Wilhelm Neurohr

„Der Staat soll sich bei den Mindestlöhnen heraushalten“ – so lautete die Überschrift des Leitartikels auf der Titelseite vom 23. November. Haben die so zitierten Wirtschaftsvertreter und -lobbyisten, die gegen einen gesetzlich geregelten Mindestlohn für die 8 Millionen unterbezahlten Arbeitnehmer lauthals Sturm laufen, noch nie etwas vom „Primat der Politik“ gehört? (Auch wenn wir de facto längst ein Primat der Wirtschaft haben, dem sich die Staatspolitik verfassungswidrig unterwirft).

In unserer parlamentarischen Demokratie ist laut Verfassung das Volk der Souverän, vertreten durch die gewählten Volksvertreter (oder mittels souveräner Volksabstimmungen per Plebiszit). Die staatlichen Institutionen handeln folglich in unserem Auftrag und Interesse. Sie vollziehen unseren Willen und sie werden durch uns kontrolliert – schon vergessen?

Wir haben früher in der Schule im „Staatsbürgerkunde“-Unterricht – so ein sinnvolles Unterrichtsfach gab es damals tatsächlich im Lehrplan – noch gelernt: „Der Staat sind wir – wir sind der Staat“!

Wenn nun mit dem Ruf nach „weniger Staat“ gefordert wird, „der Staat solle sich gefälligst heraushalten aus den Fragen der Lohngerechtigkeit“, dann ist ja in Wirklichkeit damit gemeint: Wir sollen uns heraushalten – wir, die betroffenen Staatsbürger, für die der Staat eingerichtet wurde und um die es bei allem geht. Und solche antidemokratische Forderungen lassen wir unwidersprochen?

Das könnte den Interessenverbänden der Wirtschaft so passen, die dafür gesorgt haben, dass unser reicher Staat der einzige in ganz Europa ist ohne Lohnzuwächse in den letzten 10 Jahren, also mit anhaltender Lohnstagnation – nicht zuletzt auch wegen der bei uns feh-lenden Mindestlöhne, die es ebenfalls in allen anderen EU-Ländern gibt (ohne nachteilige Auswirkungen für die Wirtschaftsentwicklung). Zu unserem staatlichen Gemeinwesen und unserer staatsbürgerlichen Gemeinschaft gehören auch die 8 Millionen Arbeitnehmer, die selbst für Vollzeitarbeit keine auskömmliche und menschenwürdige Entlohnung erhalten – darunter 1,5 Millionen Betroffene mit sittenwidrigen Löhnen unter 5 €. Daraus entstand die skandalöse Schere zwischen Arm und Reich, die nirgendwo in Europa größer auseinander-klafft ist als in unserem „Sozialstaat“. (Das könnte man mit einem bedingungslosen Grund-einkommen für alle beseitigen, wenn man wollte).

Längst gibt es somit in unserem Staat keine „soziale“ Marktwirtschaft mehr, denn für deren geistigen Vater Ludwig Erhard, auf den sich alle gerne berufen, war es selbstverständlich: An dem gemeinsam erarbeiteten Wohlstand im reichsten Land Europas sollen alle gerecht und angemessen teilhaben. Das will die heutige Wirtschaftselite nicht mehr, die gerne verschweigt, dass die Gehälter der Spitzenmanager im Gegensatz zu den Niedriglöhnen in den letzten Jahrzehnten um mehrere Hundert Prozent (!) gestiegen sind. (Das will die große Koalition durch Verzicht auf Steuergerechtigkeit nicht korrigieren…)

Und sie ignorieren auch, dass aktuellen Umfragen zufolge über 80% der Staatsbürger für staatlich festgelegte Mindestlöhne plädieren (auch bei den CDU-Wählern) und ebenfalls über 80% für direkte Volksabstimmungen über diese und andere Grundsatzfragen plädieren. Letzteres hat Angela Merkle gerade bei den Koalitionsverhandlungen diktatorisch vom Tisch gewischt, obwohl SPD, Grüne, Linke und sogar CSU dafür sind, also eigentlich eine klare Bundestagsmehrheit.

Das verwundert kaum, wenn man von der Organisation Lobycontrol erfährt, dass dieBudeskanzlerin laut Terminkalender fast wöchentlich Spitzenmanager der Wirtschaft zu persönlichen Gesprächen empfängt, die Arbeitnehmervertreter allenfalls einmal im Jahr. Dabei müsste gerade die aus Ostdeutschland stammende Kanzlerin wissen, was es heißt: „Wir sind der Staat“, denn ihr müsste noch der Ruf „Wir sind das Volk“ in den Ohren klingen, als sie nach eigenen Aussagen während des Mauerfalls entspannt in der Sauna saß…