Wilhelm Neurohr

„Wir müssen lernen, auf neue Weise zu denken. Wenn wir diese Forderung radikal ernst nehmen, müssen wir neue oder ungewohnte Wege des Lernens beschreiten.“ Zu dieser bemerkenswerten Erkenntnis kommen drei angesehene Wissenschaftler in ihrem „Potsdamer Manifest“, aus dem die „Frankfurter Rundschau“ und das „Zeitfragenforum“ nun Auszüge veröffentlicht haben. Das materialistische Weltbild der klassischen Physik trage nicht mehr, so die Erkenntnis der Autoren. Damit knüpfen sie in gewisser Weise an das viel beachtete Buch des Physikers Fritjof Capra an: „Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild“, das dieser vor 20 Jahren veröffentlichte, ohne aber damit ein breites Umdenken in der Wissenschaft wirklich ausgelöst zu haben. Stattdessen wurde er in Medien und Fachwelt als Esoteriker belächelt. Mit dem Potsdamer Manifest könnte die Diskussion neu in Gang kommen und vielleicht in 20 oder 40 Jahren Früchte tragen.

Max Planck sagte einmal: „ Wenn eine neue Erkenntnis sich nicht durchsetzt, und das ist fast immer der Fall, dann muss man 40 Jahre warten, bis die Gegner der Neuerung alle gestorben sind, und dann ist auf einmal alles richtig.“ Seit dem neuen Wendezeit-Weltbild des Austroamerikaners Fritjof Capra sind erst 20 Jahre vergangen, seitdem er die These aufgestellt hat, dass die Menschheit nur weiterleben könne, wenn sie von Grund auf anders denken lernt: komplex statt linear – in Netzen und Bögen statt in Zielgeraden, in Werten statt in Quantitäten. Wie dieses neue Denken mit „Bausteinen“ aus den Bereichen der Physik, Medizin, Biologie, Psychologie, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zu Umwertungen von beispiellosen Dimensionen führen wird, zeigte er in seinem Buch auf.

Nun wagten sich erneut drei mutige Wissenschaftler, gegen die vorherrschenden (natur)wissenschaftlichen materialistischen Denkströmungen und –methoden aufzubegehren: „Aus neuer Sicht stellt sich die Welt, die Wirklichkeit, nicht mehr als ein theoretisch geschlossenes System heraus“. Es handelt sich um den Physiker Hans-Peter Dürr, der bis 1997 Direktor des Werner-Heisenberg-Institutes am Max-Planck-institut für Physik und Astrophysik in München war. In Starnberg gründete er 1987 die initiative „Global Challenges Network“ und wurde mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Der zweite Mitverfasser ist der Geograph J. Daniel Dahm, seit 1998 freier Mitarbeiter am „Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie“ und in Berlin als „freier Querdenker“ lebend. Der dritte im Bunde ist der Philosoph Rudolf zur Lippe, seit 1974 Inhaber des Lehrstuhls für Ästhetik an der Universität Oldenburg und Gründer des Institutes für praktische Anthropologie, mit dem er eine wissenschaftliche Ausstellung zur „Geometrisierung des Menschen“ in verschiedene Länder der Welt bringt. Hier einige Auszüge aus ihrem gemeinsamen Potsdamer Manifest:

„Die Einzigartigkeit des Einzelnen ist tragender Bestandteil unseres gemeinsamen Evolutionsprozesses“

„Der einzelne Mensch, wie alles andere auch, bleibt prinzipiell nie isoliert. Er wird im allverbundenen Gemeinsamen in seiner nur scheinbaren Kleinheit zugleich unendlich vielfältig einbezogen und bedeutsam. In all unserem Handeln wirkt die Vielzahl von Einflüssen und Impulsen anderer Menschen und unserer Geobiosphäre mit, und nicht nur über die durch unsere Sinne vermittelte Brücke materiell-energetischer Wechselwirkungen, sondern auch direkt über die allen gemeinsame immaterielle potenzielle Verbundenheit. Unser Handeln beeinflusst gleichermaßen auch wieder die gesamte gesellschaftliche Verfasstheit und verändert die sich ständig dynamisch wandelnde Potenzialität der lebendigen Wirklichkeit. So ist die Einzigartigkeit des Einzelnen tragender Bestandteil unseres gemeinschaftlichen kulturellen Evolutionsprozesses. (…)

Wir sind angehalten, in einem grundlegend neuen Denken zu einem umfassenderen Verständnis unserer Wirklichkeit zu gelangen, in der auch wir uns als Faser im Gewebe des Lebens verstehen, ohne dabei etwas von unseren besonderen menschlichen Qualitäten opfern zu müssen. Damit wird es möglich, die Menschen in grundlegender Gemeinsamkeit mit der übrigen Natur zu erkennen, ohne dabei in einen konventionellen Naturalismus zu verfallen oder sich einfach auf Kosmologien zu berufen, die dem Weltbild und den Lebensformen naturnaher Kulturen entsprochen haben mögen. (...)

Kulturelle Evolution und Zukunftsfähigkeit fordern stetigen Wandel

Stetiger Wandel ist ein Charakteristikum kultureller Evolution und ebenso ein Kriterium für kulturelle Zukunftsfähigkeit. Wenn dieser fehlt, ist ein Erstarren eines Kulturmodells bis zum Zusammenbruch vorbestimmt. (…) Die Quantenphysik - und nicht nur sie - fordert uns auf, unser Denken in starren Strukturen grundsätzlich so zu emanzipieren, dass flexible Beziehungen an deren Stelle treten können. Auflockerung und sanfte Auflösung monostruktureller, zentralistischer Konstruktionen, die bevorzugte Ausdrucksformen des materialistisch-mechanistischen Weltbildes sind, werden möglich. (…). Damit zeichnet sich eine neue evolutionäre Ebene ab, in der eine komplexe, nicht fragmentierte Wirklichkeitswahrnehmung, so etwas wie "Ahnung", das Fundament unseres Denkens, Fühlens und Handelns bildet. So können wir unsere Ziele und Strategien in Muster und Bewegungen angepassten Wirkens verwandeln.(…)

Lebendige Organismen: Offen gestaltbare Schöpfungs- und Handlungsräume des Individuums im lebendigen Wechselspiel zwischen Menschen und Mitwelt

Wir müssen verengte und mechanistische Strategiemuster, Reduktionen, Mittelwertsbildungen fallen lassen und sie ersetzen durch Beweglichkeit, Offenheit und Empathie, um neue offen gestaltbare Schöpfungs- und Handlungsräume zu ermöglichen. Das öffnet uns ein Füllhorn echt kreativer Lebendigkeit integriert durch organismische Kooperation. (…) Ein immer lebendigeres Sein, ein fortdauerndes Werden kann an Stelle eines erstarrten Habens-Wohlstandes treten. Das Individuum gewinnt wachsende Offenheit in seiner intensiven Teilhabe und durch seine Zeit und Raum übergreifende Einbettung in den Lebensverbund der Erde. Erst dieses dynamische Wechselspiel zwischen Menschen und den Menschen und ihrer lebendigen Mitwelt ist wirklich Wohlstand schaffend und fordert und fördert den Menschen in seinem ganzen Wesen.

Es ist dringend notwendig, eine integrative Kooperation der vielfältigen wirtschaftlichen Austauschstrategien zwischen Menschen, Gemeinschaften und ihrer natürlichen Mitwelt, sowie der Verteilungsmuster in Produktion, Verwertung und Versorgung zu ermöglichen, um die Verfügbarkeit von Lebensgütern sowie der strukturellen und institutionellen Vorbedingungen sozialökonomischen Austausches zu gewährleisten. Der Entwicklung neuer dezentraler und polyzentrischer Produktions-, Verteilungs- und Entscheidungsstrukturen kommt besondere Relevanz, ja, Priorität zu.

Zukunftsfähige Ökonomie orientiert sich an lokalen, bedarfsgerechten, zukunftsfähigen Bedürfnissen

Ökonomie muss sich an ihren lokalen und regionalen soziokulturellen Bezügen, Strategien, Traditionen und Bedürfnissen messen, um bedarfsgerecht und zukunftsfähig zu sein und nicht in künstliche Homogenisierungen und Erstarrungen zu geraten, entlang derer sich steigende Gefährdungspotenziale entwickeln. Hierzu braucht es ein größtmögliches Maß an dezentraler Leistungsinitiative und -möglichkeit, Versorgungssouveränität und Subsistenz. Dies verlangt zugleich eine globale Vernetzung und Abfederung über die Versorgung mit Gütern globaler Relevanz. Eine optimale wie bewegliche Komplementarität zwischen pluralen Ökonomien von lokaler, regionaler und kontinentaler Bedeutung in Synergie mit interkontinentalen Infrastrukturen für den Austausch von Gütern und Diensten aus globaler Arbeitsteilung bilden hierfür wesentlich mittragende Voraussetzungen. (...)

Bewegung und Wandel: Neues Denken in neues Handeln dringlich umsetzen

Es ist dringlichst an der Zeit, neues Denken in neuem Handeln umzusetzen, und darin die Kraft des Differenzierten, Bewegten, des Sich-Wandelnden für uns zu nutzen. (…) Der Aufbau polyzentrischer, sich komplementär ergänzender Wirtschaftsstrukturen ist notwendig. (...) Competition, das heißt kooperatives Wetteifern, kann sich - um eine menschen- und gemeinschaftsgerechte Globalversorgung zu gewährleisten - nur durch Innovation und schöpferische Produktivität, unter Nutzung der dynamischen Triebkräfte eines kooperativ-dialogischen Zusammenwirkens der Kulturen und Menschen der Erde, fördernd und schützend entwickeln. (…) Die formale Betonung der Wirtschaft auf maximale Effizienz in der Allokation von Ressourcen, ein Grundpfeiler der wirtschaftlichen Globalisierung, führt zu künstlich homogenisierten monokulturell überformten Lebensräumen und einer maximalen Abhängigkeit der Menschen von äußeren, von ihnen nicht beeinflussbaren Faktoren. (…)

Wirtschaft als unersättlicher Selbstzweck und Entkopplung der Finanzsysteme von der räumlich und stofflich begrenzten Erde

Wenn wir die eskalierenden Probleme betrachten, welche heute die Menschheit belasten, so sind sie im überwiegenden Maße eine Folge extremer Machtballungen und wirtschaftlicher Ungleichheit, dirigiert und forciert von einem lebensfeindlichen finanziellen Netzwerk, das, anstatt das Beziehungsgefüge zwischen den Menschen zu Gunsten der Menschen zu stärken, zum "unersättlichen" Selbstzweck verkommen ist. Die Entkoppelung des unbegrenzten monetären Kapitalwachstums von der räumlich und stofflich begrenzten Erde treibt diesen Mechanismus mit voran. Die internationale Geldmenge kann und muss dringend stabilisiert und dynamisch in Lebensqualität stärkende und globale Versorgung fördernde Wirtschaftsaktivitäten gelenkt werden. Die Beachtung der vielfältigen Toleranzgrenzen bei der dynamischen Stabilisierung der Geobiosphäre, der Belastbarkeit der natürlichen Lebensgrundlagen und ihrer Regenerationszyklen bildet die Voraussetzung unseres Überlebens und des Friedens zwischen den Menschen. (…)“

Im gemeinsamen Dialog alte Denkstrukturen aufbrechen

Diese wenigen Auszüge aus dem vollständigen Manifest verdeutlichen die gedankliche Nähe, Berührung und Übereinstimmung mit den geisteswissenschaftlichen Denkmethoden und Erkenntnissen der Anthroposophie, so dass ein Dialog mit den Verfassern des Manifestes gesucht werden sollte, um neues Denken und Handeln gemeinsam auch in der kontroversen wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu vertiefen und voranzubringen. Vielleicht gelingt es ja, im Sinne eines solchen öffentlich und wissenschaftlich kommunizierbaren eigenen Manifestes, die Kernpunkte anthroposophischer Weltsicht in ebensolcher Weise auf den Punkt zu bringen, um aus dem wissenschaftlichen „Nischendasein“ herauszukommen und den Kontakt zu dialogfähigen Wissenschaftlern zu intensivieren, und um trotz unterschiedlicher sprachlicher oder begrifflicher Gedankenwelten gemeinsam alte Denkstrukturen aufzubrechen, ohne in eine esoterische Ecke gedrängt zu werden? Es lohnt sich jedenfalls, das Potsdamer Mainfest in seiner vollen inhaltlichen Länge durchzuarbeiten.