21. September 2020:
75 Jahre UNO - Eine gemischte Bilanz der reformbedürftigen Vereinten Nationen
Die Vereinten Nationen erinnern am 21. September an Ihre Gründung vor 75 Jahren. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges lag die Welt in Trümmern. Um dauerhaft Frieden zu sichern, schlossen sich 1945 auf einer Konferenz in San Francisco 50 Staaten zu den Vereinten Nationen zusammen, denen heute 193 Staaten angehören. Die Gründungscharta nennt hehre Ziele: Frieden und Sicherheit, gute Beziehungen unter den Staaten sowie gemeinsame Lösungen für globale Probleme. Über Jahrezehnte bemühte sich die Weltorganisation um positive Ergebnisse, aber die Bilanz der Jahrzehnte ist gemischt, insbesondere in jüngster Zeit. Es gab auch katastrophales Versagen, z. B. bei den Greueltaten in Ruanda und Bosnien.oder bei Verbrechen von Blauhelmsoldaten im Kongo. Heute werden wichtige Prinzipien der internationalen Zusammenarbeit vor allem durch die USA in Frage gestellt gestellt und sind gleichzeitig wichtiger denn je. Die Allianz für den Multilateralismus setzt ein Zeichen der Unterstützung.
Heute beginnt die Generalversammlung der Vereinten Nationen. Im Jubiläumsjahr tritt die Weltorganisation des erste Mal seit ihrem Bestehen nur virtuell zusammen. In einer Ära der Krisen sei es Zeit zu handeln, meinen Silke Weinlich und John Hendra, ehemaliger stellvertretender UN-Generalsekretär.
Die deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN) schreibt zum Jubiläumstag:
Virtuelle Jubiläumssitzung
Volkan Bozkir, Präsident der 65. Generalversammlung, leitet die Sitzung zum Jubiläum der Vereinten Nationen. (UN Photo/Manuel Elías)
Ein Satz sticht in der politischen Erklärung zum 75-jährigen Bestehen der Vereinten Nationen besonders hervor: „Wir sind nicht hier, um zu feiern. Wir sind hier, um zu handeln.“ Heute werden die 193 UN-Mitgliedstaaten dies voraussichtlich verabschieden. Angesichts der vielen Übel, die der Welt und der Weltorganisation in jüngster Zeit widerfahren sind, erscheint diese Erklärung vielversprechend, wenn nicht dringlich.
Nimmt man die Covid-19-Pandemie als Testfall für die kollektive Fähigkeit der Welt, wirksam auf globale Probleme zu reagieren, so haben wir bislang versagt. Viel zu oft war erbitterter Konkurrenzkampf zwischen den Nationen die Antwort statt globale Koordination, multilaterale Zusammenarbeit und Solidarität. Die zur Bewältigung einer solchen Krise geschaffenen UN-Institutionen – etwa die Weltgesundheitsorganisation – waren zwar effektiv, wurden aber durch regulatorische, politische und finanzielle Zwänge behindert. Weder der Sicherheitsrat noch die Generalversammlung haben auf die Pandemie mit der gebotenen Dringlichkeit reagiert. Zudem hat sich herausgestellt, dass andere, relativ neue und viel gepriesene Strukturen wie die G20 ebenso unzulänglich agierten und der gleichen toxischen (Geo-)Politik unterliegen. Dies ist leider keine große Überraschung angesichts der im Ganzen unzureichenden Reaktionen auf gleichermaßen drängende globale Krisen – Verlust der Artenvielfalt, Klimawandel oder wachsende Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten innerhalb und zwischen Nationen. Kollektives Handeln auf globaler Ebene ist schwierig, umso mehr, wenn Verhalten geändert und Ressourcen umverteilt werden müssen. Nationalismus, Populismus, geopolitische Rivalitäten und eine gewisse multilaterale Ermüdung haben die Aufgabe nicht leichter gemacht.
Die Leistungen der Vereinten Nationen würdigen.
Auch wenn all dies ernüchternd ist, sollten wir die vielen bedeutsamen Leistungen der UN in den vergangenen 75 Jahren nicht übersehen, etwa in puncto Friedenssicherung, Entwicklung, Menschenrechte und humanitärer Hilfe. Heute werden auch die Ergebnisse des über ein Jahr geführten „globalen Dialogs“ von UN75 mit über einer halben Million Menschen veröffentlicht. Sie werden zweifellos die weltweit verbreitete Überzeugung bekräftigen, dass verstärkte globale Zusammenarbeit absolut unerlässlich ist. Kann der 75. Jahrestag also Gelegenheit bieten, den dringend benötigten Weg zur Wiederbelebung des Multilateralismus und der Vereinten Nationen selbst zu beschreiten? Beim Multilateralismus geht es nicht nur darum, globalen Risiken zu begegnen, sondern auch darum, globale Handlungsmöglichkeiten zu erkennen. Wir nennen hier nur drei.
Erstens bedarf es dringend überzeugender Narrative, die Verantwortlichen in Entscheidungsfunktionen und der breiten Öffentlichkeit aufzeigen, dass es sich lohnt, den Multilateralismus zu bewahren und weiterzuentwickeln. Viel zu oft wird Multilateralismus als zu wenig greifbar und weit entfernt von „Wir, die Völker“ wahrgenommen, die Formulierung, mit der die Charta der Vereinten Nationen beginnt. Möglichst viele nationale Regierungen sollten den 75. Jahrestag zum Anlass nehmen, ihre multilaterale Politik zu überprüfen. Das Auswärtige Amt tut dies mit seinem „Weißbuch Multilateralismus“, in das die Sichtweisen vieler Akteure einfließen.
Zweitens müssen in unmittelbarer Zukunft belastbare multilaterale Antworten Vorrang haben. In Bezug auf Covid-19 bedeutet dies, dass die Entwicklung und der Zugang zu Impfstoffen als ein globales öffentliches Gut behandelt werden müssen, das gleichberechtigt all jene erreicht, die am meisten gefährdet sind. Es muss mehr Solidarität bei der Bewältigung der sozioökonomischen Auswirkungen der Pandemie geben. Hier sind Kanada, Jamaika und die UN in die Bresche gesprungen. Gemeinsam weisen sie auf den Finanzierungsbedarf hin, um zurück auf den Weg zu den Zielen der nachhaltigen Entwicklung (SDGs) zu finden – und die Staaten müssen darauf reagieren. Wir müssen auch von der Rhetorik zu der Realität des building back better übergehen. Ehrgeizigere Zusagen für Klimaschutzmaßnahmen sind notwendig. Längst überfällige Verbesserungen bei den nationalen Klimaaktionsplänen (NDCs) müssen bei der Gestaltung von Maßnahmen zur wirtschaftlichen Erholung eine entscheidende Rolle spielen, damit bis 2050 Klimaneutralität erreicht wird. Die Pandemie hat weltweit bedeutende Verhaltensänderungen bewirkt, die sich weiter beschleunigen müssen, wenn wir eine noch existenziellere Klimakrise abwenden wollen.
Drittens müssen trotz des komplexen politischen Umfelds weitere UN-Reformen in Angriff genommen werden. Die Erklärung zum 75. Jahrestag beauftragt den UN-Generalsekretär, der Generalversammlung innerhalb eines Jahres Empfehlungen zu globalen Herausforderungen und Reformen zu unterbreiten. Es ist wichtig, dass er Raum, Ressourcen und intellektuelle Schlagkraft erhält, um das erforderliche kreative Denken und die entsprechende Inspiration zu wecken – und dass er bei seinen Bemühungen politisch unterstützt wird. Im Geiste eines „inklusiven Multilateralismus“ sollte der anstehende politische Prozess auf konkreten Vorschlägen fußen, die im Vorfeld des 75. Jahrestags von zivilgesellschaftlichen Akteuren, Think Tanks, Parlamenten und anderenentwickelt wurden – wobei die Tür für weit mehr offen bleiben sollte.
Die Mitgliedstaaten selbst erklären heute: „Wir sind hier, um die Zukunft zu sichern, die wir wollen, und die Vereinten Nationen, die wir brauchen.“ Es ist höchste Zeit, damit weiter voranzukommen.
Dr. Silke Weinlich ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) und leitet ein Forschungs- und Beratungsprojekt zur Reform des UN-Entwicklungssystem.
John Hendra ist ehemaliger stellvertretender UN-Generalsekretär und ehemaliger UN-Koordinator in Vietnam, Tansania und Lettland. Er ist derzeit assoziierter wissenschaftlicher Mitarbeiter am DIE.
Dieser Beitrag ist eine "Aktuelle Kolumne" des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE). In Zusammenarbeit mit dem DIE veröffentlichen wir ausgewählte Kolumnen mit UN-Bezug.
Der Rückzug der USA
Ralf Bosen schreibt in dw.com: "Kurz vor seinem Amtsantritt schmähte US-Präsident Trump die Vereinten Nationen als einen Klub, "wo sich Leute treffen, unterhalten und vergnügen. Gerade mal ein Jahr später entbrannte der Streit um die Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem, den die UN-Generalversammlung verurteilt hatte.
Bisheriges Fazit dieser gestörten Beziehung: Die USA kündigten das globale Klimaabkommen auf, verweigerten die Mitarbeit am UN-Migrationspakt, kürzten ihren finanziellen Anteil an Friedensmissionen und traten aus der Bildungs- und Kulturorganisation UNESCO sowie dem UN-Menschenrechtsrat aus.
Internationale Gemeinschaft: 75 Jahre UN-Charta: Stresstest zum Jubiläum
Als die Vertreter von 50 Staaten 1945 den UN-Gründungsvertrag unterzeichneten, lag gerade das Grauen des Zweiten Weltkriegs hinter ihnen. Heute stehen ihre Ideale vor einer Belastungsprobe. Auch wegen US-Präsident Trump.
Es war eine umstrittene Rede. Eine unverblümte Absage an die Völkergemeinschaft. "Die Zukunft gehört nicht den Globalisten, sondern den Patrioten", sagte Donald Trump in der Generalversammlung der Vereinten Nationen Ende September 2019. Weise Regierungschefs würden das Wohlergehen "ihres eigenen Landes an erste Stelle" setzen.
Die USA zuerst, die UN danach
Die ungeschminkte Bewerbung seiner America-First-Politik im sanierungsbedürftigen UN-Weltsaal in New York offenbarte einmal mehr: Trumps Prioritäten sind mit den Idealen der Vereinten Nationen alles andere als deckungsgleich. Einen Vorgeschmack darauf gab einer seiner Tweets im Dezember 2016.
Kurz vor seinem Amtsantritt schmähte er die Vereinten Nationen als einen Klub, "wo sich Leute treffen, unterhalten und vergnügen. Gerade mal ein Jahr später entbrannte der Streit um die Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem, den die UN-Generalversammlung verurteilt hatte.
Bisheriges Fazit dieser gestörten Beziehung: Die USA kündigten das globale Klimaabkommen auf, verweigerten die Mitarbeit am UN-Migrationspakt, kürzten ihren finanziellen Anteil an Friedensmissionen und traten aus der Bildungs- und Kulturorganisation UNESCO sowie dem UN-Menschenrechtsrat aus.
Während seiner Rede in der Generalversammlung rühmte Trump Fortschritte in den USA unter seiner Präsidentschaft
Jüngst beschimpfte der US-Präsident die Weltgesundheitsorganisation vor dem Hintergrund des Krisen-Managements in der Corona-Krise als inkompetent und Marionette Chinas. Dann stellten die USA mitten in der Pandemie im Mai ihre Zahlungen ein. Schließlich kündigte Trump den endgültigen Bruch mit der WHO an.
Verfassung mit universeller Bedeutung
Dabei war die völkerverbindende Zusammenarbeit Gründungsziel der Vereinten Nationen. Es ging um die Überwindung nationaler Egoismen zugunsten des Weltfriedens. Voraussetzung dafür sollte ein Vertragswerk von universeller Bedeutung sein: die UN-Charta. Als die Vertreter aus 50 Staaten am 26. Juni 1945 in San Francisco den Gründungsvertrag unterzeichneten, standen sie unter dem Eindruck zweier Weltkriege.
Das spiegelt sich in der ersten und wichtigsten Präambel. Die beginnt mit den Worten: "Wir, die Völker der Vereinten Nationen - fest entschlossen künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat (…)."
Als weitere Ziele werden die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten festgehalten, ungeachtet der "Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion". Die Charta beschreibt die Aufgaben und Kompetenzen der Vereinten Nationen. Erste konzeptionelle Grundlagen für die Welt-Verfassung hatten die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs - USA, Großbritannien und die Sowjetunion - verhandelt, die später China und Frankreich hinzuzogen.
Veraltete Strukturen im Weltsicherheitsrat
Doch der Weg dahin ist holprig. Immer wieder hagelt es Kritik an der Effektivität der Weltorganisation. Auch daran, dass viel Geld im UN-Apparat versickert, oder am Bestreben einzelner Staaten, die UN für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Wobei die Zahlung von Beiträgen an den chronisch klammen UN-Haushalt immer wieder als Druckmittel eingesetzt werden.
Zur Verteidigung der UN fand schon der zweite UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld die Worte: "Die Vereinten Nationen wurden nicht geschaffen, um die Menschheit in den Himmel zu führen, sondern um sie vor der Hölle zu retten." Trumps Störmanöver als Poltergeist des Unilateralismus sind also nicht der einzige Stresstest für die Völkergemeinschaft.
"Trump hat viele Dinge nicht getan, die er eigentlich tun sollte. Dazu gehört vor allem eine konstruktive Mitarbeit im Sicherheitsrat. Das ist aber nicht die Schuld allein von Trump, sondern das liegt am veralteten System des Sicherheitsrats", urteilt der ehemalige deutsche UN-Botschafter Gunter Pleuger (2002 bis 2006) im DW-Gespräch. Das mächtigste UN-Gremium repräsentiere nicht mehr die Welt von heute, sondern die von 1945.
Die Strukturen ermöglichten, dass die fünf Vetomächte - die USA, Russland, China sowie Großbritannien und Frankreich - jede Entscheidung durch ein einziges Nein verhindern könnten.
Massaker trotz Blauhelm-Friedensmissionen
Pleuger sieht in dieser Frage gerade jetzt besonders dringenden Handlungsbedarf. In einer Zeit, in der sich die Konflikte in Europa, im Nahen Osten, in Asien und in Südamerika ohnehin mehrten, "führt das natürlich dazu, dass die UN öfter als notwendig und öfter als wünschenswert ohnmächtig dastehen". Besonders Indien, Brasilien, Japan und Deutschland drängen seit Langem auf Reformen.
Neben den verkrusteten Strukturen lieferten Berichte über sexuelle Übergriffe von UN-Helfern und Blauhelmsoldaten Schlagzeilen. Für Empörung sorgte auch, dass Länder, die überhaupt keine Menschenrechte beachten, nicht nur in den Menschenrechtsrat aufgenommen wurden, sondern gelegentlich deren Vorsitz bekamen.
Vor allem leidet das Ansehen der Weltorganisation unter dem Versagen früherer Friedensmissionen. Seit Blauhelme 1994 aus Ruanda abzogen, statt den Völkermord an den Tutsi zu verhindern, seit UN-Soldaten 1995 im bosnischen Srebrenica Massaker an Zivilisten hilflos zusahen, blickt die internationale Öffentlichkeit sehr viel kritischer auf Einsätze der Vereinten Nationen.
Globale Ordnungsmacht in einer globalisierten Welt
Dennoch gilt die Staatengemeinschaft als weitgehend unverzichtbare Ordnungsmacht in einer zunehmend globalisierten Welt. Kaum eine größere Krise lässt sich lösen ohne UN-Mitarbeit.
Ein Meilenstein in der Geschichte der Vereinten Nationen ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Um die wurde die Charta am 10. Dezember 1948 ergänzt. Darin verpflichten sich erstmals alle Staaten gemeinsam auf grundlegende Rechte, die für jeden Menschen gleichermaßen gelten.
"Von der Fortentwicklung der Frauenrechte, über die Kinder- bis zu den Behindertenrechten hat man ein massives Vertragswerk geschaffen, das die Menschenrechte weltweit in bemerkenswerter Form vorangebracht hat", erläutert der frühere UN-Botschafter Hanns Heinrich Schumacher (2001/2002) im DW-Gespräch. "Nicht zu vergessen die herausragende Rolle der Vereinten Nationen und ihrer Spezialorganisationen bei der Entwicklung der Humanitären Hilfe."
Schub für Wiedervereinigung Deutschlands
Von 50 Gründungsmitgliedern ist die Weltorganisation auf mittlerweile 193 Staaten angewachsen, vor allem durch Dekolonialisierung. Auch an diesem Prozess waren die UN maßgeblich beteiligt, meint Ex-Botschafter Pleuger: Weil "die Anwendung von Gewalt zur Aufrechterhaltung kolonialer Herrschaft über die Jahrzehnte diskreditiert wurde".
Die nachhaltige Verurteilung illegitimer Gewalt habe auch dazu geführt, "dass in der neueren Zeit der sowjetische Staatschef Gorbatschow und andere nicht zu Gewalt gegriffen haben, als die Unruhen in Zentraleuropa und in Deutschland immer größer wurden und sich revolutionäre Veränderungen abzeichneten".
Der ehemalige Spitzendiplomat glaubt, dass damit "auch die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands befördert wurde". Insofern passt es, dass Deutschland als nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrats im Juli dessen Vorsitz übernimmt. Wenige Tage nach dem 75-jährigen Jubiläum der Charta-Unterzeichnung.