„Mandat auf Zeit versus Berufspolitiker – Wege zur Überwindung der Demokratiekrise“.
Das Elend des Berufspolitikertums - Sind Berufspolitiker die Garanten oder die Totengräber der Demokratie?
von Wilhelm Neurohr (September 2018)
Was lehrt uns die gegenwärtige Regierungskrise in Berlin? Das aktuelle politische Theater zwischen Horst Seehofer (CSU), Andrea Nahles (SPD) und Angela Merkel (CDU) offenbarte nicht zuletzt das Elend des Berufspolitikertums als eine Ursache der Partei- und Politikverdrossenheit: Es wurde aufgeführt von drei „erfahrenen“ Politikern, die vom weit verbreiteten Selbstverständnis des professionellen lebenslangen Berufspolitikers beseelt und davon irregeleitet sind in ihrer abgehobenen politischen Subkultur. Berufspolitiker verlieren die Verbindung zur Zivilgesellschaft, anders ist ihr eingestandener Irrtum bei der Fehleinschätzung des Volks- und Wählerwillens kaum zu erklären. Der Koalitionsstreit mit den dahinter sichtbaren persönlichen Machtkämpfen beförderte die ohnehin bestehende Demokratie-Krise mit dem Vertrauensverlust in die „politische Kaste“. Sind Berufspolitiker die Totengräber unserer Demokratie? Muss sich eine wehrhafte Demokratie mit gelebter Beteiligungskultur der Vereinnahmung durch die ewigen „Berufspolitiker“ in einer kaum noch „repräsentativen Demokratie“ entgegenstellen und zum verkürzten „Mandat auf Zeit“ zurückkehren?
Ein bloßes „Mandat auf Zeit“ als idealer und wünschenswerter demokratischer Regelfall gehört nicht zum politischen Selbstverständnis gewählter Volksvertreter in unserem Staat, weder bei den Abgeordneten in den Parlamenten, noch bei den Parteipolitikern in der Exekutive als Regierungsmitglieder mit dem Status eines politischen Beamten. Immer mehr Bewerber oder Nachwuchspolitiker für den Bundestag rekrutieren sich zudem aus den Mitarbeitern der politischen Apparate, also wissenschaftliche Mitarbeiter oder Büroleiter der Abgeordnetenbüros und Parteibüros und der Ministerien. Bei der Hälfte der Neuzugänge für den aktuellen Bundestag handelt es also um hauptberufliche Mitarbeiter von Politikern, somit selber um Berufspolitiker und damit um eine geschlossene Gesellschaft.
Berufspolitiker entfremden sich vom Volk und Souverän
Die überwältigende Mehrheit der heute agierenden Politiker – mit Ausnahme der kommunalen Ebene - sind Berufspolitiker. Über die Hälfte der Bundestagsabgeordneten geben als Beruf „Mandatsträger“ an - eine kleine, aber mächtige Gruppe, die von der Politik für die Politik lebt. Etwa 10.000 bis 20.000 Personen umfasst insgesamt auf allen Ebenen diese einflussreiche „politische Klasse“. Die Berufspolitiker der politischen Parteien haben sich als Staat im Staate eingerichtet und den Staat zum Parteienstaat umgebaut. So entstand ein Machtkartell mit einem Machtmonopol, entfremdet vom Volk und Souverän.
Die meisten Berufspolitiker sind nicht bereit, ihr Mandat an die Wähler zurückzugeben, sondern sie klammern sich daran fest. In allen Parlamenten, am stärksten im Bundestag, setzt sich der Typus des Berufspolitikers durch, der obendrein in Ministerien und Parteizentralen sowie Parteistiftungen sitzt. Und wer einmal im Parlament sitzt, will und kommt zumeist immer wieder hinein - und bleibt dort am liebsten bis zum Ruhestand oder sogar darüber hinaus. Der Berufsalltag der normalen Arbeitnehmer und auch deren Wohn- und Lebenswelt bleibt ihnen dadurch fremd.
Lebenslange Berufspolitiker als Vorbilder?
Zumindest versuchen unsere Politiker mehrheitlich, auch durch einen Wechsel politischer Funktionen, Gremien und Ebenen, möglichst lebenslänglich in ihrer lukrativen politischen Einfluss-Sphäre zu verweilen und sich beruflich auf Dauer darin einzurichten: Politik als Beruf. Zwei prominente Beispiele von vielen: Der 72-jährige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), zugleich Dienstältester Bundestagsabgeordneter, rühmt sich, seit 1972 nunmehr 46 Jahre ununterbrochen als Mandatsträger im Bundestag zu sitzen und gleichzeitig mehrere verschiedene Ministerämter und herausragende Parteiämter innegehabt zu haben – ein klassischer Berufspolitiker statt ein volksnaher Mandatsträger auf Zeit.
Oder der Dienstälteste Europa-Abgeordnete Elmar Brook (CDU), ebenfalls 72 Jahre alt, sitzt als Studienabbrecher seit 1980 nunmehr 39 Jahre im Europaparlament und tritt 2019 nochmals an. So wie er kleben viele an ihrem Stuhl bis weit über das Rentenalter hinaus. Sie halten sich für unentbehrlich. (Wegen seiner Lobbytätigkeit für den Bertelsmann-Konzern warf ihm seinerzeit der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim „legale Korruption“ vor). Da die Europa-Abgeordneten ohne Direktwahl nur auf Parteilisten ohne Wahlkreis antreten, können sie sich persönlich bei ihrer Kandidatur nicht wirklich auf den Wählerwillen berufen. Den beiden Vorbildern eifern jedoch viele junge Abgeordnete nach („vom Kreißsaal über den Hörsaal direkt in den Plenarsaal“ – und danach die üppige Pension zuzüglich lukrativer Anschluss-Jobs in der Wirtschaft).
Gezielte Förderung des Berufspolitikertums durch Karriere- und Laufbahnplanung
So verfügt zum Beispiel die Bundes-SPD sogar über eine Partei-Akademie als Kaderschmiede zur Fortbildung für Mitglieder, die den Einstieg in die möglichst lebenslängliche Berufspolitik anstreben. Das Ermöglichen und Vorbereiten einer hauptberuflichen politischen „Karriere oder Laufbahn“ erscheint jedoch absurd unter dem demokratischen Verständnis eines temporären Wahlamtes als Volksvertreter. Eine Studie der Universität Jena zeigt, dass über 50% der Bundestagsabgeordneten mindestens zwei bis drei Wahlperioden im Parlament verweilen. Gerne hätten die meisten davon weitergemacht. Denn die Wenigsten sind danach freiwillig ausgestiegen, sondern weil sie entweder von ihrer Partei wegen eines innerparteilichen Konkurrenten nicht mehr aufgestellt worden sind, oder ihr Listenplatz nicht ausreichte oder ihr Direktmandat im Wahlkreis verloren ging. So manche sind danach als Seitenwechsler in die Wirtschaft gegangen und haben dafür ihr politisches Mandat als Sprungbrett genutzt. Oder sie bleiben als Lobbyisten im vertrauten politischen Geschäft hinter den Kulissen. Berufspolitik lässt sie nicht mehr los.
Politik als Beruf ist attraktiv - auch bei fehlenden Voraussetzungen
Politik als Beruf erscheint attraktiv, denn es bringt gute Bezahlung, viel Einfluss, kaum Langeweile und bedarf keiner besonderen Voraussetzungen, außer Geduld und Sitzfleisch und persönlichen Verbindungen (weshalb sich auch viele Studien-Abbrecher davon angezogen fühlen, die im normalen Leben kaum Karriere-Chancen hätten). Am Ende wird ein gelernter Studienrat für Deutschunterricht sogar Finanzminister der führenden Wirtschaftsnation, wie seinerzeit Hans Eichel. Oder aus ehemaligen Augenärzten werden Verteidigungs- oder Wirtschaftsminister, wie Ursula von der Leyen (CDU) oder Philipp Rösler (FDP). Ein Sachbearbeiter bei der Arbeitsagentur kann auch schon mal Entwicklungshilfeminister und anschließend Rüstungslobbyist werden, wie Dirk Niebel (FDP). Die Beispiele ließen sich endlos fortsetzen. „Bei uns ist ein Berufspolitiker im Allgemeinen weder ein Fachmann noch ein Dilettant, sondern ein Generalist mit Spezialwissen, wie man politische Gegner bekämpft“ (Richard von Weizsäcker, ehemaliger Bundespräsident).
Haben sie einmal ihre politische Position errungen, so bessern sie ihr ohnehin überdurchschnittliches und üppiges Politiker-Einkommen noch auf: Laut Bundestagsverwaltung beziehen zwischen 55% und 68% aller Bundestagabgeordneten gewinnbringende Nebeneinkünfte zu ihrem Mandat. Langjährige Berufspolitiker sind für Wirtschaftlobbyisten interessanter als kurzzeitige Mandatsträger auf Zeit, so dass Berufspolitikertum den Einfluss von Wirtschaftslobbyisten verstärkt.
Aber selbst ohne Nebentätigkeiten reicht ein lebenslanges Berufspolitiker-Einkommen in Parlamenten und diversen Spitzenämtern, um am Ende mehrfacher Millionär zu sein. Eine normale Akademiker-Karriere oder ein Spitzenjob in der mittleren Hierarchie des öffentlichen Dienstes reicht dagegen am Ende gerade einmal für eine auskömmliche Rente, von den Durchschnittsverdienern als Armutsrentnern gar nicht erst zu reden. Die Altersversorgung ehemaliger Berufspolitiker beträgt bereits nach wenigen Wahlperioden ein Mehrfaches des Durchschnittsverdieners nach 40 Berufsjahren. Das verringert deren Bereitschaft, sich für eine Bürgerversicherung einzusetzen, in der auch Politiker einzahlen und nur den gleichen Anspruch erwerben wie alle anderen auch.
Gemeinwohlorientierung hinderlich für politische Berufskarriere
Eine am Gemeinwohl orientierte Politik ist für das persönliche Fortkommen eines „Berufspolitikers, der im Interesse einer lebenslangen politischen „Karriere oder Laufbahn“ von der einen Funktion in die andere wechselt, nicht wirklich wichtig, sondern geradezu hinderlich. Für den Berufspolitiker wird der Kampf um seine Wiederaufstellung zur persönlichen Existenzfrage und damit zum Bestandteil seines innerparteilichen Konkurrenz.- und Machtkampfes, losgelöst von den Wählerinteressen.
Und bei diesem Gerangel um die beruflich lukrativen und einflussreichen Positionen in Partei und Wahllisten obsiegen meist die gut gebildeten und redegewandten Akademiker: Die überwiegende Mehrheit der Bundestagsabgeordneten, nämlich 600 von 631, hat einen Hochschulabschluss. Das sind 98,5% gegenüber nur 6,8% Hochschulabsolventen in der Bevölkerung (oder 17-20% unter den Erwerbstätigen). Sie spiegeln also nicht die Bevölkerung, sondern die gehobenen Schichten. Laut einer Befragung der Hans-Böckler-Stiftung gaben 70% der befragten Bürger an: „Die führenden Leute in Politik und Medien leben in ihrer eigenen Welt.“Darin spiegelt sich das ganze Elend des Berufspolitikertums.
Politiker-Bashing trotz „uneigennütziger Aufopferung für das öffentliche Wohl“?
Selber wehren sich die in der öffentlichen Kritik stehenden Politiker oft weinerlich gegen das ungerechte „Politiker-Bashing“, da man doch froh sein solle, dass sie sich für das öffentliche Wohl uneigennützig aufopfern würden. Wer nehme schon freiwillig eine 70-Stunden-Woche mit enormem Terminstress auf sich? Unterschlagen wird dabei, dass die meisten Arbeitnehmer nebst 40-Stunden-Woche plus Überstunden und zeitaufwändiger Berufspendlerfahrten in großer Zahl oft auch noch 10 bis 20 Stunden ehrenamtliche Arbeit nebenher unbezahlt ableisten, und sei es auch ihr ehrenamtliches Engagement in einer Partei oder als Wahlhelfer. Von den mit Idealismus und viel Zeitaufwand zivilgesellschaftlich engagierten Menschen, die sich mit großer Professionalität in NGOs unentgeltlich betätigen, erst gar nicht zu reden.
Die Berufspolitiker hingegen zählen, anders als ihre ehrenamtlichen Parteifreunde vor Ort, auch ihre Anwesenheit in Kreisverbands- und Ortsvereinssitzungen ihrer Partei oder als Delegierter auf Parteitagen zu ihrer aufopfernden 70-Stunden-Woche. In Wirklichkeit ist das Erringen eines Mandates wie ein Lottogewinn, weshalb sich innerparteilich um die bezahlten Politiker-Jobs zumeist ein unerbittlicher Konkurrenzkampf entwickelt, anders als bei den unbezahlten politischen Ehrenämtern, die aber oft als Sprungbrett in das Berufpolitikertum dienen. Dass mit dem Job als Berufspolitiker auch öffentliches Ansehen, Bekanntheitsgrad und die Befriedigung von Eitelkeit und Narzissmus verbunden ist, das ihnen sonst fehlen würde, gestehen langjährige Politiker ehrlich ein mit dem Hinweis, dass „Politik süchtig macht“. Auch deshalb können die meisten nicht loslassen und kleben an ihren Posten.
Fehlende zeitliche Begrenzung von Staatsämtern und politischen Mandaten
Während weltweit in den meisten Demokratien und selbst in autokratischen Regimen die Regierungs- und Staatschefs als Präsidenten nur ein- bis max. zweimal wieder gewählt werden können – es sei denn, sie ändern daraufhin die Verfassung zu ihrer längeren Machterhaltung – können bei uns in Deutschland die Regierungschefs theoretisch lebenslang in ihren politischen Spitzenämtern verbleiben, wenn ihre Partei sie entsprechend auf Wahllisten günstig positioniert und fördert. (Lediglich der Bundespräsident mit seiner rein repräsentativen Funktion darf auch bei uns nur einmal wiedergewählt werden für 5 Jahre gem. § 54 GG. Eine Direktwahl durch das Volk findet allerdings weder beim Bundespräsidenten noch für das Bundeskanzleramt statt). Bundeskanzler Adenauer regierte 14 Jahre lang, Helmut Kohl 16 Jahre und Angela Merkel könnte auch 16 Jahre erreichen, falls sie nicht vorzeitig abtritt oder die momentane Koalition zerbricht. Dass der Wechsel von Personen und Parteien unweigerlich zu einer funktionierenden Demokratie dazugehört, gerät so aus dem politischen Bewusstsein. Es fehlt bei uns eine zeitliche Begrenzung von Regierungsämtern und politischen Mandaten.
Berufspolitiker sorgen für Schieflage bei der repräsentativen Demokratie
Bekanntlich hatten unsere Väter und Mütter des Grundgesetzes das Ideal einer repräsentativen Demokratie vor Augen, d. h. die personelle Zusammensetzung der Parlamente sollte also möglichst ein Spiegelbild der gesamten Bevölkerung sein. Auch davon sind wir wegen des Berufspolitikertums weiter denn je entfernt, wie das Institut Allensbach ermittelt hat. Es ermittelte eine schleichende Verzerrung und Schieflage bei der Repräsentation:
- Obwohl das Durchschnittsalter der Abgeordneten insgesamt von 49 Jahren halbwegs repräsentativ ist, sind 137 Bundestagsabgeordnete über 65 Jahre alt
- Bei den Berufsgruppen jedoch dominieren Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes und der Gewerkschaften und Verbände sowie Juristen zu 80% das Parlament.
- Es dominieren im engeren Sinne Rechtsanwälte, Richter und Dienstleistungsberufe zu 1/6 im Bundestag und in den Landesparlamenten. Überrepräsentiert sind auch Selbständige und Freiberufler.
- Die überwiegende Mehrheit der Bundestagsabgeordneten, nämlich 600 von 631, hat einen Hochschulabschluss. Das sind 98,5% gegenüber nur 6,8% Hochschulabsolventen in der Bevölkerung (oder 17-20% unter den Erwerbstätigen).
Sie spiegeln also nicht die Bevölkerung, sondern die gehobenen Schichten. Laut einer Befragung der Hans-Böckler-Stiftung gaben 70% der befragten Bürger an: „Die führenden Leute in Politik und Medien leben in ihrer eigenen Welt.“ Um das zu vermeiden oder aufzulösen, bedarf es des Zurückdrängens des Berufspolitiker-Unwesens.
Sind Berufspolitiker“ wegen der „Professionalität“ in den Parlamenten unverzichtbar?
Stattdessen wird das ausufernde Berufspolitikertum nicht zuletzt auch von Medienvertretern für unverzichtbar erklärt wegen der „notwendigen Erfahrung und Professionalität“ der Volksvertreter, die man deshalb „nicht nach jeder Wahlperiode austauschen“ könne gegen unerfahrene Neulinge als „Laienpolitiker“. (Jeder mündige Bürger und Wähler ist aber als politisch kompetent in seinen Bürgeranliegen zu betrachten, sonst gäbe es ja kein gleiches Wahlrecht für alle).Und der „Fach- und Sachverstand“ eines Abgeordneten quasi als Delegierter der Bürgerinnen und Bürger in seinem Wahlkreis oder Stimmbezirk sollte vornehmlich aus dem Zuhören bestehen, um die Stimme des Volkes in Sachen „Gerechtigkeits- und Rechtsempfinden“ wahrzunehmen und ins Parlament zu tragen. Für die übrige Fachberatung sorgen die wissenschaftlichen Mitarbeiter im Abgeordneten- und Wahlkreisbüro, der wissenschaftliche Dienst des Bundestages, die Änhörung von Sachverständigen und der gesammelte Fachverstand in den personell gut ausgestatteten Ministerien mit ihren Fachabteilungen. Beim Volksvertreter kommt es hingegen auf die Kommunikations- und Diskursfähigkeit an, auf Konflikt- und Kritikfähigkeit sowie auf Sozialkompetenz und ethische Orientierung. (Siehe hierzu auch die „10 Gebote für Abgeordnete und Berufspolitiker“ im Anhang).
Wiederaufstellung als persönliche Existenzfrage des Berufspolitikers
Auch wird die mangelnde Attraktivität des gut zu bezahlenden „Abgeordneten-Berufes“ in den Medien oft gegenüber den Kritikern angeführt, wenn man die Mandate zeitlich befristen würde. Wer wäre dann bereit, aus seinem Beruf eine kurze Zeitlang auszusteigen, mit beruflichem Karriereknick und ungewisser beruflicher Zukunft danach? Dem kann entgegengehalten werden, dass es ja vergleichsweise bei den gewählten Betriebs- und Personalräten in ihrer beruflichen Freistellungphase seit jeher problemlos funktionier: Sie erhalten für die Zeit danach eine Arbeitsplatzgarantie für die Rückkehr (und nehmen sogar während der beruflichen Freistellung an Beförderungen und Aufstiegen teil, indem der Werdegang vergleichbarer Personen im Betrieb nachvollzogen wird). Und das Ganze bei Lohnfortzahlung im vorher ausgeübten oder erlernten Beruf (außer bei den fürstlich bezahlten und somit „gekauften“ Betriebsräten in der Automobilindustrie etc.).
Die Lohnfortzahlung im vorherigen Beruf könnte auch die gerechte Basis für die temporäre Abgeordnetenvergütung sein anstelle der großzügigen Diäten (zuzüglich Aufwandsentschädigung). Denn Abgeordnete sind keine „Führungskräfte“ oder „leitende Angestellte“ und müssen auch nicht so bezahlt werden, sondern sie haben die Menschen nicht zu führen, sondern ihnen zu folgen als Vertreter ihrer Interessen, nicht der eigenen Interessen. Diese aber stehen bei einem Berufspolitiker zwangsläufig systemimmanent stark im Vordergrund, sonst könnte er sich beruflich nicht lebenslänglich absichern. Für den Berufspolitiker wird der Kampf um seine Wiederaufstellung zu einer persönlichen Existenzfrage. Allein das macht ihn korrumpierbar.
Berufspolitikertum als Ursache der Entfremdung zwischen Volk und politischen Eliten
Das Berufspolitikertum ist eine wesentliche Ursache für die Entfremdung und Distanz zwischen Politikern und Bürgern, für die Unterteilung in „Wir“, die Politker“ und „Ihr“, das Volk, das es politisch aufzuklären gelte über die Vorhaben der Politiker. Ein wahrer Volksvertreter sitzt jedoch nicht jenseits „auf der anderen Seite“ der staatlichen Demokratie-Ebenen, sondern ist von seinem Selbstverständnis selber Staatsbürger und damit auf derselben Stufe wie seine Wähler; er ist schlicht einer von ihnen als ihr Delegierter und im Idealfall ihr Sprecher im Wahlkreis. Politiker ist kein Beruf, sondern Berufung. Von diesem Bewusstsein und Selbstverständnis haben sich etliche Berufspolitiker weit entfernt, ohne es zu merken. Sie haben es selber in der Hand, ob sie ihr Verhalten ändern und damit Garanten der Demokratie werden oder ob sie sich weiter in ihrer Subkultur einrichten und damit zu Totengräbern unserer deshalb kriselnden Demokratie werden.
„ Zehn Gebote für Abgeordnete und „Berufspolitiker“
Erstes Gebot:
Du sollst dich in Bescheidenheit und im Zuhören üben, denn du hast lediglich eine dienende Funktion auf Zeit für deine Wähler und für das Wohl der Allgemeinheit.
Nicht deine Meinung und deine Person sind wichtig, sondern die Mehrheitsmeinung der Menschen, deren Interessen du zu vertreten hast. Deine eigenen Interessen und Ambitionen haben hinten anzustehen; Vorrang haben der Wählerwille und der Gemeinnutz.
Zweites Gebot:
Sei stets der Wahrheit und nicht der Lüge verpflichtet, denn die weit verbreitete Lüge im öffentlichen Leben und in Wahlkämpfen ist Gift für die Demokratie. Ehrlichkeit und Transparenz sei deshalb oberstes Gebot bei all deinem politischen Wirken und Handeln, um glaubwürdig zu sein. Hüte dich vor Halbwahrheiten, leeren Versprechungen und „faulen Kompromissen“, denn sie verderben die politische Kultur.
Drittes Gebot:
Beteilige dich nicht an Machtkämpfen und politischen Intrigen, sondern folge dem Gebot politischer Fairness, denn sonst verdirbst du deinen Charakter und verlierst deine Aufrichtigkeit. Die dir verliehene „politische Macht auf Zeit“ dient lediglich der wirksamen Durchsetzung ausgewogener und mehrheitsfähiger politischer Ziele bei gleichzeitigem Minderheitenschutz, nicht der Vorführung der politischen Ohnmacht deines Wahlvolkes oder des politischen „Gegners“.
Viertes Gebot:
Bewahre deine Unabhängigkeit und fühle dich nicht eigennützigen Interessengruppen und Lobbyisten verpflichtet, sondern ausschließlich den gemeinnützigen Anliegen zum Wohle aller. Sei nicht käuflich, denn maßgebend ist nicht die Höhe der Parteispenden zahlungskräftiger Konzerne und Gruppierungen, auch nicht lockende Nebeneinkünfte oder lukrative Jobs nach deiner politischen Laufbahn, sondern allein das Maß der politischen Zu-stimmung in der betroffenen Bevölkerung.
Fünftes Gebot:
Betätige dich stets als Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit und halte dich an die von dir selber mitgestalteten Gesetze und Wahlversprechungen. Nehme für dich selber keine Sonderrechte und Privilegien in Anspruch, sondern sei dir deiner Vorbildfunktion und deiner rechtlichen Verpflichtungen bewusst. Und merke: „Ein Staat, dem es an sozialer Gerechtigkeit mangelt, ist nichts anderes als eine große Räuberbande“ (Zitat Staatsrechtslehrer Augustinus).
Sechstes Gebot:
Beteilige die Menschen im Vorfeld an den demokratischen Entscheidungsprozessen und hole ernsthaft ihre Meinung ein. Rufe regelmäßige Wahlkreisversammlungen ein und tau-sche dich mit den Wählern auch außerhalb von Wahlkämpfen aus; begründe deine Entscheidungen und lege Rechenschaft ab. Mache Betroffene zu Beteiligten, sonst entscheiden fälschlich lauer Nichtbetroffene in der angehobenen politischen Subkultur über die menschlichen Schicksale.
Siebtes Gebot:
Folge stets deinem Gewissen und ethisch-moralischen Grundsätzen, weniger irgendeinem Koalitions- oder Fraktionszwang. Mache dich nicht zum Sklaven irgendwelcher Ideologien und Dogmen deiner Partei, sondern trage zu lebendigen und fruchtbaren Debatten bei der offenen Meinungsbildung im Parlament bei. Du bist als gewählter Mandatsträger in erster Linie Delegierter des Volkes, nicht nur Delegierter einer Partei oder Fraktion.
Achtes Gebot:
Sei ebenso bescheiden bei deinen Einkünften und deiner Alterssicherung, wie du es den Bürgerinnen und Bürgern „draußen im Lande“ abverlangst. Orientiere deine Versorgungs- und Diäten-Ansprüche an den Durchschnittsverdiensten der arbeitenden Bevölkerung oder an deinem vorherigen beruflichen Status, weniger an den obszönen Einkommen gewisser Wirtschaftsmanager und Banker. Gehe auch in anderen Bereichen stets sorgsam mit dem Geld der Steuerzahler um.
Neuntes Gebot:
Übe dich in einer allgemeinverständlichen Sprache und Ausdrucksweise und entwöhne dich von den Sprechblasen des Politik- und Medienbetriebes, damit deine Wähler dich verstehen. Verstecke dich nicht hinter bürokratische und technokratische Verschleierungen oder den Parolen der Wahlkampfberater. Sage klar und deutlich, was angesagt ist oder schweige, wenn du nichts Wesentliches mitzuteilen oder beizutragen hast; denn du musst dich nicht zu allem und jedem in den Medien äußern und allzuständige Kompetenz vortäuschen.
Zehntes Gebot:
Nimm dir neben deinem geschäftigen Politikerleben genügend Zeitausgleich für private, kulturelle und innovative Betätigungen, denn das verschafft dir geistige und seelische Bereicherung, neue Ideen und Kontaktmöglichkeiten mit den einfachen Bürgerinnen und Bürgern, die klüger sind, als du vielleicht denkst. Und lass in Ideenwerkstätten mit kreativen Menschen neues Gedankengut an dich heran, damit andersartige Problemlösungsansätze in den Politikbetreib Einzug halten können.
Wilhelm Neurohr
(Diese 10 Gebote wurden in 2013 in den Zeitungen des Medienhauses Bauer als Leserbrief veröffentlicht und stießen auf ungewöhnlich zustimmende Resonanz)