Themenreihe: Europa geht anders - Wege aus der Krise
Nachschrift eines Vortrages von Wilhelm Neurohr am 28. 09. 2015 in Wesel,
Haus am Dom, im Rahmen einer Veranstaltungsreihe von attac Niederrhein
(Ko-Referenten Steffen Stierle und Peter Schönhöffer)
Europa von unten
Kulturelle Herausforderungen der europäischen Zivilgesellschaft
Vortragsankündigung mit Kurz-Zusammenfassung:
Vortrag Wilhelm Neurohr am 28. September in Wesel:
Welche Schlüsselrolle kommt angesichts des krisenhaften Zerfalls des bürgerfernen Europa der EU künftig den bürgernahen Kommunen und Regionen für eine Neubegründung Europas von unten zu? Wie kann das gültige Subsidiaritätsprinzip als Schutz vor einem übermächtigen und lobbyhörigen Zentralstaat wiederbelebt werden? Welchen Beitrag für die Zukunft eines anderen Europa – eines sozialen, solidarischen, demokratischen, friedlichen, humanitären und ökologisch orientierten Europa – können die Menschen vor Ort in Eigenverantwortung wirksam leisten? Kann die untere, tragende Ebene der Demokratie die kulturelle Kraft aufbringen, das einseitig auf die Wirtschaftsinteressen ausgerichtete Europa aus der Krise zu führen und den Menschenrechten wieder Geltung zu verschaffen? Was ist unsere Zukunftsvision von Europa – eines Europa der Menschen und der Regionen statt eines Europa der Konzerne und Finanzmärkte sowie der nationalen Egoismen?
Das missbrauchte und unsolidarische Europa der EU mit seinen nationalen Egoismen, seiner Scheindemokratie, seiner Lobbykratie, seinen neoliberalen Dogmen und der Diktatur der Finanzmärkte entfernt sich immer mehr vom einstigen Anspruch des Kontinents der Menschenrechte. Die von ihren Bürgerinnen und Bürgern weiter denn je entfernte EU versteht sich fast nur noch als Währungs- und Wettbewerbshüter und sieht das Heil der Zukunft in Bestrebungen nach einem zentralistischen Bundesstaat für über 500 Mio. Menschen, quasi als Maßstabsvergrößerung des Nationalstaatsgedankens, mit dem Ziel des wettbewerbsstärkster Binnenmarktes in Konkurrenz gegenüber dem „Rest der Welt“. Eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne Visionen von einer solidarischen Wirtschafts- und Sozialpolitik führt sichtbar zum Zerfall Europas. Die Verengung des öffentlichen und politischen Lebens auf wirtschaftliche und fiskalische Fragen sowie die Unterordnung der diesem dienenden Politik ist zum Scheitern verurteilt. Die Idee eines vereinten Europa ist politisch geradezu degeneriert.
Vom gepriesenen „Europa der Bürger“ mit dem europäischen Sozial- und Demokratiemodell und als Friedensprojekt sind wir weiter denn je entfernt, ebenso seit der Ukraine-Krise von einer zukunftsnotwendigen Ost-West-Integration. Und mit dem unsäglichen Begriff des „Exportweltmeisters“ fällt Deutschland als „führende Wirtschaftsnation“ der EU innerhalb einer globalisierten Wirtschaft in nationale Denkkategorein zurück. Mit seiner Militär -und Handelspolitik und dem Rückfall in nationale Egoismen und Abschottungspolitik hat Europa die humanitäre Krise mit ihren Flüchtlingsströmen und Armutswanderungen verschärft und mit verursacht sowie die innere Spaltung in Arm und Reich befördert. Eigentlich müsste die EU den unverdienten Friedensnobelpreis zurückgeben, denn ohne sozialen Frieden gibt es keinen Frieden. Diese Entwicklungen sowie die dramatische Wahlenthaltung bei den Europawahlen und das Vordringen rechtsnationaler Gruppierungen in allen Ländern Europas Europa zeugen vom Zerfall Europas mit einhergehender Sinnkrise, einer existenziellen sowie humanitären Krise der EU.
Das Krisenbündel aus Euro-und Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Demokratiekrise, sozialer Krise, Klimawandel, Flüchtlingsdrama und militärischer Zuspitzung inmitten einer chaotischen Weltlage, lässt eine Neubesinnung und Neubegründung Europas dringend notwendig erscheinen, denn das wahre Europa geht anders. Die Frage nach der Zukunft Europas ist zuvorderst eine Frage nach den zivilisatorischen und kulturellen Grundlagen und der kulturellen Entwicklung. Dafür hat die Wirtschaft eine dienende und nicht beherrschende Funktion.
Für die Zukunft des kriselnden und zerfallenden Europas kommt den Hunderttausenden Kommunen und Regionen mit ihren Menschen eine tragende Schlüsselrolle zu. Denn das bloße ohnmächtige Starren in einer Zuschauerdemokratie auf das Handeln der von Lobbyisten getriebenen politischen und wirtschaftlichen Eliten mit ihrem verfehlten Krisenmanagement hilft Europa nicht weiter. Weder von die Brüsseler Zentrale noch vom ziemlich machtlosen Straßburger Parlament, geschweige von den nationalen Regierungsvertretern ist ein grundlegender Neubeginn für ein demokratisches, soziales und solidarisches, friedliches und ökologisches Europa zu erwarten, sondern nur von den engagierten Menschen vor Ort selber.
Somit müssen die 500 Millionen Menschen in Europa vor Ort in ihren kulturellen, lokalen und regionalen Lebenszusammenhängen selber ihr Europa der Zukunft von unten gestalten in einem „Europa der Regionen“. Denn dort treffen sämtliche Probleme und Herausforderungen sowie Menschenbegegnungen wie in einem Brennglas aufeinander und fordern zur individuellen Verantwortung für das Geschehen heraus.
Die weitgehend von der EU mit ihren Vorgaben, Rechtsnormen und Geldtöpfen sowie Wettbewerbsregeln abhängigen Kommunen als örtliche und regionale Gemeinschaften müssen nach dem gültigen Subsidiaritätsprinzip ihre demokratischen Rechte energisch und kreativ wahrnehmen und notfalls „zivilen Ungehorsam“ üben.
In einem Bürgerkonvent sollten sie sich an vorderster Stelle an der Erarbeitung einer neuen Verfassung für Europa von unten beteiligen, die den neoliberal geprägten Lissabonner Vertrag als derzeitige Ersatzverfassung ablöst, (der immerhin auf dem Papier die Stellung der Kommunen und Regionen stärkt und ihnen erstmals ein Klagerecht vor dem EU-Gerichtshof einräumt.) Die Neubesinnung auf die eigentliche demokratische Kraft muss aber weitergehen und bereits erfolgte Schritte müssen in die Realität umgesetzt werden, statt in Vergessenheit zu geraten:
- Vor 30 Jahren hat der Europarat als ersten völkerrechtlichen Vertrag die Rolle der Städte und Gemeinden als erste bürgernahe Ebene der Demokratie bekräftigt.
- Vor 25 Jahren wurde die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung in Kraft gesetzt.
- Vor 20 Jahren wurde durch den Europarat der Kongress der Gemeinden und Regionen eingerichtet.
- Vor 10 Jahren wurde der Kooperationsvertrag zwischen dem Ausschuss der Regionen und der EU abgeschlossen, der auf die Förderung lokaler und regionaler Demokratie, Regionalisierung und Selbstverwaltung in Europa abzielt.
Eine Neubegründung Europas kann nur von unten ausgehen, von dort, wo der Jugend- und Kulturaustausch und die Städtepartnerschaften in Europa stattfinden, wo die Migranten in den Stadtvierteln integriert werden und die Menschenbegegnungen sich real abspielen, wo in den Europa-Schulen der Friedens- und Europagedanke zur Völkerverständigung gepflegt wird, wo regionale Kultur gepflegt („Einheit in der Vielfalt“) wird, wo Bürgernähe und Basisdemokratie möglich sind und die Lebensverhältnisse selber geregelt werden, wo sich Demokratie von unten nach oben aufbaut mit dem Subsidiaritätsprinzip als Schutz vor zentralstaatlicher Willkür oder globaler Konzernherrschaft. Denn das Primat der Politik gilt zuallererst auch für die lokale Ebene.
Im Rahmen der europäischen Bürgerbewegung gegen TTIP/CETA/TISA haben Hunderte Gemeinderäte, Stadtparlamente und Kreistage in Deutschland, Frankreich, Österreich u.a. mit ihren Ratsbeschlüssen bereits bewiesen, dass sie sich Brüsseler Diktaten und Frontalangriffen gegen die Kommunen von oben widersetzen, mit denen ihre kommunalen Selbstverwaltungsregeln massiv beschnitten würden. Das kann nur ein Anfang sein in dem Bemühen für ein neues, ein anderes, ein bürgernahes Europa von unten.
„Wenn wir Europa noch einmal gründen, sollten wir nicht mit der Wirtschaft, sondern mit der Kultur beginnen.“
Europa von unten
Kulturelle Herausforderungen der europäischen Zivilgesellschaft
Vollständige Vortragsnachschrift:
Liebe Anwesende,
ich bedanke mich für die Einladung hier nach Wesel zur Auftaktveranstaltung und für die freundliche Begrüßung. Mit der 3-teiligen Themenreihe zu Europa soll ja deutlich werden: So geht es mit Europa nicht weiter! Durch das aktuelle Flüchtlingsdrama auf dem Kontinent der Menschenrechte – die ja gerade vielfach mit Füßen getreten werden – wird das noch deutlicher und dramatischer.
Wie aber soll es mit der europäischen Integration in dieser Krisensituation und darüber hinaus weitergehen? Wie sehen die Alternativen aus für ein anderes Europa von unten - für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger anstelle eines Europa der Staatsmänner und Wirtschaftslenker, der Nationalisten, Chauvinisten und Rechtspopulisten, der Konzerne und Märkte, der Freihändler, Kaufleute und Lobbyisten?
Die Vision eines vereinten Europa ist ins Wanken geraten. Von gesellschaftlicher Aufbruch-Stimmung in Europa und für Europa ist weniger denn je zu spüren, eher von Abbruchstimmung und von Entsolidarisierung, von Werteverfall durch nationale Egoismen. Wir müssen deshalb die Europa-Debatte aus Berlin, Brüssel und Straßburg und den nationalen Hauptstädten sowie aus den Finanzmarktzentren und Konzernzentralen herunterholen auf die lokale und regionale Ebene vor Ort – so wie es hier und heute in Wesel geschieht.
Eine Serie wach rüttelnder Ereignisse der jüngsten Zeit in Europa
In jüngster Zeit sind wir ja öfter in Europa heftig wachgerüttelt worden, und das nicht erst seit dem Flüchtlingsdrama:
- Zunächst beim Finanz-Crash im Jahr 2007 infolge der Bankenkrise mit folgenschweren Auswirkungen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise auf Europa. Alle daraufhin beschlossenen Maßnahmen reichen bei weitem nicht aus zur Verhinderung eines erneuten Finanz-Crash und zur Einführung einer sozial wirksamen Geldordnung. Die nächste Krise kommt bestimmt und recht bald.
- Dann, nach dem Euro-Maidan 2013 und der Krim-Krise, kam es zum Ukraine-Konflikt und zum Krieg in der Ost-Ukraine - mit einer neuen Spaltung Europas in Ost und West und Rückfall in den kalten Krieg, mit der weiteren Ost-Ausdehnung der Nato und militärischem Säbelrasseln auf beiden Seiten. „Wandel durch Annäherung“ als Leitbild der bisherigen Ostpolitik (seit Willy Brandt und Egon Bahr) ist abgelöst worden vom „Wandel durch Konfrontation“.
- Es folgten die Erschütterungen der europäischen Währungsunion durch die griechische Finanz- und Staatsschuldenkrise mit dem 2015 drohenden Staatsbankrott in Griechenland infolge der verheerenden Austeritätspolitik mit ihrer sozialen Zerstörungswut. Zugleich wurde deutlich: „Griechenland ist überall“, bis hinunter zu Spardiktaten und Sparkommissaren für zahlungsunfähige und hoch verschuldete Kommunen auch hier am Niederrhein.
- Nunmehr beherrschen die starken Flüchtlingsströme verzweifelter Menschen aus den Kriegs- und Armutsländern nach Europa in unsere Kommunen den Alltag, mit neuen Grenzziehungen und Ausgrenzungen, und mit mittlerweil 24.000 Toten auf dem Mittelmeer, aber auch mit dem Versuch zur Hilfe..
- Parallel zu alledem droht in ganz Europa der Ausverkauf der Demokratie und das Ende der Gewaltenteilung durch die Freihandelsverträge der EU mit den USA, mit Kanada und mit 23 WTO-Ländern (TTIP, CETA, TISA). Europa zeigt sein wahres (egoistisches) Gesicht: Durch unfaire Freihandelsverträge (als „geopolitische Waffen“ im globalen „Wirtschaftskrieg“ ) unter Ausschluss oder mit Übervorteilung der Entwicklungs- und Schwellenländer entstehen neue Blockbildungen mit wenigen Gewinnern und vielen Verlierern.
Dann brauchen wir uns auch nicht zu wundern, wenn die Verlierer aus den Armutsländern scharenweise zu uns nach Europa kommen, denn unser Reichtum ist
auf deren Armut gebaut.
Eine Revision der Europa-Politik ist unverzichtbar
Ohne Sozialbindung der Wirtschaft geraten mit den Freihandelsverträgen auch die öffentlichen und kommunalen Güter und Dienstleistungen in Europa unter Druck, die kommunale Daseinsvorsorge und die Demokratie insgesamt – und damit auch der Sozialstaat, die Arbeitnehmerrechte, die Umwelt und der Verbraucherschutz.
Mit Millionen Unterschriften im Rahmen einer europäischen Bürgerinitiative haben die Bürgerinnen und Bürger ihren Unmut über die unfaire Freihandelspolitik zum Ausdruck gebracht.
Bis zu diesen Ereignissen dominierte das allgemeine Desinteresse an europäischen Themen in der Bevölkerung. Es gab zuvor kaum eine europäische Öffentlichkeit mit Diskursen zur Europapolitik. Auch bei der Europawahl 2014 gab es nur eine Wahlbeteiligung von 42% sowie den Durchmarsch rechtsnationaler Parteien in fast allen EU-Ländern.
Die Spaltung Europas in Arm und Reich und die fehlende Vision einer Sozialunion haben daran ihren Anteil, obwohl Europa einst angetreten war, den Wohlstand für alle und nicht nur für ganz wenige zu mehren. Die gültige „Europäische Sozialcharta“ ist in Vergessenheit geraten. Für den sozialen Zusammenhalt und die demokratische Kultur ist eine Revision der bisherigen Europa-Politik unverzichtbar!. Denn die EU ist zu einem Projekt geschrumpft, das nur noch die allgemeine Marktkonkurrenz organisiert.
Ohne sozialen Frieden, der heftig gestört ist, kann es kein friedliches Europa geben! Unter der Herrschaft der Exekutive betreibt die EU eine Politik gegen den Willen des Volkes, als Getriebene der Lobbyisten (davon gibt’s 30.000 allein in Brüssel). Eine Revision der Europa-Politik ist unverzichtbar, nicht zuletzt eine Wiederbelebung auch der einstigen Friedens- und Abrüstungspolitik in diesen Zeiten des höchsten Rüstungsniveaus und der unübertroffenen Waffenlieferungen auch in Krisengebiete durch die Staaten des „Friedensnobelpreisträgers“ EU.
Fast schon in Vergessenheit geraten ist die so genannte „Sicherheitskonferenz“ vom Februar 2015 in München – mit einem (demokratisch nicht legitimierten) Systemwechsel in der europäischen und deutschen Sicherheits- und Außenpolitik. Dort wurde auf Drängen der europäischen Nato-Partner und der USA sowie der Rüstungslobbyeine eine führende Rolle Deutschlands allseits eingefordert und propagiert - und in einem Papier der Bundesregierung sowie in Reden des Bundespräsidenten Gauck, der Bundesverteidigungsministerin van der Leyen und des Außenministers Steinmeier unverblümt zum Ausdruck gemacht.
Damit wurde einer weiteren Militarisierung der Europapolitik Vorschub geleistet statt einer gänzlich fehlenden Abrüstungsinitiative oder wenigstens einem Stopp von Waffenlieferungen in Krisenländer, wie von Wirtschaftsminister Gabriel vollmundig versprochen, aber nicht eingehalten.
Die wenigsten wissen, dass eine permanente Aufrüstungsverpflichtung im Lissabonner Grundlagenvertrag der EU festgeschrieben ist, deren Einhaltung durch die europäische Verteidigungsagentur (anfangs hieß sie noch Rüstungsagentur) unter Leitung des ehemaligen Rüstungs-Staatssekretärs aus dem deutschen Verteidigungsministerium kontrolliert wird. (Mehr darüber finden Sie in meinem Europa-Buch von 2008). Das ansonsten recht konzeptionslose und visionsarme Europa der Eliten zeigt sein wahres Gesicht und seine geleugneten geopolitischen Ambitionen.
In welcher Verfassung ist Europa?
Schon längst in Vergessenheit geraten sind die zurückliegenden Auseinandersetzungen um die EU-Verfassung und den Lissabonner Grundlagenvertrag als deren fast gleichlautender Ersatz. In 2004 hatten ja bei ihren Referenden die französische und niederländische Bevölkerung mit großer Mehrheit den von oben übergestülpten neoliberalen Verfassungsentwurf aus dem geheimen Hinterzimmer-Konvent abgelehnt.
Sogar der konservative heutige EU-Kommissionspräsident Juncker sagte damals: „Statt einer versprochenen Demokratie-Show erleben wir den Verfassungskonvent als die dunkelste Dunkelkammer, die ich je erlebt habe“. Stattdessen präsentierte die EU in 2007 während der Ratspräsidentschaft von Kanzlerin Merkel den inhaltsgleichen „Lissabonner Reformvertrag“ als Verfassungsersatz, wiederum ohne jede Bürgerbeteiligung aus den Hinterzimmern heraus, obwohl nach der gescheiterten Verfassung eine breite Bürgerbeteiligung hoch und heilig versprochen worden war, aber nur in Irland durchgeführt wurde. (Die Iren lehnten auch den gleichlautenden Lissabon-Vertrag zunächst ab, der daraufhin unter allerlei Drohungen nochmals dort zur Abstimmung gestellt wurde, bis er eine knappe Zustimmung erzwungenermaßen bekam).
In dieser Phase und aus diesem Anlass heraus hatte ich 2008 mein Buch veröffentlicht: mit dem Titel: „Ist Europa noch zu retten? Wie die EU den Europa-Gedanken verfälscht. Alternative Wege zu einer europäischen Identität.“ Darin sind auch Kapitel über die zahlreichen Initiativen für ein Europa von unten enthalten.
Die herrschende Exekutive in der Europäischen Union (mit legislativen Kompetenzen) hat mit ihrer ewigen undemokratischen Geheimhaltungs- und Hinterzimmer-Politik zu wenig Interesse an den Werten, Ideen und Erwartungen der Menschen in Europa. Sie fokussiert sich stattdessen auf die ökonomischen, fiskalischen, wettbewerbspolitischen und geopolitischen sowie militärischen Fragen mitsamt der Ost-Erweiterung und dem dort brandgefährlichen Krisenszenario, das die EU selbst mit heraufbeschworen hat. Europa ist derzeit in keiner guten Verfassung.
Die EU sollte den Friedensnobelpreis in Demut zurückgeben
Trotzdem werden von der EU als Friedensnobelpreisträger allenthalben „europäische Werte“ beschworen – obwohl die alltägliche Verletzung der Menschenrechte und der Menschenwürd nicht nur in irgendwelchen „Schurkenstaaten“ stattfindet, sondern auch mitten in Europa – vom Flüchtlingssterben im Mittelmeer über das Verarmungsprogramm für Griechenland bis hin zur Schikane per Gesetz durch Hartz IV. Und alles überlagernd die menschenverachtende neoliberale Wirtschaftsideologie nach der unsäglichen EU-Lissabon-Strategie, der stärkste und mächtigste Binnenmarkt der Welt werden zu wollen, der alle anderen niederkonkurriert.
Meines Erachtens müsste und sollte die EU mit ihren eklatanten Demokratie-Defiziten und der verzerrten Gewaltenteilung längst den 2012 erhaltenen Friedensnobelpreis in Demut zurückgeben, den sie unverdient erhalten hat für Versöhnung und Frieden, Demokratie und Menschenrechte. Denn alle drei sind derzeit in Gefahr und werden vielfach missachtet.
Deshalb erfordern die das Individuum schützenden Menschenrechte auch des individuellen Engagements vor Ort zu ihrer Verteidigung. Das beginnt bei Vorgängen wie der europäischen Vorratsdatenspeicherung unter dem willkommenen Vorwand des (indirekt mit verursachten) IS-Terrors, über die Aushöhlung der kommunalen Selbstverwaltung trotz des Subsidiaritätsprinzips, bis hin zu den Gesundheits- und Armutsrisiken und -folgen durch den Sozialabbau in ganz Europa.
Die Ursprungs-Idee Europas war ja ein solidarischer und demokratischer Raum des Friedens und des Wohlstands für alle. Diese Idee eines vereinten Europa ist geradezu degeneriert! Europa hat sich in eine Sinnkrise manövriert und ist als großes Friedenprojekt auf Abwegen, im Inneren wie im Äußeren.
Ausverkauf einer großen Idee durch viele Todsünden der EU
Wir erleben gerade den Ausverkauf einer großen Idee durch viele Todsünden der EU (und ihrer zugehörigen egoistischen Nationalstaaten), von denen ich nur einige genannt habe. Die europäische Idee wurde auch deshalb verraten, weil die Kontrollmechanismen einer funktionierenden Demokratie von unten fehlen!
Die allmächtige Exekutive aus EU-Kommission, europäischem Rat der Regierungschefs und Ministerkonferenzen wurde eine legislative Machtfülle übertragen zu Lasten der entmachten Parlamente und des Volkes als Souverän. Demgegenüber fehlen etwa dem Straßburger Parlament die gesetzgeberischen Kernkompetenzen eines richtigen Parlamentes als Volksvertretung sowie hinreichende Kontrollfunktionen.
Und wie soll in einem Staatenbund mit 500 Mio. Menschen die Bürgerbeteiligung von unten funktionieren? (Zum Vergleich: In den USA mit 50 Bundesstaaten leben ca. 300 Mio. Menschen). Deshalb kann das vielfach propagierte Ziel der „vereinigten Staaten von Europa“ nicht funktionieren – weil das den Nationalstaat nicht abschaffen, sondern hierarchisieren würde auf eine zentralistische Ebene hin. Von dort würde das politische und gesellschaftliche Leben noch mehr auf nur wirtschaftliche und fiskalische Fragen mit Fokussierung auf Wettbewerb und Binnenmarkt verengt. Und das Ganze weiterhin durchsetzt von nationalen Egoismen und Konkurrenzen, sowohl beeinflusst von Lobbyisten und ungezügelten Finanzmarktakteuren an den Schaltstellen. Europa quasi als bloßer Interessenverband der Wirtschaft kann nicht funktionieren!
Die zivilgesellschaftlichen Netzwerke von „Abgeordnetenwatch“ und „Lobbycontroll“ sowie von „Corporate Europe Observatory – CEO“ haben ja veröffentlicht, wohin sich die ausgeschiedenen EU-Kommissare ohne Karenzzeit begeben haben, nämlich als gut bezahlte Wirtschaftslobbyisten just in solche Bereiche, mit denen sie vorher als EU-Kommissare zu tun hatten, von Herrn Barroso über seine Stellvertreterin Frau Reding bis hin zum Ex-Umweltkommissar Potocnik und 6 weiteren. Schon die früheren deutschen EU-Kommissare Verheugen und Bangemann haben es ebenso gemacht. Und der amtierende EU-Kommissionspräsident Juncker lässt einen ehemaligen Bertelsmann-Lobbyisten, Prof. Selmayr, als seinen einflussreichen Kanzleichef (und vorherigen Wahlkampfleiter) in der Kommission schalten und walten. Auch diese Verfilzung zwischen Politik und Wirtschaft gehört zu den Todsünden der EU.
Wollen wir ein Europa der Menschen oder der Märkte?
Wir müssen uns doch fragen, was wir eigentlich wollen: Wollen wie ein Europa der Märkte oder ein Europa der Menschen? Denn nicht der Mammon, sondern die Menschen bilden den wahren Reichtum Europas. „Nicht Staaten vereinigen wir, sondern Menschen“, soll schon einer der EU-Gründungsväter, Jean Monnet, gesagt haben.
Doch die heutige EU sieht sich fast nur noch als Währungs- und Wettbewerbshüter. Ihr Ziel der Lissabon-Strategie ist es unverändert, stärkster Wirtschaftsraum und Binnenmarkt gegenüber dem „Rest der Welt“ (Letzteres sind 94% der Bevölkerung) werden zu wollen.
Dazu pflegt die EU-Politik ein Staatsverständnis, bei dem sich die Politik der Wirtschaft unterzuordnen hat. (Schon Gerhard Schröder propagierte seinerzeit in seiner ersten Regierungserklärung demgemäß: „Die Politik hat der Wirtschaft zu dienen“). Das kann nicht unser Staatsverständnis für Europa aus Bürgersicht sein:
Europa als großer „Supermarkt“ in einem zentralistischen „Superstaat“?
Wir spüren inzwischen längst: Die Politik leidet generell an der Erschöpfung früherer politischer Ideale, Konzepte und Visionen sowie einstiger demokratischer Grundprinzipien. Deshalb steht Europa in einer Zerreißprobe mit einem ganzen Krisenbündel aus Euro- und Finanzkrise, Wirtschaftskrise und sozialer Krise, Demokratie-Krise und Flüchtlingsdrama sowie Friedensgefährdungen und Erstarken der politischen Rechten allenthalben. Und das Ganze noch überlagert durch militärische Einsätze in aller Welt, Terror-Drohungen und Klimawandel – inmitten einer chaotischen Weltlage ringsum.
Es fehlt ein Leitbild für die Zielrichtung nachhaltiger Zukunft Europas – und es mangelt an einer aktiven europäischen Bürgergesellschaft, die über Einzelthemen wie TTIP oder EU-Verfassung hinaus den politischen Dialog und öffentlichen Diskurs als Souverän „von unten“ bestimmt. Von einer kaum noch existenten europäischen Friedenbewegung in Zeiten des wieder eingetretenen „kalten Krieges“ oder des faktischen „Wirtschaftskrieges“ mit „marktbeherrschenden Waffen“ ganz zu schweigen. Eigentlich fehlt die aktualisierte und vertiefte Frage nach dem Wozu des ganzen EU-Projektesud nach seiner Revision.
Lassen Sie mich meine zugespitzte Bestandsaufnahme oder Zustandsbeschreibung Europas abrunden mit der Feststellung: Europa ist in einer regelrechten Sinnkrise! Aber eine Krise ist auch immer eine Chance zur Veränderung, zur Besinnung und Neubegründung nach einem Aufwach-Erlebnis. Und tatsächlich scheint Europa wach zu werden – nach jahrzehntelanger Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse – nunmehr auch für humanitäre, soziale und ökologische Fragen – und für seine Demokratie-Defizite.
Denn wir sind Europa! Europa geht nicht ohne uns! Und Europa geht nur demokratisch! Und Demokratie geht nur von unten nach oben – und nicht von oben nach unten!
Europas Zukunft hängt von seiner kulturellen Entwicklung ab
Die Frage nach der Zukunft Europas – über bloßes Krisenmanagement in der Gegenwart hinaus – ist zuvorderst eine Frage nach den zivilisatorischen und kulturellen Grundlagen und der kulturellen Entwicklung. Dafür hat die Wirtschaft eine dienende und nicht beherrschende Funktion. Und die Politik kann keine Sklavin von Ökonomie und Finanzen sein, sondern soll sich um Recht und Gerechtigkeit kümmern, um die soziale Ordnung. Und sie sollte das Feld von Bildung, Wissenschaft und Kultur den Kulturschaffenden überlassen. Politik hat nicht die Aufgabe der Sinnstiftung und Orientierungsvorgabe für die Menschen in Europa. Sondern wir als mündige Menschen müssen das schon selber aus uns hervorbringen, das kann uns niemand abnehmen!.
Deshalb kann die Kultur selber – als Grundlage menschlichen Handelns – niemals eine Handelsware sein, wie etwa in den Freihandelsabkommen vorgesehen. Die mit der Wirtschaft allzu eng verbandelte und verfilzte Politik kann selber nur befreit und bereichert werden, wenn sie kulturelle Impulse aus der Gesellschaft aufnimmt. Deshalb müssen wir als Zivilgesellschaft den Kampf zwischen Kultur und Kommerz aufnehmen, und dieser Kampf beginnt innerlich bei uns selber und unserer Werteorientierung. Die vielbeschworenen „gemeinsamen Werte Europas“ sind letztlich Ausfluss der errungenen inneren Werte der einzelnen Individuen in ihrem Zusammenklang.
Es macht folglich überhaupt keinen Sinn, in einer Art Zuschauerdemokratie untertänigst nur „nach oben“ zu starren auf die Aktivitäten und Handlungen der Staatenlenker und der Wirtschaftslenker und bloße Forderungen an diese zu richten. Wenn wir kein „Europa der Konzerne“ und der Finanzmarktjongleure wollen, sondern ein Europa der Bürgerinnen und Bürger von unten, dann müssen wir m. E. auch ganz unten ansetzen, z. B. bei der seit 200 Jahren bewährten kommunalen und bürgernahen Selbstverwaltungsebene als der untersten Demokratie-Ebene.
Dazu müssen wir uns auf das gültige Subsidiaritätsprinzip laut Lissabon-Vertrag besinnen, das ja gerade der beste Schutzmechanismus zur Abwehr gegen einen vormundschaftlichen Zentralstaat ist – ein zentralstaatliches Gebilde mit unterschiedlich einflussreichen nationalen Machtzentren, die durchdrungen sind von zigtausenden Lobbyisten als der heimlichen Regierung von Europa.
Das Subsidiaritätsprinzip als Schutz gegen einen übermächtigen Zentralstaat
Das Subsidiaritätsprinzip – festgelegt in den EU-Verträgen und bekräftigt durch das EuGH – bedeutet folgendes: Eine höhere staatliche oder zentralstaatliche Ebene darf nicht regeln, was die darunter liegende Ebene selber oder besser erledigen und bewältigen kann. Nicht immer mehr Kompetenzen nach oben abzugeben, sondern immer mehr nach unten zu delegieren in die Gestaltungsfreiheit der betroffenen Menschen ist das Gebot der Stunde.
Lösungen sollten also zunächst in den Städten und Gemeinden gefunden werden, (die aktuell ihre höhere Kompetenz bei der Organisation zur Bewältigung des massiven Flüchtlingszustroms unter Beweis gestellt haben). Erst wenn dies nicht möglich ist, dann ist die nächsthöhere, die regionale oder nationale Ebene gefordert und zu guter Letzt die EU-Ebene etwa bei zwischenstaatlichen oder kontinentalen und globalen Problemlösungen. Die EU ist also erst dann am Zuge, wenn ein länderübergreifendes Problem mit ihrer Hilfe oder in solidarischer Gemeinschaft besser und effizienter gelöst werden kann.
Bei jedem neuen Thema und Anliegen sofort nach der EU zu rufen, diese Mentalität müsste dann weg! Subsidiarität ist also das Gegenteil eines vormundschaftlichen Staates und die Rückbesinnung auf eine Basisdemokratie! Das ist von hoher Bedeutung für die europäische Zukunftsdiskussion! Wenn wir politische und gesellschaftliche Veränderung und eine nachhaltige Zukunft in Europa anstreben. müssen wir uns auf die gestalterische Kraft der Bürgerbewegung und der Zivilgesellschaft besinnen!
Denn die Identität Europas kann nur von dort kommen, wo europäisch denkende und handelnde Menschen aktiv sind. So gesehen ist Europa kein geografischer Ort, sondern eine universelle Idee! Womit identifizieren wir uns am meisten? Doch mit den Ideen und Projekten, die wir selber maßgeblich mitgestaltet haben oder an denen wir zumindest beteiligt sind. Deshalb müssen wir als Europäer unser Europa wieder vom Kopf auf die Füße stellen, denn die EU war anfänglich eine Kopfgeburt von alten Staatsmännern und Wirtschaftsmagnaten.
Alle großen Veränderungen in Europa gingen von zivilgesellschaftlichen Bewegungen aus
Europa gehört den Bürgerinnen und Bürgern, nicht den Eliten, deshalb hat jeder oder jede Einzelne eine große Verantwortung für das Gelingen des Projektes Europa. Bei genauerer Betrachtung stellen wir fest: Die großen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen und Fortschritte gingen fast niemals von Regierungen, Parlamenten oder Parteien aus. Sondern stets von zivilgesellschaftlichen Bewegungen: Umweltbewegung, Frauenbewegung, Arbeiterbewegung, Friedensbewegung, Anti-Atom-Bewegung, Sozialbewegung, Freiheitsbewegungen, 68-er Bewegung als außerparlamentarische Opposition, Runde Tische in der DDR usw.
(Ähnlich die Revolutionsbewegungen im arabischen Raum als „arabischer Frühling“, in Lateinamerika oder die Jasmin-Bewegung in China – mit Ausnahme vielleicht von „Glasnost“ und „Perestroika“ in der alten Sowjetunion auf Betreiben des russischen Staatschefs Gorbatschow). Für grundlegende Veränderungen muss natürlich auch die Zeit reif sein. Für ein anderes Europa ist die Zeit überreif! Ein anderes, neues Europa muss wieder von gesellschaftlichen Strömungen getragen werden! Und zwar dorthin, wo es die Menschen haben wollen und nicht die lobbyhörigen Eliten in ihrer politischen Subkultur – denn wir sind der Souverän! Und zwar von dort aus ist zu beginnen, wo die Lebenszusammenhänge vor Ort die Menschengemeinschaft prägen, nämlich von „ganz unten“.
Es gab und gibt ja schon viele Initiativen von unten, die sich des Zukunftsprojektes „für ein anderes Europa“! Angenommen haben, die einen Neustart für Europa wollen und Ziele und Weg dazu aufzeigen, aber auch Verfahrensweisen und Schritte dahin, wie z. B. ein Bürgerkonvent für eine neue EU-Verfassung. Und in 2013 hat bereits ein breit unterstützter Aufruf sowie ein Alternativgipfel stattgefunden unter dem Motto “Europa von unten“. In 2014 gab es eine große Open-Space-Konferenz und die Netzwerkgründung „Europa von unten“.
Europa braucht das Engagement der Jugend statt eine „verlorene Generation“
Auch die Jugend in Südeuropa formiert sich zu einer Bewegung – denn die arbeitslose und perspektivenlose „verlorene Generation“ erlebt Europa als Rückschritt in punkto soziale Sicherheit, Demokratie, Menschenrechte und Wohlstand. Sie rufen den gewählten und mancherorts korrupten Politikern zu: „Ihr repräsentiert uns nicht!“
Längst vernetzt sich die Jugend Europas (auch Generationen übergreifend). Ich erinnere an die großen Europäischen Sozialforen der Zivilgesellschaft zwischen 2000 und 2010: In Florenz, in Paris, in London, Athen, Malmö und Istanbul mit jeweils zigtausenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern (in Paris sogar über 100.000)! Oder an die Attac-Sommerakademie 2008 in Saarbrücken mit den Teilnehmern aus 28 Ländern zum Thema: „Für ein anderes Europa von unten“! Hier wurden viele brauchbare Ideen und Vorschläge geboren.
Eine ehrliche Debatte ist nötig in einer offenen Gesellschaft, wie es mit der europäischen Integration weiter gehen soll, bevor wir uns weiter rückwärts statt vorwärts bewegen. Demokratie in Europa braucht eine demokratische Öffentlichkeit und Diskurse in europäischen Medien. Nicht zuletzt die aktuelle europäische Anti-TTIP-Bewegung erweist sich als eine solche europäische Demokratiebewegung mit ihren 3 Mio. Unterschriften und vielen Aktionen, wie es sie vorher noch niemals gab:
Einerseits eine länderübergreifende Vernetzung durch die über 500 beteiligten Bündnisse (mit Unterstützung durch etablierte Institutionen wie Kirchen, Gewerkschaften, Verbände, Kulturschaffende oder Mittelstandsvereinigungen),, andererseits flächendeckende lokale und regionale Veranstaltungen mit dem Ergebnis von Hunderten kommunalen Ratsbeschlüssen in Deutschland, Frankreich, Österreich und anderswo. Das ist faktisch die größte europäische Bürgerbewegung seit dem 57-jährigen Bestehen der EU, mit zigtausend Teilnehmern an Veranstaltungen und Aktionen - und hoffentlich weit über 100.000 Teilnehmern bei der bevorstehenden Großdemonstration am 10. Oktober in Berlin und in anderen europäischen Hauptstädten.
Und auch das „Alternative Handelsmandat“ - über das Peter Schönhöffer hier am 3, Themenabend vortragen wird – ist von 50 zivilgesellschaftlichen Organisationen in 4 Jahren gemeinsam erarbeitet worden zur Kursänderung europäischer Handelspolitik in Richtung fairer Handel. Nicht zuletzt ist das Zustandekommen der „Europäischen Sozialcharta“ des Europarates von 1965 (mit Aktualisierung von 1999) auch auf den Druck der Zivilgesellschaft von unten zustande gekommen, die den Mindestrahmen für eine „Sozialunion“ vorgibt, mit der die Jugend Europas eine Zukunft bekäme.
Die Schlüsselrolle der kommunalen Ebene für die Zukunft Europas
Mit den von Attac angestrebten „10.000 TTIP-freien Kommunen“ werden wir auf den Stellenwert der kommunalen Ebene in Europa verwiesen. Werfen wir eine kurzen Blick in die Historie: Vor 2 Jahren feierten wir das 25-jährige Jubiläum der „Europäischen Charta der Kommunalen Selbstverwaltung“. Und schon lange, bevor der politische Begriff „Europa“ gebildet (oder eine EU gegründet) wurde, hat das europäische Städtewesen mit seinen vielfältigen Handelsbeziehungen einen europäischen Raum gebildet.
Auch schon lange vor der EU gab es die ersten europäischen Städtepartnerschaften, nämlich schon im Jahr 836 zwischen Paderborn und Le Mans in Frankreich. Seit 1913 schon gibt es auch die Städtepartnerschaft zwischen Rottweil und Brugg in der Schweiz. 1921 wurden zahlreiche Städtepartnerschaften zwischen Frankreich und Großbritannien gegründet. 1925 folgte Kiel mit Sonderburg in Dänemark und 1930 Wiesbaden und Klagenfurt in Österreich. Dann, nach dem Krieg, zwischen 1947 und 1950 wieder zahlreiche neue Städtepartnerschaften. Heute verzeichnen wir insgesamt 40.000 europäische Städtepartnerschaften, mit steigender Tendenz.
1951 schließlich gründeten 50 Bürgermeister deutscher und französischer Städte den „Rat der Gemeinden Europas (RGRE)“ zur Aussöhnung zwischen den Völkern und zur grenzüberschreitenden kommunalen Zusammenarbeit. Zur nachbarschaftlichen Zusammenarbeit in Grenzregionen haben sich dann seit 1958 fast 130 Städte, Kommunen und Landkreise in der EUREGIO zusammengefunden. (Dafür erhalten sie Milliardensummen aus dem EU-INTERREG-Programm). Insgesamt ist deshalb die Achtung der Eigenständigkeit der Städte und Regionen von großer Bedeutung für Europas Zukunft, insbesondere für seine kulturelle Entwicklung.
Immerhin hat das Straßburger Europa-Parlament im Lissabon-Vertrag positiv durchgesetzt, dass Verbesserungen für die Kommunen und Regionen hineingeschrieben wurden: Mehr kommunale Selbstverwaltung, mehr Bürgernähe und besonderer Stellenwert der öffentlichen Daseinsvorsorge zum Schutz des Einzelnen gegenüber den Institutionen, außerdem erstmalig ein eigenständiges Klagerecht der Kommunen vor dem europäischen Gerichtshof (EuGH).
Wie die EU die untere Ebene bevormundet statt Aufgaben zu delegieren
Doch die EU-Kommission hält sich trotz Nichtzuständigkeit nicht immer an diese Vorgaben, auch nicht das EU-Parlament selber, Denn schon vor 10 Jahren wurde mit dem 1993 gebildeten „Ausschuss der Regionen“ bei der EU – in dem die kommunalen Gebietskörperschaften (Städte, Regionen und Bundesländer) ein Anhörungsrecht in allen Angelegenheiten haben, die sie betreffen - ein Kooperationsvertrag geschlossen zur „Förderung lokaler und regionaler Demokratie und Selbstverwaltung“. Jedoch bei TTIP wurde der Ausschuss zunächst gar nicht und dann viel zu spät beteiligt und angehört. Echte Mitbestimmungsrechte hat er ohnehin nicht. Erst 2015, nach 2-jähriger Verhandlung, konnte sich der Ausschuss zu TTIP, CETA und TISA zu Wort melden. Die Stimme der Kommunen kommt in Europa nicht zur Geltung.
Dabei wird längst der Großteil kommunalen und regionalen Handelns von europäischer Politik und Gesetzgebung beeinflusst, nämlich zu ca. 80%, ungeachtet des gültigen Subsidiaritätsprinzips. Immer mehr Rechtsnormen und -vorgaben der EU für das gesellschaftliche System gehen zu Lasten der Kommunen und ihrer lokalen Entscheidungs- und Handlungskompetenz, bis hin zu Verpflichtung europaweiter Ausschreibung von Aufträgen und größeren Beschaffungen. Die EU steckt ihre Finger bis in kommunale Unternehmen wie Sparkassen oder Stadtwerke und Wasserversorger.
Dabei bedeutet Subsidiarität (als Kompetenzhierarchie von unten nach oben) eigentlich für die Kommunen und Regionen, nicht immer mehr Aufgaben von der EU als oberster und bürgerfernster Ebene bestimmen oder wegnehmen zu lassen, sondern dass mehr Verantwortung und Entscheidungskompetenz von oben nach unten delegiert wird. Auch die Mehrzahl der Landes- und Bundesgesetze spiegeln nur umzusetzendes EU-Recht, das von Kommunen einzuhalten und vor Ort durchzusetzen ist.
Auch die EU-Förderung kommunaler und regionaler Projekte über EU-Programme oder Fonds gängelt die Kommunen und nimmt so auf Kommunalpolitik und Kultur Einfluss, und das mit Milliardenbeträgen jährlich nach deren strengen Vorgaben und Auflagen (teilweise verwaltet von Land und Bund für die Kommunen). Dagegen wären eigene regionale Budgets aus EU-Mitteln für die Kommunen ohne Gängelung sinnvoll, mit eigenen demokratischen Entscheidungsspielräumen für deren Verwendung.
EU-Eingriffe in unseren Alltag statt Begrenzung von Kontrolle und Macht
Die EU greift täglich von oben in unser Leben da unten ein, von Gesundheitsnormen für unsere Lebensmittel (mit Durchlässigkeit von Gentechnik gegen den Willen der Verbraucher) über Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmer (zu Lasten tariflicher Strukturen) bis hin zu nachteiligen Wettbewerbsregeln für die öffentlichen Ausschreibungen und Vergaben der Kommunen (zu Lasten der örtlichen Betriebe, Handwerker und Dienstleister). Statt dass sich Europa über die Köpfe der Bürger hinweg abspielt, muss vielmehr die Begrenzung von Kontrolle und Macht der EU das Kennzeichen parlamentarischer Demokratie sein. Das wird jedoch in der EU ad absurdum geführt.
Wir brauchen mehr Freiheiten für regional angepasste Lösungen ohne Maßregeln und Veto-Recht der EU von oben! Ebenso eigen regionale Budgets ohne Gängelung, wie bereits angesprochen. Und die Kommunen brauchen ein wirksames Mitspracherecht bei europäischen Rechtsetzungen, wenn kommunale Belange tangiert sind. Erst die Macht von Tausenden selbstbewussten Kommunen in ganz Europa führt zu einer Machtbegrenzung der Brüsseler Zentralinstitutionen und Exekutivräte (wie europäischer Rat oder Ministerrat).
Regionale Vielfalt und kulturelle Identität in einem „Europa der Regionen“
Wer regionale Vielfalt und kulturelle Identität erhalten oder anerkennen will, der muss ein Europa der Regionen zur Grundlage der europäischen Verfasstheit machen! Zwischen Zentralsierung und Nationalisierung europäischer Entscheidungswege muss als dritter Weg ein von allen akzeptiertes Gleichgewicht auf regionaler Ebene geschaffen werden!
Eine richtig verstandene Regionalisierung Europas – also keine rückwärtsgewandte Kleinstaaterei, keine Separatismus und keine regionalen Autonomie-Bestrebungen (wie etwa bei den Katalanen, Basken oder Bretonen) – könnte sich als Ausweg aus der Dauerkrise Europas erweisen!
Denn in den überschaubaren Regionen sind die Gestaltungsräume der miteinander lebenden Menschen, in denen sich sozialreformerische Ideen und Initiativen kulturell entfalten können – die dann auf ganz Europa ausstrahlen!
Soziale und kulturelle Grundbedürfnisse der Menschen werden in den Städten und regionalen Lebensräumen vor Ort befriedigt. Dort werden ihre Lebensstile geprägt, dort finden Zusammenarbeit und interkulturelle Begegnung statt und dort wird Anonymität überwunden! Und dort werden Armut und Reichtum konkret und personifiziert – Auge in Auge – sichtbar und Solidarität geübt!
Wer also die Einheit Europas anstrebt, aber zugleich die regionale Vielfalt und kulturelle Identität erhalten und fördern will, der muss „Einheit in der Vielfalt“ unterstützen!
Mindestvoraussetzungen für ein soziales u. demokratisches Europa von unten
Zu einem kulturell tragfähigen und somit sozialen Europa gehört vor allem auch ein funktionsfähiger und selbstverwalteter Sektor der öffentlichen Daseinsvorsorge, und zwar vor allem auch auf der untersten lokalen Ebene des wiederzubelebenden Sozialstaates.
Denn ohne bezahlbaren Zugang für alle zu öffentlichen Gütern und Dienstleistungen wie Wasser, Energie, Wohnen, Mobilität, Bildung, Kultur, Sozialeinrichtungen etc. gibt es keine Verwirklichung der allgemeinen Menschenrechte, deren Hüter die Menschen vor Ort sein müssen – beginnend mit der Abwehr der Kommerzialisierung und Privatisierung öffentlicher Güter, Einrichtungen und Dienstleistungen!
Da der „EU-Binnenmarkt“, um den sich ja alles dreht, zu 2/3 eine Dienstleistungsmarkt ist (der EU/USA-Handelsmarkt zu 40-50%), braucht die regionale und kommunale Ebene als Dienstleistungserbringer bei öffentlichen Dienstleistungen ein Mitspracherecht in der EU! Die Kommunen erinnern uns daran: Demokratie geht von unten nach oben und nicht von oben nach unten! Und Demokratie verträgt sich nicht mit Konzernherrschaft und Neoliberalismus, aber auch nicht mit Zentralismus!
Demokratie ist der zentrale Wert Europas, deshalb darf die 200 Jahre alte kommunale Selbstverwaltung nicht beschädigt oder beeinträchtigt werden! Sie ist der kulturelle Ausgangspunkt auch für eine soziale Umgangskultur!
Zum 50. Jahrestag der EU-Gründung im Sommer 2007 hieß es in der so genannten „Berliner Erklärung“ (unter der Ratspräsidentschaft der deutschen Kanzlerin Angela Merkel): „Die EU ist eine Aufgabenteilung zwischen Mitgliedsstaaten, Regionen und Kommunen“. Letztere haben nach Art. 28(2) des Grundgesetzes das verbriefte Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Daseinsvorsorge in eigener Verantwortung und Zuständigkeit zu regeln.
Auftrag und Bekenntnis für ein solidarisches Europa
Weiter heißt es in der „Berliner Erklärung“: „Die EU gründet sich auf Gleichberechtigung und solidarisches Miteinander.“ Sie ermöglicht einen fairen Ausgleich der Interessen zwischen den Mitgliedsstaaten.“ Davon haben wir weder bei der Griechenland-Frage noch bei der Flüchtlingsfrage etwas gemerkt…
Vielmehr können wir feststellen. „Griechenland ist überall“. Denn das, was wir dort erleben, das erleben die überschuldeten (weil unterfinanzierten) Kommunen insbesondere hier im Ruhrgebiet schon seit über 2 Jahrzehnten – nämlich Sparzwang im Sinne der Austeritätspolitik, Abbau von Personal und Sozialleistungen, Privatisierungszwang sowie Sparkommissare, die an Stelle demokratisch gewählter Räte entscheiden, die nur noch den Mangel verwalten. (Die Troika lässt grüßen…).
Mit dem neoliberalen New Public Management hat die Bertelsmann-Stiftung schon seit 25 Jahren systematisch den Ausverkauf der Kommunen zum „Konzern Stadt“ hin zur „Stadt der Konzerne“ vorangetrieben. Seither bilden wir mit Griechenland eine Art „Schicksalsgemeinschaft“.
Am meisten gelitten hat in den Kommunen die soziale und kulturelle Infrastruktur, wo am meisten gekürzt und geschlossen wurde und weiterhin wird. Damit entzieht man den Menschen die kulturelle Basis in Europa mit sozialen Folgen - und erschwert solidarisches Verhalten zugunsten von zerstörerischem Wettbewerbs- und Konkurrenzdenken.
Für dauerhaften Frieden braucht Europa ein neues Solidaritätsgefühl mit der Reduzierung von Armutszonen auf dem gesamten Globus Damit komme ich im letzten Teil zum wichtigsten Aspekt eines notwendigen „Europa von unten“ - nämlich zur Schlüsselrolle der Menschen in den Kommunen und Regionen für die soziale und kulturelle Entwicklung und Zukunft Europas.
Die soziale Frage ist heute vor allem eine regionale und kulturelle Frage
Je mehr wir uns einerseits „europäisieren“ und „globalisieren“, umso mehr müssen wir andererseits regional und örtlich handeln in Verantwortungsgemeinschaften. Die soziale Frage ist heute vor allem eine kulturelle und regionale Frage! Es gilt der Leitspruch: „Europäisch und global denken, aber regional und lokal handeln!“ Denn das ist zukunftsweisend.
Dies zeigt uns aktuell auch die Flüchtlingsfrage. Denn in unseren Städten und Stadtteilen (und nicht im „Niemandsland“) bekommen die sozialen und globalen Probleme und die kulturellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten ein konkretes Gesicht! Dadurch fordern sie uns zum mitmenschlichen sozialen Handeln auf und zwingen uns zur interkulturellen Begegnung.
In Spanien hat sich dazu ein Netzwerk gebildet “Städte der Zuflucht“, weil sich die Staaten mit ihren Grenzen abschotten, während sich die Städte längst öffnen und die eigentliche Problemlösung vor Ort betreiben. Darum bemühen sich die zahlreichen „ehrenamtlichen“ Helferinnen und Helfer in großer Zahl und mit viel Idealismus.
Europa als „Kontinent der Menschenrechte“ ist eine Aufforderung an jeden Einzelnen zu gemeinsamem und humanem Handeln für eine menschenwürdige Zukunft. Grenzen überwinden heißt Chancen wahrnehmen! Aus der konkreten und persönlichen Menschenbegegnung heraus entfalten sich zukunftsgestaltende Ideen für Europa.
Kein Gesellschaftsystem kann sich ändern, ohne dass der einzelne Mensch in Begegnung und Austausch mit anderen Menschen und Kulturen sich weiterentwickelt. Und je mehr der Staat oder eine Staatengemeinschaft wie die EU der Globalisierung ausgesetzt sind, umso mehr ist die individuelle Sozialkompetenz des Einzelnen, auch beim lokalen Handeln, gefragt! Die Individualisierung der Verantwortung ist sozusagen die notwendige Kehrseite der Globalisierung, in der die soziale Verantwortung „auf andere“ oder „die Weltgemeinschaft“ gerne abgewälzt wird.
Europas Zukunft als individuelle Herausforderung für jeden Einzelnen
„Europäische Gesinnung“ heißt hingegen, folgendes zu erkennen: Nicht mehr die Nationalstaaten oder transnationalen Institutionen wie die EU oder die UNO, auch nicht die Religionsgemeinschaften oder die Wissenschaftseliten, auch nicht die Wirtschaftsführer oder deren Weltkonzerne sind die Gestalter der Globalisierung,. Sondern wir als Individuen tragen mit unserer Gemeinschaftsfähigkeit alle die Verantwortung für die Zukunft von Erde und Menschheit, die wir auf niemanden abwälzen können, auch nicht auf die „verantwortlichen Politiker“ oder Regierungen und Gremien.
Genau dafür wollen uns derzeit die dramatischen Konflikte und Krisen in Europa und weltweit wach machen und zum energischen Handeln aufrufen! Europa muss ein Ort der Verständigung aufgeklärter und mündiger Menschen werden, an allen Orten! Mit einsichtigen Menschen, die über die bloß ökonomischen Fragen hinaus die sozialen und kulturellen Fragen in den Mittelpunkt stellen!
Wir müssen die einseitige Diskussion über Marktförderung und Markthemmnis oder „Handelshemmnis“ ablösen durch die eigentlichen Menschheitsfragen! Menschen und Völker müssen sich erst gegenseitig gründlicher kennenlernen als bisher der Fall – wenn nicht aus Einsicht, dann werden wir eben über die (selber mit verursachten) Flüchtlingsströme dazu gezwungen!
Gerade hier unser Ruhrgebiet, die „Wiege Europas“ mit der damaligen Montan-Union (1951) ist ja ein kultureller Schmelztiegel von Menschen aus rund 100 Nationen, aus denen sich unsere spezifische Regionalkultur und solidarische Gemeinschaft herausgebildet hat. Daran können wir anknüpfen.
Konkrete Ansatzpunkte für ein anderes Europa von unten
Wir können aber noch an mehr anknüpfen. Damit das Ganze nicht abstrakt bleibt, zum Abschluss einige ganz konkrete entwicklungsfähige Ansatzpunkte für ein anderes Europa von unten:
- Wir haben in Deutschland bundesweit rund 500 Europa-Schulen (fast 170 allein in NRW); dort finden interkulturelle Lernprozesse statt, Sprachenvermittlung, soziales Lernen und Schüleraustausch.
- Wir haben die bereits erwähnten 40.000 Städtepartnerschaften mitsamt Jugendaustausch.
- Es gibt bereits Europa-Universitäten und Europa-Fachhochschulen (z.B. Viadrina in Frankfurt/Oder sowie an anderen Standorten, z. B. in Flensburg, im Rhein-Erft-Kreis, in Hamburg und Rostock).
Wir sollten aber dahin kommen, dass jede Schule in Deutschland und in den anderen EU-Ländern zu einer Europa-Schule wird! Und erst recht müssen alle Hochschulen in Europa den europäischen Geist atmen und fördern. Die Volkshochschulen sind ebenso gefordert!
Denn ohne geistige Ideale wird die europäische Gesellschaft „verhungern“! Wir brauchen zukunftsgestaltende Ideen und Initiativen für Europa! Und wir sollten uns bewusst machen: Europa ist nicht etwas Vollendetes, sondern etwas Werdendes. Deshalb muss Europa ein Projekt der Jugend werden, nicht ein Projekt der (momentan scheiternden) Alten.
Also auch europäischen Jugendtourismus und Begegnung noch stärker fördern, runde Tische zu Europa einrichten, Jugendprojekte und Auslandspraktika stärker fördern, Sprachaufenthalte ausweiten, europäische Jugendnetzwerke bilden, europäische Ideenwettbewerbe ausschreiben und europäische Zukunftskonferenzen veranstalten usw.! Und das ganze losgelöst von der EU-Kommission und den Institutionen oder von Wirtschaftssponsoring etc., sondern als zivilgesellschaftliche Projekte in Eigeninitiative
Eine zweite Kammer des EU-Parlamentes für die Kommunalvertreter und europäische Kulturinitiativen
Die EU-Verbindungsbüros der Kommunen und ihrer kommunalen Spitzenverbände sollten mehr übernehmen als nur eine Lobbyfunktion in Brüssel. Sie müssen über den Regionalausschuss der EU und über die EUREGIO ihrer Stimme verfassungsmäßigen Rang verleihen, besser noch über eine 2. Kammer des EU-Parlamentes für die Kommunalvertreter! Und die Europäischen Vernetzungen und Zusammenschlüsse von Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbänden muss effizienter und einflussreicher werden.
Auch in der Zivilgesellschaft brauchen wir viele Europa-Projekte von unten: Europäische Netzwerke und Europa-Foren, Gemeinsame Leitbild-Diskussionen, Runde Tische (nach dem französischen Vorbild der „Ateliers de Participation“ bei den Verfassungsreferenden 2007), europäische Bürgerstiftungen, Europa-Agenturen und Solidaritäts-Komitees.
Von den verschiedenen „Europäischen Kulturhauptstädten“ müssen wirksame Impulse ausgehen. Wir brauchen mehr europäische Kulturveranstaltungen und Kultureinrichtungen, europäische Publikationsorgane und Medien (einschl. unabhängige europäische Rundfunk- und Fernsehsender als „europäischer Bürgerfunk“). Wir müssen eine europäische Öffentlichkeit herstellen, über die sozialen Internet-Netzwerke hinaus.
Vielleicht auch europäische Regionalgeld-Initiativen und Komplementär-Währungen, um Schwächen des Euro abzumildern oder offenzulegen und die soziale Funktion des Geldes bewusstseinsmäßig wiederzubeleben? Regionale, grenzüberschreitende Wirtschaftspartnerschaften zwischen Nord- und Südeuropa (wie nach der DDR-Öffnung zwischen den alten und neuen Bundesländern).
Ein notwendiger kultureller Aufbruch in Europa zur Überwindung von Grenzen
Alles das und noch viel mehr gehört zu einem „Europa von unten“, zu einem „Europa der Regionen“ und zu einem notwendigen und überfälligen kulturellen Aufbruch in Europa! Wir könnten dann in 10 Jahren einen gehörigen Schritt weiter sein auf dem sicher mühsamen Weg zu einem sozialen, demokratischen, friedlichen und ökologisch orientierten, nachhaltigen en Europa der Bürgerinnen und Bürger!
In einem „Europa der Regionen“ spielen nationale Grenzen und Orientierungen eine immer geringere Rolle! Wir müssen damit die unerträgliche Zweiteilung in Europa beenden:
- Das Europa der Reichen und das Europa der Armen
- Das Europa der Bürger und das Europa der rechtlosen Migranten und Flüchtlinge
- Das Europa der Schengen-Länder und das Europa der Grenzziehungen
- Das Europa der EU und das Europa der ausgeschlossenen Länder
- usw.
Wir müssen begreifen: Die Probleme der Welt sind die ungelösten Probleme Europas! Künftig werden die Staats- und Verwaltungsgrenzen weniger denn je identisch sein mit Wirtschaftsräumen und Kulturräumen – das sind sie faktisch schon heute nicht mehr.
Als wahre Europäer werden sich diejenigen entwickeln, welche die Grenzen in ihren Köpfen zu überwinden lernen mit ihren Herzen, Dazu gehört auch, die vermeintlichen Grenzen der eigenen Handlungsmöglichkeiten zu überspringen. Denn wenn in der EU Demokratie und Teilhabe von unten erschwert, unterbunden oder ausgehebelt wird (wie etwa bei den umstrittenen Freihandelsverträgen), dann ist ziviler Ungehorsam mit Zivilcourage angesagt!
Besser wären plebiszitäre Elemente in der EU-Demokratie, wie z. B. von „Democracy International“ angestrebt. Denn:
- versprochen wurde Demokratie, doch gestiftet wurde die Herrschaft der Exekutive,
- verkündet wurde Freiheit, doch es wurden nur Märkte geschluckt durch die Marktfreiheit,
- verkündet wurde Friedenssicherung, aber statt Abrüstung und Ost-West-Annäherung steigen Waffenhandel, Auslandseinsätze und kaltes Kriegertum,
- versprochen wurde Wohlstand für alle, doch die Armutsquote steigt ebenso ungebremst wie die Reichtums-Quote für ganz wenige!
Das ist nicht unser Europa und das sind nicht unsere Repräsentanten! Deshalb, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter: Europa nicht ohne uns!
Danke für die Aufmerksamkeit!
Wilhelm Neurohr