Wilhelm Neurohr

Bertelsmann-Studie zum Vertrauen in Politik

Wie lässt sich das Vertrauen in die Politik wiedergewinnen?

Von der Zuschauer-Demokratie zur Mitmach-Demokratie

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HALTERN AM SEE. „Das schwindende Vertrauen in Politik und Parteien ist eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, das erfuhren die Zuhörer des aufrüttelnden Vortags von Dr. Kai Unzicker von der Bertelsmann-Stiftung im vorletzten Jahr in Haltern. Mit dem Titel: „Demokratie in der Krise – wie sich Vertrauen in die Politik zurückgewinnen lässt“ hatte im November 2022 die Arbeitsgruppe „Bürgerrat für Haltern“ des Halterner Forums für Demokratie, Respekt und Vielfalt in die Stadtbücherei zur Diskussion darüber eingeladen.

In diesen Tagen veröffentlichte die Bertelsmann-Stiftung nun ihre neue Studie – mit erschreckenden Umfrage-Ergebnissen über den anhaltenden Vertrauensverlust insbesondere junger Menschen in die Politik. Wie gehen wir im Europa-Wahljahr damit um? Zwar zeugen in Deutschland die Massendemonstrationen pro Demokratie in den letzten Wochen von der weit verbreiteten Zustimmung zur Demokratie. Aber es zeigen sich als Anlass auch die Verwerfungen in der Parteienlandschaft mit ihrem Rechtstrend und das sinkende Vertrauen sowie Zweifel in die Problemlösungskompetenz von Politik und Regierenden. Dem Wunsch nach mehr Bürgerbeteiligung z. B. über „Bürgerräte“ folgen die gewählten Repräsentanten in den Rathäusern teilweise nur halbherzig und zögerlich.

Die aktuellen Umfrage-Ergebnisse der Bertelsmann-Studie belegen zwar das Vertrauen junger Menschen in Deutschland in die Demokratie zu 59% (in anderen EU-Ländern nur zu 50%). Doch weit verbreitet ist das Misstrauen gegenüber der handelnden Politik. Denn jeder zweite junge Erwachsene unter 30 Jahren gab an, der Regierung nicht zu vertrauen und 45% misstrauten auch dem Parlament. Zufällig wurde zeitgleich der Bericht über die steigende Korruption von bestechlichen Amtsträgern veröffentlicht sowie der Lobbyismus-Report von NGOs, wonach fast jeder zweite Abgeordnete im Bundestag und im EU-Parlament durch bezahlte Nebentätigkeiten auffällt. Auch den Medien wird sogar zu 60% misstraut.

Die größten Sorgen bereiten den jungen Staatsbürgern die Menschenrechtsverletzungen und der Klimawandel. Die Bürgerinnen und Bürger befürchten insgesamt eine Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse und eine Verstärkung der Einkommensungleichheit. Geht die Politik auf die Zukunftssorgen der Menschen ein?

Haben die Parteien den Weckruf gehört?

Die aktuellen Umfragen lassen immerhin leichte Verbesserungen der politischen Einschätzungen gegenüber 2022 erkennen. Denn nach den zurückliegenden Umfragen unter allen Altersgruppen befürworteten zwar 80% unsere demokratische Staatsform, aber jeder Zweite ist mit deren Funktionieren im demokratischen Alltag unzufrieden, wie Dr. Unzicker von der Bertelsmann-Stiftung im Rahmen seiner zahlreichen Projekte über den gesellschaftlichen Zusammenhalt ermittelt hatte. Danach vertrauten nur knapp 25 Prozent noch den Regierungen und Parlamenten als Institutionen, den Parteien sogar nur noch 8 Prozent, so seine ernüchternden Forschungsergebnisse.

Hinzu kommt ein weit verbreitetes und begründetes Gefühl der sozialen Ungerechtigkeit, insbesondere bei Bevölkerungsgruppen, die sich politisch benachteiligt sehen und auch faktisch benachteiligt sind. Die soziale Frage steht trotz Alters- und Kinderarmut und Wohnungsnot bei fast keiner Partei mehr obenan, sondern alle fokussieren sich jetzt wie Getriebene auf die Migrationspolitik sowie auf die priorisierte Militär- und Rüstungspolitik.

Die Wahlbeteiligung in Land und Kommunen ist mittlerweile auf knapp über 50 Prozent gesunken. Haben die Parteien, die seit den Großdemonstrationen erstmalig wieder Parteieintritte in nennenswerter Zahl vermelden, den Weckruf inzwischen gehört? Oder warten sie auf den Ruf aus dem Wahlvolk (wie seinerzeit in Spanien und Italien): „Ihr repräsentiert uns nicht!“

Abgrenzung statt Anpassung an Rechtspopulismus

Während sich die Politiker derzeit parteiübergreifend an den zivilgesellschaftlichen Großdemonstrationen beteiligen, haben fast alle etablierten Parteien der Mitte in der Flüchtlings- und Migrationspolitik zugleich erschreckende Annäherungen an rechtspopulistische Positionen vollzogen, so dass die AfD nur unwesentlich an Zuspruch verliert. Auch in Haltern, wo die AfD bei der vorletzten Bundestagswahl noch über 8% erhielt, bereitet sie gerade die Gründung einer Ortsgruppe vor. Und im Bund wie in den ostdeutschen Bundesländern tut sich selbst die CDU schwer mit ihrer Abgrenzung am eigenen rechten Rand sowie bei populistischen Sprüchen und Forderungen sogar in der Mitte und an der Spitze ihrer Partei.

Doch nur eine klare Abgrenzung und Ausgrenzung verhindert den weiteren Zulauf für die Rechtspopulisten - und nicht das Annähern an deren Themen. Bei der letzten Landtagswahl in Bayern hat sich gezeigt, dass die Wähler dann lieber das Original statt statt die Fälschung wählen, denn die Union hatte dort stark an die AfD und die rechtspopulistische Wählergemeinschaft verloren und damit ihr schlechtestes Ergebnis überhaupt erzielt.

Ampelregierung wegen vernachlässigter sozialer Frage in der Kritik

Dabei ist es die soziale Frage und die soziale Ungerechtigkeit, welche die Kritiker der Ampelregierung bei den unteren Einkommensschichten bis hinein in das bürgerliche Milieu aufwühlt: Hier zeige sich laut Bertelsmann-Studie eine neue Konfliktlinie, die stark von sozialen Unterschieden geprägt sei. Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP zahle zu einem ganz großen Teil auf das Konto der AfD ein, nicht bei der Union.

Will man nicht noch mehr Wähler nach Rechtsaußen verlieren, ist eine Kurskorrektur in der Verteilungs- und Sozialpolitik dringend angesagt. Eine solche ist aber in der regierenden Parteienkonstellation nicht in Sicht, weil der kleinste Koalitionspartner den Ton angibt und seine Steuer- und Haushaltspolitik dem Sozialstaatsgebot zuwiderzulaufen droht.

Die Werte einer liberalen Demokratie pflegen und verteidigen

Die Werte einer liberalen Demokratie und eines verfassungsmäßigen Sozialstaates sollten nicht verkauft und verraten, sondern gepflegt und verteidigt werden. Und das Volk als Souverän sollte nicht nur als bloßes Wahlvolk alle 4 Jahre an die Urne gebeten werden, sondern alltäglich in die politischen Diskussions- und Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Das gelingt nur, wenn die Menschenrechte und die Verfassung eingehalten werden - alljährlich wird Deutschland von der UNO und der EU zur Einhaltung von Menschenrechts-Standards z.B. bei der Beseitigung der seit 30 Jahren ungebremst steigenden Kinderarmut oder bei der Korruptionsbekämpfung angehalten.

Vor allem dürfen die individuellen Freiheitsrechte nicht eingeschränkt werden. Zu all dem brauchen wir zur Unterstützung eine wirklich unabhängige und freie Presse- und Medienlandschaft als vierte Gewalt im Staat, die sich nicht mit den Regierenden oder mit der Wirtschaft als Betreiber von Medienkonzernen gemein macht, sondern diese kontrolliert. Doch auch hier liegt manches im Argen.

Wie Dr. Unzicker als Projektleiter der Bertelsmann-Stiftung insgesamt mit seiner Studie feststellt: „Es gibt deutlich weniger Vertrauen in politische Institutionen und einen geringeren gesellschaftlichen Zusammenhalt – an ganz vielen Stellen bröselt es.“

Ohne aktive Zivilgesellschaft kein demokratischer Fortschritt

Die Zivilgesellschaft ist gefordert, die Demokratie nicht nur zu zu verteidigen, sondern weiter zu entwickeln und politische Fortschritte zu erkämpfen und eine politische Streitkultur dabei nicht zu scheuen. Denn es waren in der Geschichte unserer Nachkriegsrepublik niemals die Parteien, Parlamente und Regierungen, die positive Veränderungen im Sinne der Gesellschaft bewirkt haben. Sondern sie haben immer nur reagiert auf Bewegungen aus dem Volk: Ob Umweltbewegung, Klimabewegung, Anti-Atom-Bewegung, Friedensbewegung, Frauenbewegung, Arbeiterbewegung, Gewerkschaftsbewegung als soziale Bewegung, 68-er-Bewegung, Demokratiebewegung, Runde Tische in der DDR usw.

Die Gründung der grünen Partei erwuchs seinerzeit aus der starken Bürgerinitiativen- und Umweltbewegung der 1970-er Jahre sowie aus der Friedensbewegung (und hat sich mittlerweile „beim Marsch durch die Institutionen“ weit davon entfernt). Selten waren es „Staatsmänner“ , die „von oben“ einen politischen Aufbruch bewirkten, wie Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger Willy Brandt mit „mehr Demokratie wagen“ oder Gorbatschow mit „Perestroika und Glasnost“. Doch beide hatten sich von den Bürgerbewegungen inspirieren lassen, wie sie selber bekundeten.

Von der Zuschauerdemokratie zur Mitmach-Demokratie

Wir müssen also herauskommen aus der Zuschauerdemokratie mit dem verengten Blick auf die Politiker und die bloßen Forderungen an „die da oben“ . Vielmehr sollten wir aktiv hinwirken auf eine Mitmach-Demokratie, vielleicht irgendwann sogar mit einer zweiten wirklich repräsentativen Bürgerkammer in einem reformierten Parlament (mit weniger lebenslänglichen„Berufspolitikern“ in einer abgehobenen und privilegierten Subkultur).

Auch die Rückbesinnung auf das demokratische Mehrheitsprinzip ist erforderlich, damit nicht länger eine lobbyhörige Kleinpartei wie die FDP, die von über 90% der Wahlberechtigten nicht gewählt und gewollt war, eine Koalitionsregierung mit permanenter Blockade aller Regierungsvorhaben der Ampel am „Nasenring durch die Manege führt“, wie es ein Gewerkschaftsvorsitzender treffend kritisiert hat. So wird parlamentarische Parteiendemokratie mit ihren parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen ad absurdum geführt, statt die Legislative gegenüber der Exekutive zu stärken und mehr „Sternstunden des Parlaments“ hervorzubringen.

Vieles lässt sich hingegen denken und ändern zur Bereicherung und Weiterentwicklung unserer Mitmach-Demokratie auch außerhalb des ideologisch verfestigten Parteienwesen mit seinen Fraktionszwängen, wenn wir nur wollen und machen. Soziale Phantasie ist gefragt und auch eine Entflechtung statt Verschmelzung von Politik und Wirtschaft. Denn gerade zeigt die EU wieder, wie Lobbyisten das Geschehen bei der EU-Kommission bestimmen bei der abgelehnten Kennzeichnungspflicht für Gentechnik-Produkte in der Landwirtschaft sowie bei der verweigerten Einschränkung des Pestizid-Einsatzes zum Artenschutz und Grundwasserschutz, zum Leidwesen der kommunalen Wasserversorgungs-Unternehmen.

Eine neue Streit- und Debattenkultur mit niveauvollen Diskursen ist gerade auch mit Blick auf die in diesem Jahr bevorstehende Europawahl angesagt. Über das bloße Demonstrieren „pro Demokratie und gegen Rechts“ hinaus sind jetzt weitergehende Aktivitäten eines jeden Einzelnen gefragt, der sich zur rechten Zeit mit anderen zum eigenen politischen Handeln zusammenfindet. Das Vertrauen in die Politik wiederzugewinnen gelingt also nur mit einer gehörigen Portion Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein aller Demokraten.

Wilhelm Neurohr, 07. Februar 2024