Wilhelm Neurohr

Am 16. Oktober begingen die Vereinten Nationen den alljährlichen Welternährungstag, der von 852 Millionen unterernährten Menschen eher als Welthungertag erlitten wird. In diesem Jahr haben 6,2 Millionen Hungertote den Tag gar nicht erst überlebt. Die dazu veröffentlichten Expertenberichte der Deutschen Welthungerhilfe und des US-Forschungsinstituts IFPRI (International Food Policy Research Institute) zeigen Visionen auf, wie nötige kleinteilige Maßnahmen in einem größeren Zeitrahmen Abhilfe oder spürbare Verbesserungen schaffen können – sofern politisches Handeln mit Selbstlosigkeit einhergeht. Ohne geistige Nahrung erscheint jedoch eine Bekämpfung der Hungersnöte aussichtslos.

In diesem Jahr ist die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit durch die die Live-8-Konzerte (siehe Goetheanum Nr. 29/30-2005), den G-8-Gipfel und den UN-Weltgipfel (siehe Goetheanum Nr. 39/2005) zwar auf die Probleme der hungernden Menschen vor allem im betroffenen Afrika gerichtet worden. Insbesondere die erschreckenden Berichte über die große Hungersnot und chronische Armut in Niger haben starkes Mitgefühl ausgelöst. Auch die Hungersnot von Millionen Menschen in Malawi und Simbabwe sowie die Dürrekatastrophe in Kenia und weiteren Ländern haben beispielsweise über die Deutsche Welthungerhilfe einige Spenden- und Hilfsaktionen für die Ärmsten der Armen ausgelöst.

Doch die erschreckende Einsicht, dass die Zahl der Hungernden vor allem in Afrika weiter steigt und dass die Politik dagegen offenbar nichts oder zu wenig tut, ist eine Erinnerung daran, dass nachhaltiges politisches Handeln auch Selbstlosigkeit erfordert sowie langfristige Planung mit Visionen. Massive Schuldenerlasse und Lippenbekenntnisse zu einer Verdoppelung der Entwicklungshilfe reichen nicht aus, ebenso nicht die aktuellen Beschlüsse der EU für eine neue Strategie für Afrika als 10-Jahres-Plan, ausgelöst durch die Flüchtlingswelle aus Afrika über Marokko nach Spanien.

Nun ist erstmals die Rede von einem erforderlichen Gesamtkonzept Europas für seinen Umgang mit dem hungernden Nachbarkontinent Afrika, indem gemeinsam die strukturellen Ursachen der illegalen Migration angepackt werden sollen. Doch nehmen die einstigen Kolonialmächte ihre historische Verantwortung für die in Armut und Arbeitslosigkeit versinkenden afrikanischen Staatsgebilde wirklich ernst, indem ihnen nichts anderes einfällt als die Öffnung der Weltmärkte für die afrikanischen Rohstofflieferanten und den Ausbau der dazu erforderlichen Verkehrsinfrastruktur? Eine wahre Partnerschaft zwischen Europa und Afrika kann nicht auf der Ebene überstaatlicher Bürokratien mit teils korrupten und militärisch ausgestatteten Regimen entstehen, denen künftig wieder 50% der Entwicklungshilfe direkt ausgehändigt werden sollen, während bisher 80% der EU-Hilfe sinnvoller Weise in Entwicklungsprojekte geflossen sind.

Medienwirksame Hilfsaktionen zu spät und unzureichend

Die internationalen Hilfswerke beklagen jedenfalls das mangelnde und stets zu späte Engagement der reichen Industrienationen wie auch das Versagen der afrikanischen Staaten und ihrer Regierungen bei ihrer allerersten Verantwortung für ihre Bürgerinnen und Bürger. Meist kommen die internationalen Reaktionen sehr spät, nachdem die passenden Bilder im Fernsehen geliefert wurden und Politiker und Hilfsorganisationen in teuren Hotels absteigen, um sich vor laufenden Fernsehkameras medienwirksam mit unterernährten Kindern fotografieren zu lassen - so beklagen die lokalen Hilfsorganisationen vor Ort, für die das eher eine Belastung ist. „Erst wenn sterbende Kinder auf den TV-Bildschirmen erscheinen, fließt Geld“, ärgert sich der Sprecher des UN-Welternährungsprogramms in Mali, Peter Smerdon. Die auswärtigen Besucher würden an langfristiger Entwicklung wenig Interesse zeigen und auch sei zu wenig Zeit für Planung und großes Nachdenken.

Denn in Wirklichkeit handele es sich nicht um temporäre Nothilfesituationen, sondern um anhaltende chronische Armut und Unterernährung als Dauerzustand. Deshalb wird die Bilanz der Vertreter des UN-Welternährungsprogramms WFP als Schönfärberei empfunden, man habe das Hauptziel der Rettung von Menschenleben erreicht und eine große humanitäre Katastrophe angeblich abgewendet. Der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung, der Schweizer Jean Ziegler, fordert die Weltgemeinschaft auf, „das tägliche Massaker des Hungers“ zu stoppen.

Nach Angaben der UN-Agrarorganisation FAO sind von den weltweit rund 850 Millionen Menschen die meisten davon in Südasien und in Afrika südlich der Sahara betroffen: 73 % der Gesamtbevölkerung in Eritrea, 71% im Kongo, wo der Prozentsatz von 29% auf 71% in den letzten 30 Jahren gestiegen ist, während er in China von 46 auf 11 und in Indonesien von 47 auf 6% gesunken ist. Die Zahl der hungernden Kinder in Afrika südlich der Sahara wird auf 33 Millionen im Jahre 2015 und auf 55 Millionen im Jahre 2025 steigen. 100 Millionen hungernde Kinder und 15 Millionen schwangere oder stillende Mütter sind derzeit ohne jede Hilfe – obwohl ihre Unterstützung nur 5 Mrd. US-Dollar kosten würde – ein Bruchteil der 900 Milliarden Rüstungsausgaben der USA jährlich. Die 6,2 Millionen Hungertoten des noch nicht vollendeten Jahres 2005 klagen an – dabei könnte nach Expertenmeinung mit den richtigen Maßnahmen die Zahl der hungernden Kinder auf 9,4 Millionen sinken statt auf über 50 Millionen zu steigen.

Kampf gegen die Armut als geistiger Kampf gegen die Ideenarmut

Mit der richtigen Politik kann der Kampf gegen den Hunger in Afrika gewonnen werden, als ein Kampf gegen die Ideenarmut. Afrika benötigt in der Weltgemeinschaft ein Ende des Agrarprotektionismus sowie nachhaltige Investitionen in Bildung und ländliche Infrastruktur, in Schulspeisung, in Straßenbau, in Gesundheitssysteme, in Förderung von Kleinbauern mit biologischen Anbaumethoden sowie besseres Wassermanagement. Die Dürrekatastrophe in Somalia und Kenia hat die sich immer schneller drehende Elendsspirale verdeutlicht: Wo kein Wasser, da auch keine Ernte. Die Menschen können nicht weiterhin täglich kilometerlange Wege zurücklegen, um an ungenießbares Wasser zu kommen. Die Welthungerhilfe baut deshalb Wassertanks, Flachbrunnen, Dämme und Leitungen und nutzt Hausdächer und Felsenflächen als Wasserfang – kleines Geld mit großer Wirkung, denn ein solches Projekt kostet nur 13.000 Euro. In Zusammenarbeit mit lokalen Initiativen werden so Anreize für Eigeninitiative gegeben und Nahrungsmittel für Arbeit.

Der Gesamtinvestitionsbedarf für die nächsten 20 Jahre in diesen Ländern beträgt für solche wirksamen Maßnahmen rund 300 Mrd. Dollar – soviel wie die USA problemlos in ihren Hurrikan-Krisengebieten mobilisiert hat. Die EU will ihre Afrika-Hilfe ohnehin von 17 auf 23 Mrd. Dollar jährlich aufstocken für den Infrastrukturausbau. Das eingangs erwähnte US-Forschungsinstitut IFPRI macht sich allerdings auch zum Wegbereiter von Interessenpolitik: Eine Vielzahl lobenswerter Expertenvorschläge in die richtige Richtung werden entwertet durch zweifelhafte Vorschläge für verstärkten Düngemitteleinsatz in der afrikanischen Landwirtschaft, für leistungsfähigeres Saatgut und produktivere Anbaumethoden – daraus sprechen offenkundig die Lobby-Interessen der weltweiten Saatgutmonopolisten und Verfechter industrialisierter und gentechnisch gesteuerter Landwirtschaft, mit denen Afrika auf Dauer in Abhängigkeit gebracht werden soll. Unter den Visionären gibt es also auch falsche Berater.

Ein Visionär, auf den man hören sollte, nämlich Rudolf Steiner, hat uns verdeutlicht (GA 337a), dass zunächst im Kulturellen der Hunger und Durst nach seelischer und geistiger Nahrung gestillt werden muss, bevor eine durchgeistigte Erde gesunde Nahrung hervorbringt, die alle Menschen ernährt. Nur die soziale Dreigliederung könne das Vertrauen, die Organisation und die Arbeit hervorbringen, dass die Hungersnot verhindert werden kann. Der 100-jährige anthroposophische Sozialimpuls ist also der endlich ernst zu nehmende Auftrag und Schlüssel der anthroposophischen Bewegung und der Menschheit, sich von der Geißel des Hungers und der Armut selber zu befreien – vorausgesetzt, wir überwinden als Europäer und als Weltbürger in der Weltwirtschaftsgemeinschaft unseren eigenen geistigen Ernährungsmangel und unsere soziale Ideenarmut. Das könnte die Botschaft zum diesjährigen Welternährungstag sein.