Wilhelm Neurohr

Zum Drama der afrikanischen Wirtschaftsflüchtlinge in Europa:

Wie behandelt das reiche, wirtschaftsstarke Europa als Kontinent der Menschenrechte die jährlich 120.000 Asyl- und Wirtschaftsflüchtlinge aus dem Armutskontinent Afrika, die „illegal“ in die „Festung Europa“ einzudringen versuchen? Da die EU und ihre Nationalstaaten das Elend der Flüchtlingsströme abwehren und nicht an uns heranlassen, gerät in Vergessenheit, dass der wirtschaftliche Reichtum Europas auch auf der Armut Afrikas gebaut ist. Zwei denkwürdige Verhandlungsrunden kurz vor Weihnachten lassen die Erkenntnis keimen: Nur teilen macht alle reich in einer liebevollen Weltwirtschaft. Ein Lichtblick für die Menschen in Afrika?

Europa bleibt seltsam gleichgültig angesichts einer halben Million Toten in seinen südlichen Grenzgewässern: Allein 13.000 tote Flüchtlinge aus Afrika wurden im Mittelmeer und im Atlantik vor den kanarischen Inseln seit 1988 aufgefunden, so hat die Flüchtlingsorganisation medico international recherchiert. Nach Schätzungen der UN kommen auf jeden tot aufgelesenen Bootsflüchtling noch einmal 45 versunkene Leichen. Sie starben auf der Suche nach Überleben und auf der Flucht vor Lebensbedingungen, die durch Freihandel, europäische Agrarsubventionen und klimabedingte Katastrophen unerträglich und perspektivlos sind. Der UN-Welternährungstag im Oktober 2008 hat verdeutlicht, dass die Zahl der weltweit Hungernden um 73 Millionen auf 923 Mio. Menschen angestiegen statt planmäßig halbiert worden ist, mit der Folge von 25.000 Hungertoten jährlich, davon 13.ooo Kinder, überwiegend in Afrika.

Armut macht krank und Krankheit macht arm

Es gehört zum „schwarzen Kapitel Europas“ [1], dass im letzten Jahr nur 14.000 von 120.000 Bootsflüchtlingen aus Afrika nach vorherigem Transit durch die Sahara die gefährliche Seereise nach Malta, Italien, Spanien oder auf die Kanaren geschafft haben – vorbei an den europäischen Patrouillenschiffen der „Grenzagentur Frontex“ im Meer und am elektronischen Überwachungssystem an der Meerenge von Gibraltar. Das lässt sich die EU insgesamt fast 100 Mio. Euro kosten. Wer dennoch durchkommt, wird meist in abgeschottete Hochsicherheitslager mit hohen Zäunen gesteckt und wieder deportiert, ohne Haftverbot für Minderjährige und ohne ein Mindestmaß auf Recht und Würde für alle Migranten. Zehntausende bleiben irgendwo in der Wüste oder in den Slums Nordafrikas hängen, perspektivlos oder als Tagelöhner in Casablanca und Algier, in Tripolis und Tanger. „Armut macht krank und Krankheit macht arm“, diesem Teufelskreis sind die Menschen in den arm gehaltenen Ländern Afrikas ausgeliefert.

Dieses Drama war am 25. November Thema eines seltenen Dialoges zwischen der Europäischen Union und Afrika bei der zweiten europäischen Ministerkonferenz in Paris mit Vertretern aus 60 Ländern. Trotz des elementaren Menschenrechtes auf Freizügigkeit offenbarten jedoch die europäischen Verhandlungsführer unter französischer EU-Ratspräsidentschaft das bislang vorherrschende europäische Welt- und Menschenbild bei der angestrebten Migrationspolitik: Afrikaner ohne Zukunftsperspektiven sollen demnach warten, bis Europa sie braucht und solange mit afrikanischer Hilfe ausgesperrt werden. Erst ab 2030 benötige das überalterte Europa mit seinen rückläufigen Geburtenraten 30 Mio. zusätzliche Arbeitskräfte aus dem kinderreichen afrikanischen Kontinent. Allein Frankreich will solange jährlich 25.000 Afrikaner abschieben ins Elend, notfalls auch die Kinder der „illegalen“ Familien mit der Polizei aus der Schule holen. Und Spanien brüstet sich des besten Systems in der EU zur Abschiebung, indem es 92% der Immigranten wieder ausgeflogen hat. Dabei bedient es sich eigens eingerichteter Internierungslager in Mauretanien zur „Beendigung des afrikanischen Flüchtlingsstroms an den Küsten Südeuropas. Arme sollen unter sich bleiben und Reiche unter sich?

Was tun, wenn die Heimat kein Zuhause ist?

Auf der Ministerkonferenz über Migrationsfragen stießen zwei Welten aufeinander: die Zielländer Europas und die Herkunftsländer der Migranten in Afrika. „Die Menschen, die auf der anderen Seite unserer Meere auf die Fahrt in ein besseres Leben warten, teilen ein Schicksal: In Afrika können sie nicht, in Europa dürfen sie nicht bleiben“, so stellt medico international fest und fragt: „Was tun, wenn die Heimat kein Zuhause ist?“. In ihrer afrikanischen fischen die Europäer ihre Meere leer, beuten die dortigen Öl- und Rohstoffvorkommen aus und überschwemmen ihre Märkte mit Lebensmitteln zu Dumpingpreisen, mit denen die Erwerbs- und Lebensgrundlagen der dortigen bäuerlichen Gesellschaften zerstört werden. Die Flüchtlinge sind deshalb die Zeugen unserer Zeit, einer Zeit des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes jeder gegen jeden, ohne Rücksicht auf die Opfer und Verlierer, wie er in den europäischen Verfassungsentwürfen und Reformverträgen als Wirtschaftsprinzip verpflichtend festgeschrieben werden soll.

Zwecks Abschottung Europas, dem „größten und mächtigsten Binnenmarkt der Welt“ laut Lissabon-Strategie, sollen die Ausreisekontrollen mit Hilfe Afrikas bis in die Herkunftsländer vorverlagert und Afrika die unbürokratische Rücknahme abgeschobener Migranten aus Europa diktiert werden. Die Übernahme europäischer Polizeifunktionen bei der Abschiebung von Flüchtlingen soll den afrikanischen Partnerstaaten mit Geld honoriert werden durch Umschichtung der Gelder für die Entwicklungshilfe. So richtig der Handlungsansatz ist, durch erhöhte Entwicklungshilfe die Lebenssituation der Menschen in Afrika vor Ort zu verbessern, so falsch ist der Ansatz, die ohnehin zu geringen Gelder für die Entwicklungshilfe lediglich an willfährige oder korrupte Regierungen umzuverteilen. Von dort kommen sie kaum bei den bedürftigen Menschen an.

Zukunftschancen für die Ärmsten der Armen

Deshalb treten engagierte Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen aus der Zivilgesellschaft für mehr Menschlichkeit gegenüber den Flüchtlingen und Asylsuchenden in Europa und für sinnvolle Entwicklungsprojekte in den Herkunftsländern der Flüchtenden ein. Sie haben erkannt, dass der Reichtum Europas auch auf der Armut Afrikas gebaut ist; nur Teilen macht alle reich. Das ist die Botschaft der brüderlichen, grenzenlosen Weltwirtschaft, die keine neuen Zäune in den Köpfen, an den Staatsgrenzen oder zwischen den Kontinenten verträgt, sondern Liebe im Wirtschaftswesen erfordert.

Das hartnäckiges Eintreten der Menschenrechtsorganisationen hat am 3. Dezember den positiven Effekt bewirkt, das die EU-Kommission nun vor Weihnachten 2008 die Rechte von Asylsuchenden durch einheitliche Mindeststandards stärken will, auch durch den bislang verbotenen raschen Zugang auf die europäischen Arbeitsmöglichkeiten, Einkommenschancen, Bildungsangebote und Gesundheitsdienste, ohne die geflüchteten Menschen zwischen den Ländern hin- und her zu schieben. Ein Stück weit dürfen sie nun an unserem erwirtschafteten Wohlstand teilhaben. Denn Arbeit, Einkommen, Bildung und Gesundheit sind Menschenrechte, auch für Flüchtlinge und Asylbewerber. Ein kleiner Lichtblick mit Zukunftschancen für die Ärmsten der Armen.


[1] Wilhelm Neurohr: „Ist Europa noch zu retten?“ Pforte-Verlag 2008;

Der Autor unterstützt den Verein Avenir-Togo bei einem Projekt in Westafrika, www.avenir-togo“.de