Wilhelm Neurohr

Nun jammern sie wieder über den „urplötzlichen“ Fachkräftemangel und vergießen ihre Krokodilstränen, wie bei jedem Konjunkturaufschwung, unsere „Eliten“ aus Wirtschaft und Politik und ihre zugeneigten Medien. So jammern sie vereint im Chor:

  • Die vielen Betriebe und Dienstleistungsunternehmen, die sich jahrzehntelang erfolgreich vor der Bereitstellung notwendiger Ausbildungsplätze gedrückt haben - und eine staatliche Ausbildungsabgabe ablehnten..
  • Die zahlreichen Betriebe, die im Rahmen von Rationalisierungsprogrammen ihre Fachkräfte über Sozialpläne mit und ohne Abfindungen aussortiert haben für eine Hartz-IV-Karriere oder massenhaft in die Frühverrentung schickten.
  • Die gesamte Arbeitgeberschaft, die in den letzten 20 Jahren die Löhne und Gehälter der verbliebenen Fachkräften in den Niedriglohnsektor gedrückt hat und nun beklagt, dass sie zu den „Hungerlöhnen“ im Billiglohnland Deutschland keine hochqualifizierten Fachkräfte mehr bekommt – nicht einmal aus dem fernen Ausland, auf das man nun alle Hoffnungen setzt.
  • Die kurzsichtigen Unternehmensführer, die für vorausschauende innerbetriebliche Umschulungen und Fortbildungen zu knauserig waren - aus Profitgier. Stattdessen hat man die Gunst der Stunde genutzt, um immer schlechtere Arbeitsbedingungen zu diktieren und auch betriebliche Sozialleistungen zu streichen. Darum wanderten viele Fachkräfte ins Ausland ab.
  • Die Nostalgiker: Jetzt besinnen sie sich der aussortierten älteren Arbeitnehmer von 50 plus und 60 plus und sehnen diese zurück, mit dem plötzlich vermittelten Gefühl, diese würden nun doch noch dringend gebraucht „als letztes Aufgebot“ – so wird die Rente mit 70 schmackhaft gemacht.
  • Und die wirtschaftsnahen Politiker jammern lauthals mit, nachdem sie den teuer ausgebildeten akademischen Nachwuchs unserer Hochschulen zum Taxifahren und zu unentgeltlichen Praktikantenverträgen genötigt haben, bis diese notgedrungen ins Ausland abwanderten. Von politischer Weitsicht keine Spur - denn auch der „demografische Wandel“ als angebliche Ursache für den Fachkräftemangel ist ja scheinbar über Nacht bei uns hereingebrochen.
  • Und auch der öffentliche Dienst konnte zuletzt nicht mehr genügen ausbilden und einstellen, weil man ihn kaputt gespart hat. Schuld sind nun die Schulen, die angeblich keine ausbildungsfähigen Schüler für die Anforderungen der Wirtschaft produzieren – obwohl diese auch mit Bestnoten verzweifelt hunderte Bewerbungen ohne Antwort schreiben.

Die Heuchelei unserer selbst ernannten wirtschaftlichen und politischen „Eliten“ nach dem selbst erzeugten neoliberalen Scherbenhaufen wird immer unerträglicher. Jedenfalls brechen jetzt endlich für die qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bessere Zeiten an: Wenn sie denn auf einmal so dringend gebraucht werden, bestimmen sie in Zukunft endlich ihren Marktwert auf dem „Arbeitsmarkt“ – also nicht mehr ganz so billig und nur zu den besten Arbeitsbedingungen. Das ist Wettbewerb und legitim, solange sie ihre Arbeitskraft als Ware auf dem Markt feilbieten müssen. Denn dieser böse ungesteuerte Markt hat uns ja jetzt den Fachkräftemangel beschert – oder wer ist Schuld? Die Fachkräfte jedenfalls nicht, sie sind ja eigentlich da – nur nicht dort, wo sie gebraucht werden? Wenigstens werden sie jetzt endlich überhaupt gebraucht, welch ein gutes Gefühl für die Zukunft! So erleben wir derzeit eine Realsatire auf dem Arbeitsmarkt.