Wilhelm Neurohr

"Klimaneutralität jetzt!"

Das weltweite CO2-Budget, um die Erderwärmung in noch einigermaßen zu bewältigenden Grenzen zu halten, ist bereits aufgebraucht! Helge Peukert, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Uni Siegen, bietet in seinem Buch „Klimaschutz jetzt!“ eine sehr detaillierte Analyse der bisherigen Klimapolitik auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene und zeigt deren Unzulänglichkeiten und Widersprüche auf. Seine Schlussfolgerung: Was jetzt nottut, ist eine Notbremse!

Im Schlusskapitel seines Buches skizziert Peukert, wie eine „geordnete Schrumpfung“ gestaltet werden kann. Die Schaffung eines öffentlichen sozial-ökologischen Arbeitsmarktes, die Bereitstellung eines „bedingten Grundeinkommens“, ein wachstumsunabhängiges von der Zentralbank ausgegebenes „Schenkgeld“ – das sind einige Grundelemente einer radikalen Umstellung unserer Ökonomie.

Mitmachen ist ohne Anmeldung möglich. Die beigefügte Anlage "webinarpeukert.doc" abspeichern und dann öffnen. Sie enthält einen Link. Diesen bitte mit der rechten Maustaste anklicken und dann "Hyperlink öffnen" anklicken. Anschließend öffnet sich das Zoom-Fenster. Es ist ein wenig umständlich, sollte aber funktionieren.

www.oekosozialismus.net

Buchrezension

Helge Peukert, Klimaneutralität jetzt! Politiken der Klimaneutralität auf dem Prüfstand, Metropolis-Verlag, Marburg 2021, 514 Seiten, € 19,80

Zu allererst sei betont: Niemand möge sich vom erheblichen Umfang des Buches abschrecken lassen. Man muss es nicht an einem Stück lesen, sondern kann es durchaus als – für die politische Auseinandersetzung äußerst hilfreiches – Handbuch benutzen. Peukert unternimmt hier sehr detaillierte, mit viel Hintergrundinformation angereicherte Analysen der wichtigsten Meilensteine der bisherigen Klimapolitik. Er bespricht eingehend die IPCC-Berichte, das Pariser Abkommen, den europäischen Emissionshandel, den – allerdings bislang nur in groben Konturen erkennbaren – europäischen „Green Deal“, die unterschiedlichen Klimakompensationsprojekte und die deutsche Klimapolitik einschließlich des nationalen Emissionshandelsgesetzes und der Strategien von Bundesbehörden und Verwaltung. Dabei prüft er als Wirtschaftswissenschaftler die theoretische wie praktische Wirksamkeit der einzelnen Instrumente. In akribischer Recherchearbeit hat er aber auch das Zustandekommen bestimmter Maßnahmen und die jeweils dahinter liegenden Interessen erkundet. Die sehr detaillierten Darstellungen mögen manche LeserInnen etwas entmutigen. Dem ist der Autor aber insofern entgegengekommen, als jedem Kapitel eine Zusammenfassung vorangestellt ist, die das Wesentliche knapp präsentiert und für den intensiveren Einstieg ins Thema vorbereitet.

Den Maßstab, anhand dessen Peukert die bisherige Klimapolitik kritisch prüft, legt er gleich zu Beginn in einer „kleinen Gegenwartsbestimmung“ offen. Seine Diagnose, die er dann im vorletzten Kapitel noch einmal aufgreift und zuspitzt, ist ernüchternd: Geht man vom IPCC-Bericht 2018 aus, so ist das Restbudget an Emissionen, das noch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Einhaltung der 2-Grad-Grenze der Erderwärmung gewährleistet, bereits aufgebraucht! Die weltweite Gesamtkonzentration der Treibhausgase insgesamt hat bereits ein Niveau erreicht, von dem aus 1,5 Grad Erwärmung nicht mehr zu vermeiden sind. Weltweit wurde 2018 ein Restbudget von noch 580 Gt CO2 ermittelt, was auf den Anteil der Deutschen an der Weltbevölkerung bezogen für Deutschland 4,2 Gt bedeuten würde. Dieses Budget wäre bei den derzeitigen jährlichen Emissionen bereits im Jahr 2026 verfrühstückt. Dabei ist natürlich die „historische Schuld“, die unter Klimagerechtigkeitsgesichtspunkten eigentlich abzutragen wäre, gar nicht berücksichtigt. Und: Diese Rechnung begnügt sich mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 %, das angestrebte Ziel zu erreichen. In allen anderen Kontexten würden wir jeden, der auf dieser Basis konsequenzenreiche politische oder auch individuelle Entscheidungen trifft, mit Recht als Hasardeur bezeichnen. Der Sachverständigenrat der Bundesregierung für Umweltfragen hat daraus immerhin die Konsequenz gezogen, dass CO2-Neutralität bereits für 2035 anzustreben sei (eine Maßgabe, die vom jüngsten Verfassungsgerichtsurteil zum Klimaschutzgesetz mit einer anderen Argumentation noch untermauert wird). Aber selbst das würde bedeuten, dass wir ab jetzt pro Jahr die Emissionen um 60 bis 70 Millionen Tonnen reduzieren müssen!

Peukert ist redlich genug, uns diese schonungslose Diagnose zuzumuten. Allerdings hätte ich mir an dieser Stelle eines gewünscht: Damit diese Diagnose nicht zur vollständigen politischen Lähmung führt, ist es notwendig zu betonen, dass der politische Kampf um eine Klimapolitik, die diesen Namen verdient, dennoch lohnt, weil jedes Zehntel Grad Erwärmung einen wesentlichen Unterschied macht, weil jedes Zehntel Grad die unterschiedlichen Katastrophenszenarien erheblich verändern kann und letztlich über Menschenleben entscheidet. Und politisch haben wir uns wohl einfach der Tatsache zu stellen, dass in naher Zukunft ein erheblicher Teil unseres Handelns in Abwehrmaßnahmen, Begrenzung von Katastrophen, etc. bestehen wird. Das ist wesentlich trister als die gesellschaftlichen Utopien, die uns in den letzten Jahrzehnten beflügelt haben, aber nun das einzig Situationsgerechte.

Peukert zieht eine konsequente Schlussfolgerung aus seinem Befund: Die Zeit des Gradualismus ist vorbei! Angesichts der aktuellen Situation ist es unangebracht, sich im Klein-Klein der tagespolitischen Debatte um die genaue Höhe des CO2-Preises und Ähnlichem zu verlieren. Was der Situation noch gerecht werden kann, ist eine Notbremse! Der Skizzierung einer solchen Notbremse ist das 19. Kapitel gewidmet. Ich äußere an dieser Stelle den dringenden Wunsch an den Autor, diese Skizze ein wenig detaillierter auszuführen und als eigene kleine Publikation zu veröffentlichen. Peukert macht deutlich: Es geht längst nicht mehr um „Substitution“ dessen, was uns auf fossiler Basis noch zur Verfügung steht, durch „grüne“ Verfahren und erneuerbare Energien. Es geht um Schrumpfung! Ohne ökonomische Kontraktion lässt sich die globale Erderwärmung nicht mehr aufhalten. Dies stellt den gesamten ökologischen Entwicklungspfad der Menschheit infrage. Zu bedenken ist aber auch: Etwa die Hälfte des seit der industriellen Revolution emittierten CO2 wurde erst seit 1990 emittiert! Dass die Herausforderung einer ökonomischen Kontraktion unter den Bedingungen einer drohenden Katastrophe zu bewältigen ist, zeigen die sehr raschen Umstellungen der Ökonomien in Kriegszeiten. Peukert geht denn auch auf den sogenannten Ein-Grad-Kriegsplan von Randers und Gildung näher ein. Und er macht konkrete Vorschläge dazu, wie dieser unumgängliche Schrumpfungsprozess in geordneten Bahnen verlaufen kann. Hier kann das nur in einigen wenigen Stichworten angedeutet werden: Ganze Branchen, in Deutschland nicht zuletzt die Automobilbranche, stehen auf dem Prüfstand. Private PKW sind weitgehend abzuschaffen ... Um die sozialen Folgen zu bewältigen, setzt Peukert nicht einfach auf Konversionspläne im großen Stil, die suggerieren, dadurch könnten bei sinkender ökologischer Belastung die Arbeitsplätze erhalten werden, sondern auf die Schaffung eines öffentlichen sozial-ökologischen Arbeitsmarktes, mithilfe dessen unter anderem für die Beseitigung ökologischer Schäden, etc. gesorgt werden kann. Entscheidend ist dabei, dass die Abhängigkeit der Staatsfinanzen von Einnahmen aus einer wachstumsgetriebenen Ökonomie entkoppelt werden. Mindestens die Hälfte der Staatsausgaben – so Peukert – haben deshalb über eine Direktfinanzierung der Zentralbank zu erfolgen. Kreditvergaben von Banken für bestimmte Projekte haben in dem Maß, in dem sie den Kredit nicht durch Spareinlagen abdecken können, ergänzend entsprechende Mittel bei der Zentralbank zu beantragen. Den Konzepten eines „bedingungslosen Grudneinkommens“ wie sie heute in „linken“ Kreisen immer mehr Zuspruch bekommen, die beharrlich ausblenden, dass genau diese Konzepte das zu überwindende Wachstum voraussetzen, setzt Peukert ein „Schenkgeld“ der Zentralbank an die Bürgerinnen und Bürger im Sinne eines „bedingten Grundeinkommens“ entgegen – also durchaus geknüpft an zumutbare und notwendig zu verrichtende Arbeiten. Das sind Elemente eines Vollgeldsystems, das eine schrumpfende Ökonomie erfordert. Eine Verstaatlichung von Großkonzernen und eine wirtschaftliche Gesamtrahmenplanung sind letztlich zwingend erforderlich, um einen geordneten Prozess der Schrumpfung zu garantieren. Auf internationaler Ebene greift Peukert den Vorschlag Mohssen Massarrats auf, der dem unzulänglichen Instrument des in Kyoto vereinbarten Emissionshandels eine zwischen den wichtigsten Anbieterländern fossiler Rohstoffe und den wichtigsten Verbrauchern ausgehandelte geplante Rückführung der Förderung unter fairen Bedingungen für beide Seiten entgegensetzt. Und eine Schrumpfung der inländischen Ökonomie bedarf natürlich Grenzausgleichsabgaben ...

Die Crux an der Sache ist: Die „schonungslose Begrenzungsdebatte“, wie sie Peukert einfordert, gibt es bei uns nur in zarten Ansätzen. Immer noch haben diejenigen, von Claudia Kempfert bis Volker Quaschning, die Meinungsführerschaft inne, die einen technischen „Solutionismus“ vertreten. Die vordringliche politische Aufgabe wäre es m. E. deshalb, im Sinne des Autors diese Begrenzungsdebatte voranzutreiben. Noch einmal sei es gesagt: Die Ausarbeitung des 19. Kapitels, der konkreten Skizze einer Schrumpfungspolitik, zu einer eigenständigen kleinen Publikation wäre gerade dafür äußerst hilfreich.

Bruno Kern