhelm Neurohr

Zur öffentlichen Debatte um die Begnadigung von Christian Klar

In den letzten Wochen hat wohl kaum ein Thema die Gemüter in Deutschland mehr erhitzt als die polarisierende öffentliche Diskussion um Schuld und Sühne, um Verurteilung und gerechte Strafe, um Täter und Opfer sowie um Gnade und Reue – zutiefst menschheitliche, schicksalhafte und karmische Fragen. Anlass war der politische Streit um die aktuelle Frage der Begnadigung des seit 24 Jahren inhaftierten Christian Klar, der vor 30 Jahren als Mitglied einer terroristischen Vereinigung wegen Beihilfe an drei Morden zu lebenslänglicher Haft mit Sicherungsverwahrung verurteilt worden war. Ist es überhaupt Sache der Politik und des Staates, über das gerechte Strafmaß oder seine Verkürzung zu befinden? Und geht es darum, die (unverzeihliche) Tat zu begnadigen oder den Menschen, damit ihm aus humanitären Gründen noch etwas von seiner Biografie verbleibt?

Die damalige Verurteilung zu fünfmal lebenslänglich plus 15 Jahre Haft und Sicherungsverwahrung – noch heute wird der 54-jährige, gebrochen wirkende Häftling Christian Klar bei Besuchen seiner alten Mutter in Fußfesseln vorgeführt – war die Reaktion auf die (politisch-ideologisch motivierte) Ermordung von 3 Menschen durch mehrere Täter, deren terroristische Attentaten damals das Volk und seine politischen Eliten jahrelang erzittern ließen in einer politisch polarisierten Zeit. Entsprechend polarisiert und hysterisch werden auch die heutigen politischen Diskussionen um den Gnadenakt geführt, mit einer Art „anhaltendem Schrei nach Rache“, über Jahrzehnte zurückliegende Vorgänge, die der jüngeren Generationen nur noch aus den Geschichtsbüchern bekannt ist und deren ältere Zeitzeugen teilweise nicht mehr leben. „Gnade vor Recht“ fordert einen stillen Ausgang der Geschichte, keine aufgeregte öffentliche Diskussion in politisch-populistischen Kategorien, will man dem ganzen im Nachhinein noch einen lehrreichen Sinn verleihen, um Nachahmungen vorzubeugen und das Strafrecht zukunftsfähig zu gestalten.

Gleichheit vor dem Gesetz: „Begnadigt wird der Mensch, nicht die Tat“

Die damaligen Ereignisse waren ein Lehrstück dafür, wie politische Ideale sich in ideologischem Fanatismus wandeln können, der auch vor Menschenleben nicht halt machte. Vieles ist geschrieben worden über die Bografie und Sozialisation der Täter in einem teilweise von Sympathisanten mitgetragenen politischen Umfeld. Demgemäß lösten die spätere Gefangennahme und Verurteilung der Terroristen, die in Hochsicherheitstrakten untergebracht und mit drastischen Strafen versehen wurden, öffentliche Debatten um „eine politische Verurteilung“ aus, so wie derzeit auch die aktuellen Diskussionen über eine Begnadigung wiederum in polarisierende politische Diskussionen ausarten, obwohl ein Gnadenakt unterschiedslos – vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich - den Sinn oder die Sinnlosigkeit der Fortsetzung einer Haftstrafe unter Betrachtung der Täterpersönlichkeiten und ihrer Gefährlichkeit oder Ungefährlichkeit zu prüfen hat.

Hat also die abgebüsste Haftstrafe von Christian Klar nach 26-jähriger Dauer unter dem Gesamteindruck des Inhaftierten weitgehend ihren Sinn erfüllt oder sind von ihm auch in Zukunft terroristische Mordtaten zu erwarten, wie von den Gutachtern eindeutig verneint? Zu Anfang haben sich die Häftlinge selber und die Sympathisanten der terroristischen Mörder ihnen den Status als „politische Häftlinge“ zu verschaffen versucht, um die Täter als Opfer des politisch missbrauchten Rechtssystems darzustellen. Viele Argumente in der damaligen politischen und öffentlichen Diskussion und in den Gerichtsverhandlungen sowie die verschärften Sonderbedingungen der Haft und das Strafmaß „im Namen des Volkes“ konnten durchaus diesen Eindruck entstehen lassen oder ihn zumindest nicht ganz ausräumen. Umso wichtiger, dass die Diskussion um den Gnadenakt nicht erneut in diesem politischen Argumentationsmuster geführt wird, in das sie längst wieder hineingekommen ist.

Zwar ist richtig: Mord bleibt Mord, dafür gibt es keine mildernden politischen Rechtfertigungen. Ebenso richtig ist: Täter ist Täter, da darf es für ein politisches Tatmotiv keine nachteilige Unterscheidung geben, auch wenn sich 71% der Bevölkerung laut Umfragen gegen eine vorzeitige Haftentlassung von Christian Klar aussprechen. Doch Urteilssprüche und Begnadigungen sind eine Menschheitsfrage, keine Mehrheitsfrage. „Begnadigt wird nicht die Tat, sondern der Mensch“ so drückte es der Filmemacher Volker Schlöndorff zutreffend aus. Dies ist aber nur gewährleistet, wenn sich der politische Staat aus der Rechtsprechung und Begnadigung heraushält, denn Richten (und Begnadigen) ist eigentlich keine Staatsaufgabe, sondern Angelegenheit eines unabhängigen Geisteslebens mit persönlicher Unabhängigkeit des Strafrichters, der von dem zu Bestrafenden eigentlich selber gewählt werden müsste, wie wir in den „Kernpunkten der sozialen Frage“ bei Rudolf Steiner nachlesen können.

Die okkulte Kraft der Versöhnung und Verzeihung

Die Frage, ob Christian Klar begnadigt werden soll, kann nicht davon abhängig gemacht werden, dass er seiner aufrechterhaltenen antikapitalistischen Meinung abschwört, wie es einige Politiker in Staatsämtern öffentlich fordern, oder davon, ob er öffentlich Reue und Entschuldigungen sowie Distanzierung von der Tat zuvor zum Ausdruck bringt im Umgang mit der eigenen Vergangenheit und Lebensgeschichte und seinen subjektiven Beweggründen. Hier ist Christian Klar, Sohn eines Lehrerehepaares aus gutbürgerlichem Hause, Gefangener seiner selbst, denn mit der menschlichen Schuld muss der Täter alleine fertig werden.

Die politische Aufregung um den Gnadenakt ist sicherlich nicht losgelöst von den prominenten politischen Opfern und den politischen Motiven der Straftäter erklärlich. Nicht ohne Grund springen die befangenen Politiker auf den öffentlichen Zug der Entrüstung. Opfer waren bekanntlich der damalige Arbeitgeberpräsident Hans-Martin Schleyer, dessen Witwe sich gegen die Begnadigung der Mörder ausspricht, der Generalbundesanwalt Martin Buback, dessen Sohn für eine Begnadigung der Mörder seines Vaters erklärtermaßen Verständnis hätte, und den Vorstandsvorsitzenden der Dresdener Bank, Jürgen Ponto. Der langjährige Präsident des Bundesverbandes der Industrie, Olaf Henkel, vertritt die Auffassung, dass Menschen, die ihre Strafe dafür bekommen haben, auch eine Chance erhalten sollen.

Es geht also nicht darum, dem Mörder – nachgewiesen wurde nur die Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord, da die Terroristen über die Todesschützen beharrlich schwiegen – seitens des Volkes oder Staates zu verzeihen. Die einzigen, die Versöhnung oder Verzeihung hätten aussprechen können, sind die verstorbenen Opfer selber. Es bleibt der Blick auf die okkulte Kraft des Verzeihens durch die Betroffenen. Der Staat und Teile des Volkes fühlen sich erneut in ihrem inzwischen verfestigten „kapitalistischen System“ angegriffen, das heute noch weniger als damals politisch in Frage gestellt werden darf, geht es nach der Meinung von Medien und vieler Politiker in der Diskussion um den Gnadenakt. Allzu gerne würden manche die Globalisierungskritiker der Zivilgesellschaft politisch in die geistige Nachfolge des terroristischen Gedankengutes von damals zwängen, wie auch die drakonischen Sicherheitsmaßnahmen mit Stacheldrahtzäunen und Videokameras rund um Heiligendamm als Veranstaltungsort des bevorstehenden G-8 Gipfels der Staatschefs der größten Industriestaaten dokumentieren. An dieser Stelle beginnt eine neue Polarisierung. Der ehemalige Bundesinnenminister Gerhard Baum, der schon damals für eine Liberalisierung des so genannten „Radikalenerlasses“ eintrat, ist der Meinung, dass auch der Staat nicht unversöhnlich sein kann bei einem Urteil, dass „im Namen des Volkes“ ausgesprochen wurde.

Zukünftige Rechtsprechung zugunsten des Individuellen

Wenn die breite öffentliche Diskussion um die Fragen von Schuld und Sühne, um Täter und Opfer sowie um Urteile, um Gnade und Recht einen Sinn haben kann, dann diesen, über die Notwendigkeit der Strafe als soziales Krankheitssymptom und über das Richten als Antwort auf Nichtsoziales nachzudenken. Es ist über die Zurechnung des Richtens zum Geistesleben statt zum politischen Rechtsleben zu diskutieren, denn Richten ist keine politische Staatsaufgabe von Richtern als Staatsbeamte, sondern das Strafurteil ist Teil des Geisteslebens. Die individuelle Wahl des eigenen, persönlich unabhängigen Richters durch den Angeklagten und sein Richten losgelöst von dessen gesellschaftlichen und sozialen Verhältnissen und von dem alten theokratischen Vergangenheits-Symbol der Talare wäre sachdienlich und menschendienlich. Psychologie und Menschenkenntnis sind entscheidender als Gerichtsakten und Allerweltsverständnis hilfreicher als ein Sachverständigenurteil. Die Einbeziehung auch vorgeburtlicher Gesichtspunkte und der Zusammenhänge von Reinkarnation und Karma brächte auch ein Licht auf die Täter-Opfer-Beziehung und den möglichen Ausgleich von Schuld, darauf weist uns Rudolf Steiner in verschiednen Vorträgen und Aufsätzen sowie in den Kernpunkten der sozialen Frage hin. Es geht also im Strafrecht um eine Erweiterung des freien Geisteslebens, um eine zukünftige Rechtsprechung zugunsten des Individuellen, nicht um seine ideologische Beeinflussung oder Einengung durch Staat und Politik, dies macht uns die Diskussion um die Begnadigung von Christian Klar einmal mehr klar und deutlich.