Wilhelm Neurohr

Beim populistischen Ruf der Interessenverbände der mittelständischen Wirtschaft nach drastischer Kürzung der Urlaubstage für alle wurde deutlich: Immer wieder wird die falsche Behauptung ungeprüft durch die Medien transportiert, die Arbeitnehmer in Deutschland liegen angeblich bei den Urlaubstagen „weltweit an der Spitze“. Jahrzehntelang glaubten wir dieser Propaganda der Arbeitgeberverbände und der Politiker, dass die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im internationalen Vergleich absolute „Weltmeister bei Urlaubs- und Feiertagen“ seien. Altkanzler Kohl rief seinerzeit gar das Ende der „kollektiven Freizeitgesellschaft aus“ und es wurden Feiertage gestrichen und Urlaubstage eingefroren. In Wirklichkeit gehört Deutschland in punkto Urlaub und Feiertage inzwischen zu den Schlusslichtern in Europa und weltweit, wie jüngst eine Studie der Unternehmensberatung Mercer offenbarte.

Was den gesetzlichen und tariflichen Urlaubsanspruch unter Hinzurechnung der sonstigen freien Tage (kirchliche und nationale Feiertage sowie anlassbezogene Arbeitsbefreiungen) insgesamt angeht, liegt Deutschland noch hinter Südafrika, Brasilien, Russland, Polen, Finnland, Japan, Italien, Großbritannien, Frankreich oder Österreich, die uns mit 31 bis 41 Tagen weit voraus sind. Mit Indien, China, Australien und USA sowie Schweiz bildet Deutschland das Schlusslicht. Der gesetzliche Urlaubsanspruch liegt in Deutschland bei nur 20 Tagen, der tarifliche etwas höher (im öffentlichen Dienst z. B. zwischen 26 und 30 Tagen, je nach Alter).

Da jedoch mittlerweile nur noch die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach Tarifverträgen entlohnt werden, gilt also für diese nur der gesetzliche Mindesturlaub von 20 Arbeitstagen, im statistischen Durchschnitt landen wir also bei max. 25 Tagen. Rechnet man die unbezahlten Überstunden in vielen Branchen hinzu, verringert sich der nicht gewährte Freizeitausgleich noch mehr. An zusätzlichen freien Feiertagen überbieten uns die meisten anderen Länder, so dass wir in Deutschland insgesamt eher die meisten Arbeitstage haben, außerdem gehören wir zu den Spitzenreitern bei der Wochen- und Lebensarbeitszeit.
Wer trotzdem den hart erkämpften Urlaubsanspruch weiter kürzen will, obwohl dieser zur Regeneration und Gesunderhaltung der Arbeitskraft bis 67 (oder demnächst 70?) dient, der will die Arbeitnehmer gnadenlos ausquetschen wie eine Zitrone, ohne Rücksicht auf Ihr Wohlergehen. Die Mittelstandsvereinigungen sollten sich schämen, denn gerade unter Ihnen sind die meisten Betriebe ohne Tariflöhne und mit Niedrigst- und Billiglöhnen. Aber offensichtlich vertreten sie die Auffassung, wer davon keinen Urlaub bezahlen kann, der braucht auch eigentlich keine Urlaubstage? Wie tief sind unsere Wirtschaftslobbyisten sozial und ethisch gesunken, die sich selber reichlich Urlaub in schönen Gefilden gönnen?