Wilhelm Neurohr

In der zweiten Oktoberwoche blickte die Weltöffentlichkeit aus verschiedenen Anlässen auf sechs herausragende Persönlichkeiten, deren vorbildhaftes Wirken für Freiheit und Gerechtigkeit zu ehrenvollen Anerkennungen führte. Allen sechs Persönlichkeiten ist gemeinsam, dass sie sich in einer Welt der äußeren Zwänge ihre innere Freiheit aus der Kraft des eigenen Denkens und individuellen Urteilens erkämpft und bewahrt haben sowie mit leidenschaftlichem Willen gegen den allgemeinen Strom der öffentlichen oder politischen Meinungen für den menschlichen Entwicklungs- und Freiheitsimpuls und für nachhaltige Zukunftsentwicklung eingetreten sind. Das macht sie zu wahren Weltbürgern und lichtvollen Hoffnungsträgern für alle diejenigen Menschen, deren individuelles Bemühen ebenfalls darauf gerichtet ist, sich mit dem Erringen der Freiheit des Denkens die eigene Urteilskraft zu bewahren, sich auf den Weg des ethischen Individualismus zu begeben und weltzugewandt zu handeln, auch gegen alle Widerstände, die sich derzeit der Freiheit und Gerechtigkeit in uniformierter Weise entgegenstellen.

Friedenspreis des Buchhandels für Susan Sontag

Susan Sontag, die streitbare amerikanische Schriftstellerin, erhielt in ihrem siebzigsten Lebensjahr den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche vor allem deshalb verliehen, weil sie in einer Welt der gefälschten Bilder und der verstümmelten Wahrheiten unter Wahrung ihrer Unabhängigkeit für die Würde des freien Denkens eingetreten ist, indem sie sich ihre Unabhängigkeit bewahrt hat. Sie gilt als Botschafterin der Verständigung zwischen Amerika und Europa und als heftige Kritikerin der imperialen Außenpolitik von Präsident George Bush. Vor zwei Jahren hatte sie für ihren jüngsten Roman „In Amerika“ bereits einen der höchsten Buchpreise der USA, den National Book Award erhalten. In diesem Jahr erschien in Deutschland auch ihr Fotoband „Das Leiden anderer betrachten.“ Sie hatte sich in Amerika nach dem 11. September mit eigener Urteilskraft öffentlich gegen die einseitige Propaganda der Bush-Regierung ausgesprochen, die später als Vorwand für die Kriege in Afghanistan und im Irak-Krieg herhalten musste und mit der die wahren Ursachen des Terrorismus verschleiert wurden. Sie wurde dafür in heftigster Weise angegriffen und geächtet, aber von der oppositionellen Linken und im Ausland als Ikone und Pazifistin gefeiert, obwohl sie zuvor den von vielen Kritikern verurteilten Kosovo-Krieg als gerecht und gerechtfertigt eingestuft hatte, indem sie auf die Kraft der eigenen, individuellen Urteilsfähigkeit setzte. Als Moralistin lebte sie auch ihre Worte in der Tat, indem sie beispielsweise als Helferin 1993 nach Sarajewo ging oder ihr eigene Krebsleiden zum Anlass nahm, die gesellschaftliche Tabuisierung von Krebs oder Aids zu kritisieren.

Friedensnobelpreis für die iranische Muslimin Schirin Ebadi

Schirin Ebadi, die 56-jährige iranische Rechtsanwältin und Autorin aus Teheran erhielt als mutige Kämpferin für Demokratie und Menschenrechte, insbesondere als engagierte Streiterin für die Rechte der Kinder und der Frauen in der männerdominierten iranischen Gesellschaft mit der Verflechtung von Staat und Religion, den diesjährigen Friedensnobelpreis. Sie hält die Geringschätzung und Diskriminierung von Frauen für nicht vereinbar mit den islamischen Grundsätzen, denn am wichtigsten sei nicht, welche Religion, Sprache oder Kultur man habe, sondern dass man an die Menschenrechte glaube. Die Frauen im Iran müssen nicht nur Umhang und Kopfbedeckung tragen, sondern sie haben auch kein geregeltes Sorgerecht für ihre Kinder und dürfen ohne Erlaubnis ihres Mannes nicht das Land verlassen, auf dem Lande nicht einmal das Haus. Nur den Männern wird ein Scheidungsrecht zugestanden und den Frauen nur geringfügige Alimente ohne Unterhaltsanspruch. Schirin Ebadi, die muslimische Demokratin, gründete auch ein Kinderhilfswerk, setzte sich für politische Dissidenten und für einen politischen Reformkurs ein und deckte Morde durch den irakischen Geheimdienst auf, was ihr Gefängnis und Hausarrest sowie Repressalien einbrachte. Sie ließ sich durch Drohungen nicht erpressen und setzte sich in einer Zeit der Gewalt stets für Gewaltfreiheit ein. Dieser Menschenrechtskämpferin in der muslimischen Welt verleiht der Friedensnobelpreis nach eigenen Worten neue Energie, um weiterzukämpfen für eine zivile und demokratische Gesellschaft, denn es gebe keinen Gegensatz zwischen dem Islam und den fundamentalen Menschenrechten. Schirin Ebadi argumentiert nicht ideologisch, und betrachtet die Religion als eine Angelegenheit der Individuen, nicht des Staates.

Nachruf auf den verstorbenen amerikanischen Medienkritiker Neil Postman

Neil Postman, der bekannte amerikanische Buchautor, Vortagsredner und Medienwissenschaftler oder „Medienökologe“, wie er sich selber nannte, lenkte in diesen Wochen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit nicht anlässlich einer aktuellen Preisverleihung auf sich, sondern seine Lebensleistung wurde gewürdigt, nachdem er im Alter von 72 Jahren in der Nähe von New York an einer Krebserkrankung verstorben ist. Aus dem Lebenswerk des Wissenschaftlers und Autors, Vater von drei Kindern, der auch gern gesehener Gast an Waldorfschulen war, sind die Bestseller-Bücher „Wir amüsieren und zu Tode“ (1985) und „Das Verschwinden der Kindheit“ (1984) nicht wegzudenken. Darin wendet er sich engagiert gegen die Auswirkungen vor allem des kommerziellen Fernsehens, weil es die Urteilsfähigkeit der Bürger gefährde. Der Zwang zur Bebilderung führe zu einer Entleerung der Inhalte von Politik und Kultur und der Zwang zu hohen Zuschauerqouten bewirke eine „Infantilisierung“, so argumentierte er. In seinen jüngsten Arbeiten nahm er als „Kämpfer gegen technologische Verdummung“ auch die Auswirkungen der global vernetzten Computerwelt ins Visier: Die Gesellschaft leide an einer Art „kulturellem Aids“, weil unser Immunsystem unter der ungefilterten Informationsflut zusammenbreche: Die weltweite Online-Gemeinschaft verarme auch sinnlich, wenn sie mit Computer-Shopping, Computer-Studium und Computer-Erotik das richtige Leben zu ersetzen versuche. Dem setzte Neil Postman ein anderes Welt- und Menschenbild entgegen, bei dem sich die individuellen Fähigkeiten der Menschen frei entfalten können. Seine aufklärerischen Werke haben zur Bewusstseinsveränderung bei vielen Lesern und Zuhörern sowie Pädagogen beigetragen.

Alternativer Nobelpreis für Nicanor Perlas, Walden Bello und Ibrahim Abouleish

Nicanor Perlas und Walden Bello von den Phillippinen sowie Ibrahim Abuoleish aus Ägypten erhielten den alternativen Nobelpreis zugesprochen, wie bereits zur besten Sendezeit auch in der Tagesschau des Ersten deutschen Fernsehens verkündet. Die unter Anthroposophen bekannten drei Persönlichkeiten aus der zivlgesellschaftlichen Bewegung bzw. sozialen Dreigliederungsbewegung werden damit für ihr herausragendes Engagement für eine alternative Zukunftsgestaltung geehrt (siehe ausführlichere Würdigung an anderer Stelle). Der 57-jährige Walden Bello, Professor für Soziologie an der Universität Manila und Direktor der zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsorganisation „Focus on the Global South“ in Bangkok sowie Vorstandsmitglied von Greenpeace Südostasien hat sich verdient gemacht um das Weltsozialforum und um alternative Ideen für eine neue Weltwirtschaft und für Gerechtigkeit auf einem begrenzten Planeten, wie teilweise in seinem Buch „Deglobalisierung“ dargelegt. Als einer der profiliertesten Globalisierungskritiker, nicht –gegner, plädiert er für eine Umsteuerung des Globalisierungsprozesses und ist engagierter Kämpfer gegen eine Konzernherrschaft. Zusammen mit Nicanor Perlas, Direktor des „Center for alternative Developement Initiatives“ (CADI), Berater im Präsidialamt der Philippinen, hat er zehntausende Bürger aus den Philippinen mit zivilgesellschaftlichen Aktivitäten zu einem wichtigen Kulturfaktor gemacht und zur Aufklärung über Globalisierungseffekte beigetragen sowie Grundlagen für eine gerechte Weltordnung gelegt. Nicanor Perlas hat überdies an der Abfassung der nationalen Agenda 21 mitgewirkt und mit seinem Buch „Die Globalisierung gestalten“ die Bedeutung der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten in ihrer Qualität als kulturelles Gegengewicht zur fehlgeleiteten politischen und wirtschaftlichen Globalisierung im Rahmen einer dreigegliederten sozialen Ordnung herausgearbeitet. Damit hat er der sozialen Dreigliederungsarbeit neue Impulse gegebnen und eine Trendwende für deren Betätigungsfelder angestoßen, wie sie unter seiner maßgeblichen Mitwirkung im globalen Dreigliederungsnetzwerk zum Ausdruck kommt. „Nicanor Perlas ist ein wunderbares Symbol dafür, dass wir im Norden etwas von den weisen Menschen im Süden lernen können“, schrieb Ernst Ulrich von Weizsäcker.

Für Gelebte Dreigliederung steht auch Ibrahm Abouleish mit seiner modellhaften und international bekannten Sekem-Unternehmensgruppe in Ägypten. Vor über 25 Jahren hatte er mit seiner Pionierarbeit begonnen, indem er trockenes Wüstenland zu fruchtbarer Erde umwandelte und die Machbarkeit biologisch-dynamischer Landwirtschaft in der Wüste demonstrierte, gepaart mit sozialem und kulturellem Engagement, von dem heute 800 Farmen in einem Netzwerk und 30.000 Menschen durch nachhaltig verbesserte Lebensbedingungen profitieren. Kurz vor der Verleihung des alternativen Nobelpreises erhielt Ibrahim Abouleish dafür bereits eine Auszeichnung der Schwab-Foundation, (siehe Goetheanum Nr. 39/2003), verbunden mit einer 3-jährigen Teilnahmeberechtigung am Weltwirtschaftsforum in Davos, dem alljährlichen Spitzentreffentreffen der Konzern- und Wirtschaftsführer und politischen Führer sowie ausgewählter Wissenschaftler aus aller Welt, von Kritikern der neoliberalen Globalisierung als „heimliche Weltregierung“ durch heftige Gegendemonstrationen und Gegenveranstaltungen bekämpft – insoweit eine Herausforderung und Bewährungsprobe, sich gerade hier die Freiheit des eigenen Denkens und Urteilens zu bewahren und die mutige Kraft aufzubringen, sich mit Alternativen, innovativen Beispielen und mutigen Aussagen gegen den Strom einer materialistisch orientierten Mehrheit in den führenden Kreisen von Davos zu behaupten, sofern die Einladung angenommen werden sollte.. Die Würde des freien Denkens und erkenntnisgemäßen Handelns wäre gerade dort vonnöten, wo die gedankliche Freiheit aufgrund vermeintlicher Sachzwänge unter die Knechtschaft der neoliberalen Ideologie geraten ist, mit der Folge der alltäglichen Verletzung der Menschenwürde weltweit, durch ein nicht mehr am Menschen und an den Bedürfnissen der anderen orientiertes Wirtschaftsgebaren, das ein gerechtes Teilen der gemeinsamen Ressourcen und des gemeinsam erarbeiteten Wohlstandes nicht mehr kennt. Es könnte unter Beweis gestellt werden, das nur ein freies Denken zu menschengerechtem Handeln in Politik und Wirtschaft führt und am Beispiel der Sekem-Farm und der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten ein Verständnis für soziale Dreigliederung erwirkt werden.