Wilhelm Neurohr

Leserbrief an die Recklinghäuser Zeitung zur aktuellen Berichterstattung und Kommentierung zur Nominierung von Martin Schulz zum SPD-Kanzlerkandidaten

„PERSONENKULT DER SPD STATT GLAUBWÜRDIGE INHALTLICHE KEHRTWENDE?“

Der lange Zeit deprimierten und nun euphorischen SPD-Basis will ich ungern ihre Vorfreude auf den Wahlkampf mit dem „Hoffnungsträger“ Martin Schulz verderben. Aber erzeugt sie nicht mit dem „Personenkult“ um den von Herrn Gabriel ausgesuchten neuen Spitzenmann und Kanzlerkandidaten der SPD völlig überzogene Erwartungen und falsche Hoffnungen auf einen wirklichen Politikwechsel?

Wenn Martin Schulz gleich in seiner ersten Antrittsrede ausdrücklich betonte: „Auch ein Gerhard Schröder hat Deutschland gut getan“, dann ist das alles andere als ein Abschied von der neoliberalen und sozial verheerenden Agenda 2010 der SPD, die ja Hauptursache für die Armutsentwicklung bei Löhnen und Renten sowie für die Steuerungerechtigkeit war und ist. Martin Schulz gehört ebenso wie Sigmar Gabriel und der von diesem vorgeschlagene Präsidentschaftskandidat Walter Steinmeier – als ein Architekt der Agenda 2010 unter Schröder – dem „Seeheimer Kreis“ an, also dem neoliberal orientierten rechten Flügel der SPD. Dennoch stellt er sich nun gefühlsselig und phrasenhaft als „Anwalt der kleinen, hart arbeitenden Leute“ mit Bauchgefühl dar, wie am Sonntagabend bei Anne Will.

Im EU-Parlament war Martin Schulz als Architekt der dortigen informellen „großen Koalition“ eng befreundet mit dem konservativen und neoliberalen EU-Kommissionspräsidenten Jean Claude Juncker. Als dieser in Bedrängnis geriet beim „Luxembourg-Leak-Skandal“ wegen der Luxemburger Steueroase für Reiche und Konzerne, verhinderte Martin Schulz einen vom Parlament geforderten Untersuchungsausschuss, um Juncker vor einem Rücktritt zu bewahren. Und nun redet Schulz von angestrebter „Steuergerechtigkeit“ und „Verhinderung von Steuerflucht“. Hatten nicht die SPD-Finanzminister Eichel, Clement und Steinbrück als Agenda 2010-Projekt großzügige Steuergeschenke für die Reichen und ein steuerliches Ausbluten der Kommunen zu verantworten? Und hat nicht die SPD seitdem die jährlichen „Armuts-Reichtums-Berichte“ stur ausgesessen statt gegen zusteuern? Warum wehrt sich die SPD immer noch gegen höhere Vermögens- und Erbschaftssteuern?

Ganz zu schweigen vom Engagement des Martin Schulz im EU-Parlament für die umstrittenen und von fast 70 Prozent der Bevölkerung abgelehnten neoliberalen und lobbygeprägten Freihandelsverträge, mit denen Arbeitnehmerrechte, Verbraucherschutz und demokratische Gewaltenteilung gefährdet würden zugunsten des Primats der Wirtschaft über dem Primat der Politik. Schulz hat auch mit Nachdruck die gnadenlose Spar- und Austeritätspolitik von CDU-Finanzminister Schäuble in der EU unterstützt, als Griechenland und andere in die Staatsschuldenkrise gerieten. Ergebnis: über 50% Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa und Höchststand der Arbeitslosigkeit in der EU mit 22 Mio. arbeitslosen Menschen und der höchsten Obdachlosigkeit. Und auch die von Gabriel als Wirtschaftsminister noch schnell vorbereiteten sogenannten PPP-Modelle zugunsten der Privatisierung der Autobahnen wird Martin Schulz wohl nicht ausbremsen.

In der Polit-Talkshow am Sonntagabend hat Anne Will es sträflich versäumt, dem hochgejubelten SPD-Kanzlerkandidaten zu all diesen Punkten auf den Zahn zu fühlen. Stattdessen betrieb sie eine halbe Stunde lang psychologisierendes Befragen über die Motive für die Kandidatur und beteiligte sich wie die übrigen Medien an dem unerträglichen „Personenkult“ in unserer „Zuschauerdemokratie“. Fazit: Oberflächliches Bauchgefühl und Emotionen mit der Überbewertung von „Führungsgestalten“ siegen in der „postfaktischen Ära“ über rationale politische Bewertungen. Die Ernüchterung kommt spätestens nach dem Wahltag am 24. September, aber der Wahlkampf wird eine große „Kleine-Leute-Show“.

Wilhelm Neurohr

(Haltern am See)