Wilhelm Neurohr

Bundesweit demonstrierten in der Woche vom 15. bis 21. Juni mehrere Tausend Schüler und Studenten in etwa 70 Städten für bessere Bedingen in der Bildung. Die Initiative ‹Bildungsstreik 2009› hatte zu der Protestwoche aufgerufen, um sich öffentlich gegen Studiengebühren, Bachelor- und Masterstudiengänge und die verkürzte Oberstufe zu richten. Wilhelm Neurohr fragt daher nach dem Menschenbild in der momentanen Bildungspolitik und geht einer jungen Protestkultur mit Gespür für die Dreigliederung nach.

Der Auftakt des Bildungsstreiks mit über 200 000 beteiligten Schülern und Studenten und der zeitgleiche

Streik der ErzieherInnen zeugen von einer neuen Protestkultur. Nach den Montagsdemos gegen Hartz IV tritt die größte soziale Bewegung als Jugendbewegung auf den Plan, um für einen anderen Bildungsbegriff zu streiten. Mit einem Gespür für die überfällige soziale Dreigliederung wird thematisiert, dass die Einmischung von Staat und Wirtschaft in das freie Bildungswesen mehr schadet als nutzt. Welches Menschenbild und welcher Bildungsbegriff liegen unserem Erziehungs- und Bildungswesen zugrunde? Das ist die eigentliche inhaltliche Kernfrage, die hinter den Protesten und Forderungen sowohl der Erzieherinnen als auch der Schüler und Studenten, unterstützt von vielen Lehrern und Professoren, binnen weniger Wochen massiv zutage getreten ist. Sollen Bildung und Studium nur noch einseitig auf das Funktionieren für die Anforderungen des Wirtschafts- und Arbeitslebens schleunigst ausbilden – und das schon möglichst ab dem Kindergarten- und Vorschulalter? An vielen Kritikpunkten der jungen Protestbewegung wird deutlich, dass die Einmischung von Staat und Wirtschaft in das freie Bildungswesen und in die Wissenschaft mehr Schaden als Nutzen angerichtet hat und von den Betroffenen nicht länger akzeptiert wird. Ihnen geht es neben einem höheren Stellenwert für Bildung und für tätige Erzieherinnen auch um Demokratie und Partizipation, um Mitbestimmung und Selbstbestimmung in einem selbstverwalteten Bildungs- und Hochschulwesen. Die Frage ist aufgeworfen: Wohin soll die Bildungsreise gehen und wem soll sie dienen?

Verzicht auf das Wesentliche

Der Übergriff materialistischer Anschauungen auf die Pädagogik durch Politik und Wirtschaftsinteressen ist aktuell durch die Vorverlegung des Abiturs um ein Jahr bereits geschehen. Hier musste zwangsweise gerade auf diejenigen Fächer verzichtet werden, die für die folgenden Lebensabschnitte prägend und deshalb unverzichtbar sind: wie Kunst, Musik, Religion, Ethik, Geistes- und Sozialwissenschaften. Und bereits in den Kindergärten drängen Politik und Wirtschaft mit ihrer Vorgabe einer nicht kindgerechten Frühintellektualisierung. Das finale Einheitsabitur für den ‹Einheitskopf› nach überhastet eingeführter Verkürzung auf zwölf Schuljahre wird von den protestierenden Schülern aus den viel zu großen Klassen ebenso abgelehnt wie das sozial selektierende dreigliedrige deutsche Schulwesen mit seinem Benotungs- und verfrühten Auslesesystem, mit der Ausgrenzung von sozial Benachteiligten und behinderten Schülern. Dessen Negativfolgen wurde bereits von der UNESCO und anderen internationalen Institutionen für inakzeptabel erklärt, zumal das scheinbar unbelehrbare Deutschland im internationalen Vergleich längst zum Schlusslicht zu werden droht. «Bildung ist ein Bürgerrecht» hieß es hingegen noch bei den gerade absolvierten Festtagsreden zum 60-jährigen deutschen Grundgesetz unter Berufung auf den Artikel 5 Absatz 3: «Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei».

Brotwissenschaft statt Wahrheitsliebe und -suche

Die Studierenden an den Hochschulen wehren sich vor allem gegen Bürokratie und Reglementierung, gegen die ebenfalls sozial ausgrenzenden Studiengebühren und gegen die Verschulung des Bachelor-Studiums mit ‹Prüfungsorgien› und ohne selbstbestimmte Schwerpunktsetzungen und Reflexionsphasen. Sie werden gezwungen, nur noch Stoff zu büffeln, anstatt sich von ihm verführen und begeistern zu lassen; dazu fehlen notwendige Verarbeitungs- und Erprobungsphasen. Das Zurückdrängen der sozial- und geisteswissenschaftlichen Studienangebote zugunsten der technischen Fächer nach technokratischen und profitablen Verwertungsgesichtspunkten verengt das wissenschaftliche Spektrum sowie den Wissenschaftsbegriff und verhindert ein ‹Studium fundamentale› zur Erkundung von Wahrheit, von Mensch und Welt, als eigentliches Grundanliegen von Wissenschaft und Forschung. Heutzutage verkommt Wissenschaft stattdessen immer mehr zur ‹Brotwissenschaft› für das spätere Erwerbsleben oder für bestimmte Wirtschaftsinteressen, auf schmale Ausschnitte und immer engere Spezialisierungen begrenzt, teilweise auch als Pseudowissenschaft, wie etwa die ideologisch geprägten und missbrauchten Wirtschaftswissenschaften.

Verflechtungen mit der Wirtschaft

Die Wirtschaft nimmt durch Finanzierungen und über die Lehrinhalte und Forschungsschwerpunkte Einfluss auf die Hochschulen. Von willfährigen Politikern unter Berufung auf den Bologna-Reformprozess vorangetrieben – einem neoliberalen EU-Projekt zur weiteren Kommerzialisierung von Bildung und Studium – bringt die einstmals freien Hochschulen in Abhängigkeiten. Nachdem sich vor allem die Vertreter der Wirtschaft und der Banken intensiv für die Einführung der Studiengebühren stark gemacht haben, verdienen sie jetzt an den Studenten als profitierende Kreditgeber, teilweise mit Sitz und Mandat in den Hochschulgremien, um dort Elite-Studiengänge durchzudrücken. Symptomatisch hierfür ist der heftige Streit um die Präsidentin der Hamburger Universität. Die ehemalige Raketenforscherin wurde von der konservativen Wissenschaftsnomenklatur ausgewählt, um als Bildungsmanagerin oder -funktionärin im technokratischen Wissenschaftsverständnis gegen den Widerstand von 120 Professoren ein fast nur noch ingenieurhaftes Studienangebot durchzusetzen, bei dem die Ergebnisse im Mikroskop und Labor auch angefasst werden können.

«Bachelor und Master sind in diesem Sinne nur Chiffren einer Bildungspolitik, die vor Gebildetheit Angst hat – und nur für Ausbildungsmärkte ausbildet, die diese Ausgebildeten nicht nötig hat», schrieb Jan Feddersen als ehemaliger Student der Hamburger Hochschule und jetziger Journalist. Die protestierenden jungen Menschen spüren, dass in dem staatlich und wirtschaftlich beeinflussten Erziehungs-, Schul- und Bildungssystem ihre individuellen Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten unter die Räder geraten. Deshalb liegen konservative Bildungspolitiker wie die deutsche Forschungsministerin Anette Schavan mit ihrem Kommentar, die Streikenden seien «von gestern» oder deren Veranstaltungen «tragen den Geist der Destruktion in sich» (Bundestagsabgeordneter Michael Kretschmer) völlig daneben: Diese Protestbewegung wird sich noch kraftvoll ausweiten, und das ist gut so, denn die soziale Dreigliederung will unweigerlich gesellschaftlich zum Durchbruch gelangen.

Spirituelle Quellkräfte erschließen

Die Vermischung von staatlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Belangen auf makrosozialer Ebene in einem allzuständigen Einheitsstaat ist hinfällig. Das gesellschaftliche Zusammenleben ist ohne größtmögliche selbstbestimmte Gestaltungsmöglichkeiten aller Beteiligten und ohne spirituelle Quellkräfte zukünftig undenkbar, wenn Bildung ganzheitlich als Geistes- und Herzensbildung aufgefasst wird. Das materialistische Welt- und Menschenbild wird mit dem Proteststurm hinweggefegt und mit ihnen die ewig gestrigen Politiker – oder unser Bildungssystem scheitert in Gänze. Die akute Finanz- und Wirtschaftskrise ist schließlich Ausdruck des Versagens eines seit Jahrzehnten verirrten Sozial- und Bildungssystems, das den Menschen Konkurrenzkampf statt menschliche Solidarität beibringen will. Es eignet sich aber nicht für eine nachhaltige Bildung der Zukunft.