Wilhelm Neurohr

Leserbrief an die RZ zu den Berichten und Kommentaren vom 25.06.2016 über den Brexit

„NACH DEM BREXIT:

NICHT NUR DAVID CAMERON SOLLTE SEINEN HUT NEHMEN!“

Der krisenhafte Niedergang der EU begann nicht erst mit dem jetzigen Brexit. Schon zweimal war Europa in einem ähnlichen Schockzustand nach einer unliebsamen Bürgerentscheidung: Als im Mai 2005 über 55 Prozent der Franzosen und im Juni 2005 sogar 61,5 Prozent der Niederländer per Referendum gegen den neoliberal geprägten EU-Verfassungsvertrag votierten, herrschte ebenso helle Aufregung und viele beschworen bereits das Ende der EU. Die Vorgehensweise des von einem intransparenten „geheimen Hinterzimmer-Konvent“ ohne jede Bürgerbeteiligung erarbeiteten 500-seitigen Verfassungsentwurfs wurde damals von Jean Claude Juncker – dem heutigen EU-Kommissionspräsidenten – so kommentiert: „Der Konvent ist dunkelste Dunkelkammer, die es je in Europa gegeben hat“ (nachzulesen in meinem 2008 erschienenen Buch: „ist Europa noch zu retten?“).

Auch damals war nach der Ablehnung selbstkritisch die Rede von einem notwendigen „Neuanfang für Europa“. Hoch und heilig versprachen damals die erschrockenen Eliten in Europa den aufbegehrenden EU-Bürgerinnen und Bürgern, in einen neuen offenen und transparenten Dialog mit ihnen darüber einzutreten. Von Anbeginn sollte die defizitäre demokratische Beteiligung im bürgerfernen Europa künftig verbessert werden. Das genaue Gegenteil ist dann wieder geschehen: Der öffentliche Dialog blieb aus, die Verfassungspapiere verschwanden in der Schublade, um dann unverändert –nach der EU-Ratspräsidentschaft von Kanzlerin Merkel 2007 im 50.Jubiläumsjahr der EU – nach einem „Hinterzimmer-Deal“ mit einem neuen Etikett als „Lissabonner EU-Grundlagenvertrag“ 2009 inhaltsgleich in Kraft gesetzt zu werden. Und das trotz erheblicher Bedenken unseres Bundesverfassungsgerichtes, weil mit dem höherrangigen EU-Recht Elemente unserer weitergehenden Verfassung faktisch außer Kraft gesetzt wurden, wie z. B. das Sozialstaatsprinzip, die die Sozialverpflichtung des Eigentums sowie parlamentarische Beteiligungsrechte u.v.m.

Gegen den Lissabon-Vertrag als EU-Verfassungs-Ersatz sprachen sich zuvor 2008 die Iren in einem Referendum mit 52,4% aus und stürzten damit Europa zum zweiten Mal in eine Krise. Danach wurde solange massiver Druck „mit Rauswurf-Drohungen“ auf Irland ausgeübt, bis sie in einem wiederholten zweiten Referendum im Oktober 2009 dann mit 56,5 Prozent dem neoliberalen Lissabon-Vertrag widerstrebend zustimmten. Soviel zum Demokratie-Verständnis der EU mit ihrer fehlenden Gewaltenteilung und der Vorherrschaft der Exekutive. Auch die umstrittenen Freihandelsverträge werden gegen den heftigen Widerstand der Menschen wieder intransparent in Hinterzimmern ausgehandelt. Können wir jetzt diesmal - nach dem aktuellen Referendum der Briten über den EU-Austritt - den Versprechungen der Eliten in der EU Glauben schenken, dass man einen ehrlichen demokratischen Neubeginn von unten will?

Alle Anhänger eines sozialen und solidarischen, friedlichen und humanistischen Europa wurden durch die einseitig von Wirtschafts- und Lobby-Interessen geprägte EU-Politik enttäuscht, die jetzt vor ihrem neoliberal verursachten Scherbenhaufen der sozialen Spaltung und des Wohlstands nur für Wenige steht - und dabei den politischen Rechtsruck als Reaktion in Kauf genommen hat. Nicht nur David Cameron in Großbritannien sollte deshalb seinen Hut nehmen, sondern alle für das Desaster mitverantwortlichen Europapolitiker, deren jetzigen Lippenbekenntnissen kaum noch jemand Glauben schenkt und die als Technokraten unfähig sind zu Zukunftsvisionen. Nach dem britischen Weckruf ist jetzt dringender Anlass, mit der Jugend Europas und den souveränen Bürgerinnen und Bürgern ganz von vorne und von unten neu zu beginnen, mit der Kultur und dem Sozialen anstelle des nur wirtschaftlich ausgerichteten Europa. Die vom Katzenjammer geprägte hysterische Brexit-Debatte lenkt davon nur ab; jetzt hat der Blick in eine soziale und friedliche Zukunft gerichtet zu werden, die ab heute mit neuen Köpfen und einem neuen Europa-Leitbild von unten zu gestalten ist.

Wilhelm Neurohr