Wilhelm Neurohr

Die größte Naturkatastrophe seit Menschengedenken, das heftigste Erdebeben und Seebeben im indischen Ozean mit einer gewaltigen, sintflutartigen Flutwelle in ganz Südasien bescherte der Menschheit in den heiligen Tagen und Nächten vor dem Jahreswechsel nicht nur täglich neue, sechsstellige Zahlen über die unfaßbar vielen Todesopfer, sondern auch eine sich täglich ausweitende Bilderflut in den Medien von den Katastrophenschauplätzen. Das ferne Leid war den Menschen in aller Welt plötzlich ganz nah und eine in dem Umfang noch nie dagewesene Spendenwelle folgte daraufhin der verheerenden Flutwelle mit ihren apokalyptischen Ausmaßen. Es entstand das spontane Gefühl, helfen zu müssen.

Die große Zahl der ebenfalls betroffenen oder vermissten Touristen aus Deutschland und Europa ließ auch ganz persönliche Betroffenheit aufkommen, bis hin zum mitbetroffenen Altbundeskanzler Helmut Kohl als deutscher Urlauber in Sri Lanka. Der amtierende Bundeskanzler Schröder mahnte in seiner Neujahrsansprache die konkrete Verantwortung der Menschen einzelner Länder, Städte, Dörfer durch direkte Patenschaften für den Wiederaufbau einzelner Orte in der Krisenregion an - ein angeregter Akt der Brüderlichkeit in der Menschheitsfamilie. Das ferne Asien wurde so zum gesamtmenschheitlichen, karmischen Katastrophenschauplatz - ein Auslöser für tiefes Mitgefühl mit der Verzweiflung und Hilflosigkeit der Hinterbliebenen der Opfer in ihren völlig zerstörten Küstenlandschaften und Inselwelten mit dem Verwesungsgeruch der vielen Toten, deren Angehörige ohne den Grabeskult auskommen mußten bei deren Gedenken.

Die globale Schicksalsgemeinschaft in ihrer Abhängigkeit von den Naturgewalten - macht die Schuldfrage Sinn?

Das dunkle Ereignis und Schwellenerlebnis enthüllte plötzlich etwas Lichtvolles in einer materialistischen Zeit: Es rüttelte wach, machte betroffen, erweckte Mitgefühl und Mitmenschlichkeit, erzwang Nachdenkliches und Besinnliches und ließ ein Verbundenheits- und Zusammengehörigkeitsgefühl in der voneinander abhängigen globalen Schicksalsgemeinschaft aufkommen, aber auch eine Ahnung von der Beziehung der Menschen zur Naturwelt wie zur Geisteswelt gleichermaßen, von dem Zusammenhang zwischen der Ausbildung von Moralität im Menschen, dem menschlichen Erkenntnisstreben und der Entwicklung der Natur. Die schlimmste Katastrophe belebte auch die Frage nach einem Leben nach dem Tod für diejenigen, deren Erdenleben in den Fluten ausgelöscht wurde. Die Todesopfer haben somit ein wahres Opfer für die Menschheit erbracht, die nach wenigen Wochen hoffentlich nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergeht, wie bei so manchen ausgelassenen Silvesterfeiern wenige Tage nach dem großen Beben mit seinen verheerenden Folgen.

Die Weihnachts- und Neujahrstage wurden so auf dem Höhepunkt oder Tiefpunkt der eskalierenden Globalisierungskonflikte um Verteilungsgerechtigkeit, Ressourcen- und Klimaschutz sowie Frieden und Toleranz zwischen den Völkern, Kulturen und Religionen unverhofft zu Tagen innerer Besinnlichkeit auf den Zusammenhang von Menschheit, Erde, Moral und Naturgewalt, bis hin zu der von der deutschen Presseagentur aufgeworfenen Theodizee-Frage: „Wie kann den Gott so etwas zulassen?“ Denn bei Erdbeben als „rein geologisches Ereignis“ gebe es keine „Schuldigen“, anders als bei Dürre oder Erdrutschen als Folge der von verantwortlichen Menschen verursachten Eingriffe in die Natur. Auch bei Kriegen sind sowieso die Menschen selber für Mord und Tod verantwortlich - aber gibt es auch bei Erdbeben Schuldige und könne hierfür das Konzept der „Erbsünde“ für die schuldhaft gewordenen Menschheit herangezogen werden?

Die Verbindung der Menschen mit der Erde als lebendiges Wesen

Eine Ahnung beschleicht nun die Menschen, daß die Erde vielleicht doch ein lebendiger Organismus, ein lebendiges Wesen ist, das sich aufbäumt, weil es mit dem menschlichen Wesen in enger Verbindung steht? Übersinnliche, spirituelle und religiöse Fragen drängen sich herein: Ist etwas Jenseitiges in das Diesseits des menschlichen Daseins eingedrungen oder haben die Asiaten recht mit ihrer religiösen Auffassung, daß der Dualismus unser Gedankenfehler ist? Die schmerzlichen Ereignisse deuten auf ein Mysterium hin und bedeuten eine Herausforderung. Sollen sich die Menschen nicht auch verbinden mit den inneren Geschehnissen im Inneren der Erde und im Element Wasser? Was haben uns die geologischen Formationen unter dem Indischen Ozean über die Weltentstehung und die Erdenzukunft zu sagen? Erfahren wir nicht einiges Verwertbare über Erdenschöpfung und Menschenentstehung? Was steckte hinter dem geologisch-physischen Ereignis, hinter den zerstörerischen Naturkräften mit den schwerwiegenden Folgen für die Erdenbewohner als geistiges Ereignis und dessen kosmischen Zusammenhängen? Und warum fällt dieses Ereignis auf der südlichen Erdhälfte mit dem Erleben der Todeskräfte genau in diesen Zeitpunkt kurz nach Christi Geburtsfest? Ist die Naturkatastrophe in Südostasien ein bewegendes Menschheitserlebnis zur rechten Zeit?

Die Verdrängung der 100.000 selbst verantworteten Todesopfer Jahr für Jahr

Gibt es einen Zusammenhang der zerstörerischen Kräfte in der menschlichen Gesellschaftsordnung selber, mit denen die Menschen auseinander getrieben werden, zu denjenigen zerstörerischen Kräften der Naturgewalten, welche die Menschen wieder enger zusammenrücken lassen? In einem kurzen Leserbrief in der Tageszeitung verwies jemand auf die vielleicht entscheidende und wesentliche Frage: „In der Tat, ein unermessliches Leid für alle Hinterbliebene in dieser Region. Die Medien übertreffen sich gegenseitig in ihrer Berichterstattung und in ihrer visuellen Dramaturgie. Von dieser Öffentlichkeitsarbeit kann ein vernachlässigter Kontinent wie Afrika, wo täglich Tausende von Menschen verhungern, nur träumen. Eine schizophrene Welt ist das.“

Der Schreck der großen Zahl der über 150.000 oder inzwischen noch mehr Todesopfer innerhalb weniger Tage im Erdbebengebiet von Südasien verdeckt in der Tat den Blick auf die von Menschen verantworteten 100.000 Todesopfer Jahr für Jahr durch Hungersnot und Kriege vor allem auf dem afrikanischen Kontinent, meist völlig unbeachtet von den Medien und der Weltöffentlichkeit, mit einer kaum wirksamen Spendenbereitschaft. Es besteht durchaus die Gefahr, daß die Medienwirksamkeit der gewaltigen Flutkatastrophe in Asien ablenkt von dem notwendigen Blick auf die übrigen, von Menschen verursachten Katastrophenschauplätze auf dieser Erde, die entstanden sind durch die Art und Weise des Wirtschaftens oder des Umgangs mit der Natur und der Geringschätzung von Menschenleben, durch die Interessen der Waffenhändler usw.

Alle Naturereignisse sind nur aus dem Geistigen zu verstehen: Zukunftskräfte aus dem Zerstörerischen

Die von den Medien angekurbelte Spendenwilligkeit in Richtung der zerstörten Touristenzentren von Thailand, Sri Lanka, Südindien u.a. sollte nicht der eigenen Gewissensberuhigung dienen, damit seinen Beitrag geleistet zu haben für das Wohlergehen von Menschen auf dieser Welt. Weltbürgertum fordert weit mehr: die Überwindung der zerstörerischen Kräfte und der Todeskräfte in uns und um uns herum. Was sich im tiefste Inneren der Erde abgespielt hat und an der Oberfläche dann seine zerstörerische Wirkung entfaltete, das spielt sich auch täglich in uns ab und in der Menschengemeinschaft, so daß noch manche Grenzen und Schwellen zu überschreiten sind, bis wir mit den Lebens- und Todeskräften richtig umzugehen wissen. Dabei hilft uns allein die Geisteswissenschaft zum Verständnis der naturwissenschaftlichen Zusammenhänge, denn alles Materielle ist nur aus dem Geistigen zu begreifen: Was sich in Südasien an Bewegung der geologischen Erdmassen mit zerstörerischen Auswirkungen auf der Erdoberfläche abgespielt hat, ist die notwendige Voraussetzung für dasjenige, aus dem neue Früchte für die Erden- und Menschheitsentwicklung entstehen können, wenn wir daraus den Boden für eine geistig geprägte Zukunft aufbereiten, als Voraussetzung wiederum für eine soziale Zukunft.