Wilhelm Neurohr

Die europäische Demokratie –das unbekannte Wesen

"Fake News“ der Deutschen Presseagentur in den Regional- und Lokalzeitungen als „Basis-Wissen über die EU“ für die Zeitungsleser:

Einer am 23. Februar veröffentlichten Reportage der Deutschen Presseagentur (dpa) über Europa vor der Wahl - unter anderem in den Regional- und Lokalzeitungen der Medienhäuser Lensing und Bauer unter dem Titel „Auf einem Kaffee mit Europa“ - ist für die Leser eigens eine aufklärerische Rubrik "Basis-Wissen über die EU" angefügt. Deren Inhalte kann man jedoch bezüglich der dort falsch beschriebenen Kompetenzen der EU-Organe nur unter "Fake News" verbuchen. Gleichwohl erhebt die Reportage der Redakteurin Verena Schmidt-Roschmann im Vorspann den Anspruch, die „schwierige Geschichte von Verständnis, Unverständnis und Missverständnissen“ vor der Europawahl im Schicksalsjahr 2019 aufzuklären.

Stattdessen wird dort das eigene Unverständnis und Missverständnis als „Basiswissen“ über die EU verkauft. Denn es wird dort fälschlich behauptet, das Europa-Parlament sei der "zentrale Gesetzgeber" neben dem Rat der EU-Staaten, und die EU-Kommission sei "eine Art Kabinett", also nur die Exekutive. Deshalb sollte über die wirklichen Kompetenzverteilungen und Demokratiedefizite hier aufgeklärt werden, denn Demokratie funktioniert nur mit echter Gewaltenteilung.(Möglicherweise ist die dpa-Redaktion bei ihrer Recherche auf die Homepage des Deutschen Verbindungsbüros zum EU-Parlament mit den verkürzten und beschönigten Aussagen hereingefallen). Hier der Faktencheck:

Fakt ist nämlich, dass das EU-Parlament ursprünglich nur eine beratende Funktion bei der Gesetzgebung hatte, und das gilt leider größtenteils auch heute noch: Denn trotz einiger Verbesserungen (seit dem Lissabon-Vertrag von 2009) fehlt dem EU-Parlament immer noch die eigentliche Kernkompetenz eines richtigen Parlamentes für eigene wirksame Gesetzesinitiativen und -vorlagen, geschweige das volle Haushalts- oder Budgetrecht" als "Königsrecht eines Parlamentes", obendrein hat es nur eingeschränkte Kontrollfunktionen.

Für das EU-Parlament gelten nämlich lediglich abgestufte Gesetzgebungskompetenzen:

  • Bei den häufigen "Konsultationsverfahren" kann das EU-Parlament lediglich Stellungnahmen zu Gesetzesentwürfen der Kommission abgeben, über die allein der Ministerrat entscheidet. also die nicht gewählte Exekutive statt der Legislative.
  • Auch bei den etwas weiterreichenden "Kooperationsverfahren" hat der Rat das letzte Wort und nicht das Parlament.
  • Lediglich bei den selteneren "Mitentscheidungsverfahren" steht das Parlament dem Ministerrat gleichberechtigt gegenüber, aber ein Gesetz kann nur dann verabschiedet werden, wenn auch der Ministerrat zustimmt, auf dessen Wohlwollen das Parlament dann angewiesen ist.
  • Allein bei den noch selteneren "Zustimmungsverfahren" (so zuletzt bei der Ost-Erweiterung der EU) kann nur mit Zustimmung des EU-Parlaments entschieden werden.

Auch das Haushaltsrecht muss sich das Parlament ebenfalls mit der EU-Kommission allenfalls gleichberechtigt teilen, ohne deren Zustimmung also keine Entscheidung zustande kommt. Bei den "obligatorischen Ausgaben" vor allem für die Agrarpolitik (der größte Etatposten im EU-Haushalt) spielt das Parlament gegenüber dem Rat nur eine untergeordnete Rolle. Lediglich bei den "nicht obligatorischen Ausgaben" hat das Parlament das letzte Wort.

Die schwachen parlamentarischen Kontrollfunktionen sind inzwischen denen der Nationalparlamente zwar ein wenig angeglichen worden, z. B. bezüglich der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen oder bei der Kontrolle der korrekten Geldausgaben zur Entlastung der Kommission. Aber viel weiter reichen die Kontrollfunktionen kaum.

Auch bei den Personalentscheidungen spielt das EU-Parlament nur eine Statistenrolle: Die EU-Kommissare und der EU-Kommissionspräsident werden bekanntlich von den Regierungschefs der Mitgliedsländer ausgesucht und ernannt und nicht etwa vom EU-Parlament gewählt. Für den Kommissionspräsidenten bedarf es allerdings der anschließenden Zustimmung durch das Parlament, während sich die designierten 28 (demnächst 27) Kommissare lediglich pro forma als "Regierungsmannschaft als Ganzes" einer so genannten "Vertrauensabstimmung" im Parlament stellen müssen.

Fakt ist also, dass der Großteil der Entscheidungen, Gesetze und Verordnungen der EU von der (nicht gewählten) Exekutive, nämlich von der EU-Kommission mit ihren Gesetzesinitiativen, vom Europäischen Rat der Regierungschefs oder dem Ministerrat erlassen werden, ebenso die Personalentscheidungen, während das vom Volk gewählte EU-Parlament als Legislative nicht die eigentliche gesetzgebende Gewalt darstellt. Damit hält sich der Einfluss des Souveräns bei den Europawahlen in Grenzen, da die Veränderung von Mehrheitsverhältnissen im EU-Parlament mit der Wahlentscheidung nicht zugleich die Ausrichtung der EU-Politik zwingend verändert.

Und auch die gewählten Nationalparlamente sind weitgehend bei EU-Entscheidungen außen vor, weil sie die verbindlichen Rechtsvorgaben der EU meist nur noch in nationales Recht zu überführen haben, ohne an dessen Zustandekommen (meist intransparent hinter verschlossenen Türen in Brüssel) beteiligt gewesen zu sein. Dies war teilweise so gewollt mit der Verlagerung von Zuständigkeiten auf die EU (verstärkt seit dem Lissabon-Vertrag); aber die in Brüssel agierenden Regierungsmitglieder aus den Nationalstaaten sind bei ihren Verhandlungen und Entscheidungen oftmals nicht auf ein vorheriges Mandat ihres jeweiligen Nationalparlamentes angewiesen, sondern agieren oftmals ohne Rückkopplung zu ihrem parlamentarischen Beschluss- und Kontrollorgan. Damit agieren sie als Exekutive mit legislativen Vollmachten.

Die Exekutive hat in der EU also wesentliche Funktionen zugleich der Legislative inne und teilweise sogar der Judikative, wenn sie Sanktionen gegen EU-Mitglieder verhängt bei Nichtumsetzung von EU-Vorgaben. Die mangelnde Gewaltenteilung ist also das Hauptproblem der EU, derweil sie von allen neuen Beitrittskandidaten dortige Gewaltenteilung als demokratische Voraussetzung erwartet.

Es gehört m. E. zu einem seriösen Journalismus, diese Demokratie-Defizite den Lesern vor der Europawahl zu benennen statt zu verschweigen, um den Reformbedarf sichtbar zu machen, der ja auch von glühenden Europa-Anhängern und Demokratie-Verfechtern gewünscht wird, die man nicht deshalb fälschlich zu "Europagegnern" abstempeln sollte.

Denn vor der "Schicksalswahl für Europa" in diesem Jahr kann die vorherige Wahlbeteiligung von 40% nur dann gesteigert werden, wenn die Wählerinnen und Wähler das Gefühl haben, mit ihrer Stimme für die EU-Parlamentarier auch politisch etwas bewegen und verändern oder beeinflussen zu können. Bei der jetzigen Konstruktion können sie nur recht wenig an Veränderungen bewirken mit ihrer Stimmabgabe für ein halbseitig gelähmtes EU-Parlament.

Das spüren viele Menschen in Europa intuitiv, und sollten deshalb von den Medien nicht eine heile Europa-Demokratie vorgegaukelt bekommen. Besser sollten die Medien einmal die vielfältigen vorliegenden (sinnvollen und überfälligen) Reformvorschläge vor allem aus der Zivilgesellschaft, aber auch von Europa-Parlamentariern thematisieren.

Wilhelm Neurohr

http://www.wilhelm-neurohr.de/publikationen/themen/europa/