Wilhelm Neurohr

Pfingsten 2024 in Zeiten der Militarisierung:

„Auf dem Weg in eine neue Barbarei – oder Renaissance unserer humanistischen Tradition?“

13258664_L.jpg?1716113011

  • „Immer drängender wird die Frage, weshalb trotz allen guten Willens und obwohl wir uns der Folgen eines Atomkrieges bewusst sind, die Versuche ihn abzuwenden so schwach sind im Vergleich zur Größe der Gefahr und Wahrscheinlichkeit eines Krieges, gehen doch atomares Wettrüsten und kalter Krieg unvermindert weiter. (…) Es erhebt sich die Frage, ob wir uns auf eine neue Barbarei zubewegen – selbst wenn es nicht zu einem Atomkrieg kommen sollte - oder ob eine Renaissance unserer humanistischen Tradition möglich ist.“

Mit dieser Frage leitete der Psychoanalytiker Erich Fromm sein Buch über die menschliche Fähigkeit zum Guten und zum Bösen ein. Führt die von Kriegen sowie von Technik und Industrialisierung geprägte Gegenwart in einem Leben voller Gleichgültigkeit, Angst und Hass zur Zerstörung - oder erwächst angesichts Hunderttausender Kriegstoter und -krüppel als Gegenkraft die Liebe zum Lebendigen? Der Mensch: Reißender Wolf oder gehorsames Schaf, das den Befehlen der Führer in den zerstörerischen Krieg folgt und jedem propagandistischen Unfug willenlos Glauben schenkt? Kriegstüchtigkeit statt Kriegsmüdigkeit? „Wir gegen die“, „Freund oder Feind“?

Begegnen wir im 21. Jahrhundert dem russischen Aggressor auf der gleichen Ebene mit militärischer Gegengewalt und Zerstörung und stimmen wir im Nahost-Krieg in den Ruf nach Vergeltung mit ein? Die verantwortlichen Politiker verfügen über Tausende, die auf ihren Befehl hin für sie töten und morden und müssen deshalb nicht selber an die tödliche Front. Sie nehmen kaltblütig zur Kenntnis, dass nebst der 6-stellgen Zahl an Getöteten bereits 100.000 Gliedmaßen ukrainischer Frontkämpfer amputiert werden mussten und lassen sich stolz vor den Kliniken fotografieren, die dafür mit deutschen Geldern unterstützt werden. So stoßen wir überall auf die Unmenschlichkeit des Menschen bei der erbarmungslosen Kriegsführung, bei Mord und Vergewaltigung, bei der rücksichtslosen Ausbeutung des Schwächeren durch den Stärkeren.
.
Eine Geschichte nie abreißender Gewalttaten?

So setzt sich die mit Blut geschrieben Geschichte der Menschheit fort als eine Geschichte nie abreißender Gewalttaten, denn fast immer hat man sich die anderen mit Gewalt gefügig gemacht. „Der Mensch ist seinem Mitmenschen ein Wolf.“. Erich Fromm fragt: „Sind wir selber Wölfe im Schafspelz, die sich bei nächster Gelegenheit wie wilde Tiere verhalten?“ Und weiter: „Die Wölfe wollen töten, die Schafe wollen tun, was man ihnen befiehlt. (…) Die Mörder müssen noch Geschichten erfinden, die von ihrer gerechten Sache, von der Verteidigung der bedrohten Freiheit, von der Rache für die mit dem Bajonett erstochenen Kinder, von vergewaltigten Frauen und von verletzter Ehre handeln, um die Mehrheit der Schafe dazu zu bringen, sich wie Wölfe zu verhalten.“

Ist der Mensch vielleicht sowohl Wolf als auch Schaf - oder weder noch?

Ist der Mensch seinem Wesen nach böse und verderbt, oder ist er gut und fähig, sich zu vervollkommnen? Und ist er fähig und willens zum Ungehorsam als erster Schritt des Menschen auf dem Weg zur Freiheit? Wenn es diese im Krieg zu verteidigen gilt, dann gilt es erst einmal, diese Freiheit zu erringen und sich dem Waffen- und Kriegsgeschrei zu widersetzen, das uns aus Politik und Medien täglich entgegenschallt. Sind wir in der Lage, unsere Geschichte in der Menschheitsfamilie selber zu gestalten oder rotten wir uns in nationalen oder Stammeszugehörigkeiten gegen andere Menschengruppen zusammen, um gegen diese (und damit letztlich gegen uns selber) anzukämpfen?

Einsatz gefährlicher Zerstörungswaffen zur Vernichtung des „Feindes“ und zur Selbstvernichtung

Die Antwort auf diese Fragen ist laut Erich Fromm heute von ausschlaggebender Bedeutung, wo die Nationen zur Vernichtung ihrer „Feinde“ den Einsatz gefährlichster Zerstörungswaffen erwägen und sich offenbar nicht einmal durch die Möglichkeit abschrecken lassen, dass sie bei der Massenvernichtung selber mit untergehen könnten. Je mehr die Überzeugung ohne Abscheu um sich greift, dass das Bedürfnis zur Gewaltanwendung tief im menschlichen Wesen verwurzelt sei, wird unser Widerstand gegen die zunehmende Brutalisierung immer schwächer werden. „Wenn der Mensch Böses tut, wird er selbst auch böser.“

Der freie Mensch muss sich zwischen Gut und Böse entscheiden

Der freie Mensch muss zwischen Gut und Böse, Segen und Fluch, Leben und Tod wählen, entgegen dem Gefühl der Ohnmacht. Sind wir uns in diesen Kriegszeiten wirklich sicher, dass die Bösen stets auf der anderen Seite sind und wir die Guten sind, wie die Propaganda der Rüstungslobby und ihrer politischen Vollzugsgehilfen uns einbläuen möchte? Werden nicht die eigenen destruktiven Kräfte dabei unterschätzt, wie sie bereits zu zwei Weltkriegen geführt haben und uns jetzt vielleicht an die Schwelle zum Dritten Weltkrieg führen?

Bei Kriegen geht es um Land, Bodenschätze und Handelsvorteile

„Kriege entstehen durch die Entscheidung politischer, militärischer und wirtschaftlicher Führer, um auf diese Weise Land, Bodenschätze und Handelsvorteile zu gewinnen, um sich gegen eine wirkliche oder angebliche Bedrohung der Sicherheit ihres Landes durch eine andere Macht zu verteidigen, oder auch um ihr persönliches Prestige zu erhöhen und Ruhm für sich zu ernten. Diese Männer unterscheiden sich nicht vom Durchschnittsmenschen: Sie sind egoistisch und kaum bereit, zugunsten anderer auf einen persönlichen Vorteil zu verzichten, aber sie sind weder grausam noch bösartig.“

Die Verführung der Macht

Erst wenn sie in Machtstellungen kommen, in denen sie über Millionen befehlen und über die schlimmsten Vernichtungswaffen verfügen, können sie ungeheuren Schaden anrichten. „Im bürgerlichen Leben hätten sie vielleicht einen Konkurrenten zugrunde gerichtet; in unserer Welt mächtiger und souveräner Staaten, können sie die ganze menschliche Rasse ausrotten (ohne einem moralischen Gesetz unterworfen zu sein). Der normale Mensch mit außergewöhnlicher Macht ist die Hauptgefahr für die Menschheit - nicht der Unhold oder Sadist.“

Ohne Leidenschaften bei den Menschen keine Kriegsführung

„Aber genauso, wie man Waffen braucht, um einen Krieg zu führen, so braucht man auch die Leidenschaften des Hasses, der Empörung, der Destruktivität und Angst, wenn man Millionen dazu bringen will, ihr Leben aufs Spiel zu setzen und zu Mördern zu werden. Diese Leidenschaften sind die notwendigen Vorbedingungen für das Führen von Kriegen; sie sind nicht deren Ursachen, genauso wenig, wie Kanonen und Bomben als solche die Ursachen von Kriegen sind.“

Geringe Hemmschwelle beim Atomwaffeneinsatz

„Viele meinen, ein Atomkrieg unterscheide sich in dieser Hinsicht von einem traditionellen Krieg. Jemand, der nur auf einen Knopf drückt und auf diese Weise Atombomben auslöst, von denen jede hunderttausende töten kann, wird dabei kaum dasselbe Erlebnis von Töten haben wie früher ein Soldat, der ein Bajonett oder ein Maschinengewehr dabei benutzt. Aber selbst, wenn das Abfeuern einer Atomrakete im Bewusstsein des Betreffenden nur als gehorsame Ausführung eines Befehls erlebt wird, so bleibt doch die Frage, ob nicht in tieferen Schichten der Persönlichkeit doch destruktive Impulse oder wenigstens eine tiefe Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben vorhanden sein müssen, damit eine solche Handlung überhaupt möglich sein wird.“

Die Frage von Krieg oder Frieden liegt in unserer Macht

Für Erich Fromm gibt es keinen Zweifel darüber, „dass jeder Mensch in der einen oder anderen von ihm gewählten Richtung voranschreitet: in Richtung auf das Lebendige oder auf das Tote, zum Guten hin oder zum Bösen.“ Die Frage von Krieg und Frieden in diesen Zeiten liegt also in unserer eigenen Macht und individuellen Freiheit mitsamt dem Mut zum Ungehorsam und Widerstand.

Wirklich frei werden wir nur, wenn wir uns der gesamten Menschheit verpflichtet fühlen und nicht nur der derjenigen Volks- oder Menschengruppe, der wir zufällig angehörien und uns deshalb gegen andere Menschengruppen in Stellung bringen lassen. Der Humanismus ist demgegenüber eine Weltanschauung, die sich an den Interessen und Werten sowie der Würde jedes einzelnen Menschen orientiert.

Wer diese Gedanken vertiefen möchte, dem sei zu Pfingsten das Buch von Erich Fromm von 1964 (Neuausgabe 2016) empfohlen: „Die Seele des Menschen – Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen.“ (dtv-Verlag ISBN 978-3-423-34880-5)

Wilhelm Neurohr, 19. Mai 2024 (Pfingsten)