Wilhelm Neurohr

Beitrag für den Rundbrief Sozialimpulse 1/2015

Deutschland als Retter Griechenlands?

Öffentliche Lügen, Halbwahrheiten und Verschleierungen

Die deutschen Medien haben sich in ihrer Mehrzahl mit ihrer einseitigen Berichterstattung und hämischen bis arroganten Kommentaren während des Verhandlungspokers zwischen den EU-Finanzministern und den angeblich „linksradikalen“ Regierungsvertretern Griechenlands wahrlich „nicht mit Ruhm bekleckert“: In dem fast durchgängigen Griechenland-Bashing (ohne wirkliche Sachkenntnis) haben sich selbst als seriös geltende Leit-Medien von der Stammtisch-Kampagne der BILD-Zeitung, die vom Presserat gerügt wurde, trotz wohlfeiler Wortwahl inhaltlich und tendenziell kaum abgehoben. Der stets mit Empörung zurückgewiesene Vorwurf von angeblich „gleichgeschalteten Medien“ bekam wieder neue Nahrung mit dem einheitlichen Zerrbild einer jungen griechischen Protestregierung, die angeblich ganz Europa brüskiere und ihre „deutschen Helfer beschimpfe“.

Hat der deutsche Steuerzahler tatsächlich die „undankbaren Griechen“ gerettet, wie es jahrelang als Bild in den Medien, aber auch durch unsere Regierung vermittelt wurde? In Wirklichkeit hat Deutschland von den Krediten profitiert und will deshalb Griechenland zwingen, weitere Kredite anzunehmen (mit dem Effekt einer „Konkursverschleppung“) mitsamt Zwang zu noch mehr Austerität, während die Griechen dies ablehnen wegen der nicht leistbaren Rückzahlung, aber fälschlich in den Medien der „Bettelei“ bezichtigt werden. (Dann dürfen sich die Medienschaffenden nicht wundern, wenn aus der rechtspopulistischen Ecke der hässliche Pauschalvorwurf der „Lügenpresse“ ertönt…).

Viele der von den deutschen Medien aufgestellten falschen Behauptungen und Vorurteile sogleich nach der ersten Verhandlungsrunde über die Verlängerung des Hilfsprogramms hielten einem Faktencheck überhaupt nicht stand und stimmen mit den tatsächlichen Inhalten des angeblich „substanzlosen“ Briefes aus Griechenland überhaupt nicht überein, der von den Presseagenturen unter Weglassung von Passagen und Begriffen zitiert wurde. Weder stimmte die von den Medien gegenseitig übernommenen Behauptung, Griechenland wolle sich einer Kontrolle der Kreditverwendung entziehen noch stimmte die polemische Aussage, Griechenland wolle zurück zum alten System des Lebens auf Pump, auf Kosten des deutschen Steuerzahlers. (Umgerechnet auf die Bevölkerungszahl haben andere EU-Länder übrigens weitaus mehr bezahlt für die „Rettung Griechenlands“).

Bei alledem wurde so getan, als habe die griechische Bevölkerung - und nicht die bisherige korrupte politische und wirtschaftliche Kaste in Griechenland - „über ihre Verhältnisse gelebt“. Selbst deutsche Firmen wie Siemens haben von deren Korruption in Griechenland gut profitiert. Derweil mussten die griechischen Arbeitnehmer – unpassend zum Klischee-Bild der Südeuropäer - mehr arbeiten für weniger Geld. In Wirklichkeit ist die Kreditvergabe an Griechenland für die deutschen Steuerzahler ein gutes Geschäft. Bis 2016 kommen allein 12,7 Mrd. € an Zinsgewinnen für die EZB zusammen, von deren Ausschüttung Deutschland in hohem Maße profitieren wird. Zudem profitiert Deutschland auch direkt von der Krise wegen der anhaltenden Niedrigzinspolitik, wie wenigstens die Süddeutsche Zeitung in einem Beitrag am 21.08.2012 darlegte.

Die ungewollte „Rettung“, die keine war…

Wollte das griechische Volk überhaupt die vermeintliche „Rettung“ durch Deutschland und die EU? Der griechische Finanzminister Varoufakis hatte wiederholt erklärt, Griechenland wolle keine neuen „Hilfsgelder“, sondern stattdessen Umschuldung und Wachstums-Reformen. Hierbei bekam er Unterstützung von führenden Ökonomen in aller Welt. Und selbst US-Präsident Obama sprang Griechenland zur Seite mit der Aussage, dass Länder nicht immer weiter ausgequetscht werden können, die sich in der Depression befinden. Doch die seriösen Bemühungen der neuen griechischen Regierung wurden in den Medien unisono als eine Art „Trickserei“ abgetan, so als ob Griechenland um mehr Hilfsgelder und Kredite bettele, aber sich im Gegenzug um die „notwendigen Reformen“ drücken wolle – die ihr Ziel klar verfehlt und die Bevölkerung ins Elend gestürzt haben. Längst vergessen sind die selbstkritischen Eingeständnisse des IWF von Juni 2013 (von denen sich die EU-Kommission bezeichnenderweise distanziert hat), mit denen die eigenen Reformauflagen im Griechenland-Paket mit den „zu harten Sparmaßnahmen“ als Fehler eingestanden wurden und man die Schäden für die griechische Wirtschaft unterschätzt habe, insbesondere den Anstieg der Arbeitslosigkeit (die heute bei fast 27% liegt und die Jugendarbeitslosigkeit um 50%). Seit 2008 ist die gesamtwirtschaftliche Produktion um knapp ein Viertel von 233,2 Mrd. € in 2008 auf 181,9 Mrd. € in 2014 zurückgefallen.

Schon in Vergessenheit geraten ist auch die Absicht der griechischen Vorgängerregierung in 2011 unmittelbar nach Ausbruch der Krise, eine demokratische Volksabstimmung über das Rettungspaket durchzuführen. Dies hatte bekanntlich die deutsche Kanzlerin nach intensiven Gesprächen mit dem damaligen Regierungschef Papandreou ausgeredet und verhindert. Tatsächlich floss der Großteil der europäischen Steuermilliarden an Banken und Hedgefonds zu einem erheblichen Teil an deutsche und französische Großbanken zu deren Rettung (ohne Haftung ihrer Eigentümer). Die dadurch entstandenen griechischen Verbindlichkeiten lasten nun auf den europäischen Steuerzahlern anstatt auf den Verursachern der Finanzkrise. Private Bankenschulden wurden zu öffentlichen Staatsschulden umgebucht.

Laut einer Studie von Attac Österreich sind von den insgesamt 207 Mrd. € geflossenen Hilfsgeldern (von EU-Staaten, ihren Rettungsschirmen und dem IWF) an Griechenland fast 170 Mrd. € (77% der Kredite) direkt oder indirekt beim Finanzsektor gelandet, davon 58,2 Mrd. € (28,1%) für die Rekapitalisierung griechischer Banken, weitere 101,3 Mrd. € (49%) kamen den Gläubigern des griechischer Staates zugute. Abermilliarden pumpt man in die maroden alten Privatbanken, statt ein zukunftsweisendes öffentlich-rechtliches Bankensystem in Griechenland aufzubauen, da der griechische Bankensektor de facto pleite ist. Nur max. 46,6 Mrd. € (22,5%) flossen in den griechischen Haushalt, demgegenüber 45,9 Mrd. € direkt in die Taschen der Altgläubiger Griechenlands. Ein Großteil der Kredite fließt direkt in die Tilgung bereits bestehender Kredite. (Andere Zahlen sprechen von nur 27 Mrd. € für den laufenden Staatshaushalt gegenüber mehr als 200 Mrd. € für Zinszahlungen und Altschuldentilgung).

Der Begriff der „Rettung Griechenlands“ ist überhaupt in diesem Zusammenhang unzutreffend und paradox, da nicht etwa für den Erhalt des Wirtschafts- und Währungsraumes Europas die griechische Wirtschaft unterstützt wurde, sondern der Staatsapparat solange über Wasser gehalten wurde, bis eine Ausweitung auf andere Krisenländer gebändigt war. Seit der Existenz der EU hat kein Land mehr gespart und reformiert als Griechenland in den letzten Jahren. Und Griechenland erwirtschaftet als Ergebnis unvorstellbarer Opfer einen Haushaltsüberschuss in Milliardenhöhe (vor Schuldendienst, also einen Primärüberschuss bei der Differenz zwischen Staatseinnahmen und Staatsausgaben ohne Berücksichtigung der Schuldzinsen). Deshalb hilft nur ein Schuldenschnitt oder ein (zumindest teilweiser) Schuldenerlass, wenn dem Land geholfen werden soll – doch Deutschland möchte das Unvermeidliche solange wie möglich hinauszögern (auch mit sorgenvollem Blick auf Portugal und Spanien sowie Italien). Es geht Deutschland bzw. der deutschen Regierung also in Wirklichkeit um die Verhinderung eines Richtungs- und Politikwechsels in Europa mit allen Mitteln, unter Inkaufnahme der stattdessen erstarkenden rechtsradikalen und nationalen Kräfte in Europa.

Das Zerrbild über die neue griechische Regierung

Der vielfach nun erhobene mediale Vorwurf „Frechheit siegt“ gegen das Auftreten der neuen griechischen Regierung trifft deshalb eher auf den unnachgiebigen neoliberalen Hardliner Schäuble mit seinem brandgefährlichen Verhandlungskurs („alles oder nichts“) zu als auf die erfrischend auftretenden Reformer aus Griechenland, die sich übrigens aufgeschlossen zeigten gegenüber EU-Kompromissvorschlägen. In Wirklichkeit hatte Griechenland höchst kompromissbereit einem Verhandlungstext des EU-Finanzkommissars zugestimmt, der aber von Schäuble und dem Niederländer Dijsselbloem im letzten Moment gegen eine andere Version mit dem unflexiblen alten Sanierungsprogramm ausgetauscht wurde, die dann von Griechenland verständlicherweise abgelehnt wurde. Nach Verhandlungsabschluss dominierte in den Medien der hämische Triumph über die „Niederlage“ oder „Kapitulation“ der griechischen Reformer und den „Erfolg“ der unnachgiebigen Verhandlungsführung des deutschen Finanzministers, obwohl Griechenland dem übrigen Europa damit einen großen Gefallen getan hat.

Ganz anders war und ist die Sichtweise der Medien in allen anderen europäischen Ländern. Dort wird anerkannt, dass seit der Existenz der EU kein anderes EU-Land mehr gespart und reformiert hat als Griechenland in den letzten Jahren. Der (neoliberal verblendete) deutsche Blick auf Griechenland erschien vor, während und nach den Verhandlungstagen einzigartig in Europa. Mit gezielt ausgewählten „Kampfbegriffen“ wurden Fakten regelrecht verschwiegen, verzerrt oder unterschlagen, um das Weiterführen der gescheiterten Sparpolitik zu legitimieren. Eigentlich ist nicht Griechenland „bankrott“, sondern wir erleben mit Blick auf die betroffenen Menschen vielmehr eine Bankrotterklärung der neoliberalen Ideologie mit ihrer verheerenden Austeritätspolitik. Über die prekäre, menschenrechtswidrige humanitäre Situation Griechenlands und seiner Bevölkerung sind verzerrte Bilder vorherrschend, die den Verstoß gegen die Menschenrechte und die EU-Grundrechtecharta verschleiern sollen. Das dort verankerte Recht auf Arbeit, Gesundheit und ein Leben in Würde wird mit Füßen getreten - übrigens auch in Deutschland, wie die aktuellen Berichte über die gebietsweise auf 25% gestiegenen Armutsquote im reichsten EU-Land Deutschland belegen als Folge der verheerenden Agenda 2010.

Deutschland ist wahrlich kein Vorbild für Griechenland

Deutschland ist somit wahrlich kein Vorbild für Griechenland, und seine Forderungen nach Steuererhebungen bei den Reichen in Griechenland mutieren zur Heuchelei wenn gleichzeitig eine gerechte Besteuerung der Reichen in Deutschland und im Rest-Europa hartnäckig unterbleibt, sondern die Luxemburger Steuerschlupflöcher nicht einmal in einem richtigen Untersuchungsausschuss ans Tageslicht gebracht werden dürfen. Korruption und Vetternwirtschaft nur in Griechenland? Und trotz „schwarzer Null“ und gebremster Neuverschuldung wachsen die Schulden in Deutschland und in anderen EU-Ländern ins Unermessliche: Die deutsche Staatsverschuldung beträgt über 2 Bio. € (ohne die noch höheren Verbindlichkeiten von Ländern und Gemeinden insgesamt).

Keine Troika zwingt jedoch Deutschland, seine Schulden endlich zurückzuzahlen und ähnliche Sparprogramme wie Griechenland aufzulegen, weil dann die ganze Wirtschaft in Europa einbrechen würde. Deutschland und alle anderen EU-Länder sowie die USA werden nie ihre (Alt-)Schulden begleichen, weil das gegenwärtige System kollabieren würde. Denn Schulden sind die Kehrseite der Geldvermögen. Wer Schulden tilgt, muss Vermögen vernichten und Geld aus dem Wirtschaftskreislauf entfernen. Es besteht also in Deutschland kein Grund für Arroganz oder erhobene Zeigefinger. An den Schuldennachlass für Deutschland 1953 nach dem Krieg durch das Londoner Abkommen hatte die griechische Regierung Deutschland wiederholt erinnert, auch wenn es der deutsche Finanzminister nicht hören wollte. Hingegen sind die Forderung nach einer alternativen, sozial und ökonomisch verantwortli­chen Politik mit unkonventionellen Mitteln vor allem gegen die soziale Armut und Ausgrenzung die Kernanliegen des griechischen Aufstands gegen die Diktate der Geld­geber, die zur ökonomischen Verwüstung Griechenlands geführt haben. Es stellt sich die Frage: Wer regiert eigentlich Europa?

Die IWF-Politik als wahre Ursachen der menschlichen Verelendung

Der Schweizer Soziologe und Politiker Jean Ziegler, Globalisierungskritiker und ehemaliger UN-Sonderberichterstatter, hat in seinen diversen Veröffentlichungen immer wieder auf die wahren Ursachen der Verelendung des menschlichen Daseins hingewiesen, wie wir es aktuell auch in Griechenland und in anderen südeuropäischen Ländern, aber auch in den reicheren Ländern (und vor allem weltweit in den Entwicklungsländern mit ihrer absoluten Armut) erleben. Er macht dafür das internationale Finanzkapital und den IWF als dessen wirksamstes Durchsetzungsinstrument hauptsächlich verantwortlich. Viele Regierungen und ihre Länder sind bei den internationalen Banken so hoch verschuldet, dass sie trotz Sparmaßnahmen und hoher Steuern den Zins- und Tilgungsdienst nicht mehr leisten können und dann der IWF als Kreditgeber und letzte Instanz zur Seite ist. Seine Kredite helfen aber nicht dem Land, sondern den Kreditgebern, zu dessen Gunsten tiefgehende Einsparungs-Diktate erlassen werden im Gesundheits- und Bildungsbereich, für die unbegrenzte Öffnung des Marktes für ausländische Investoren und Waren, zur Ausrichtung des Exportes auf einzelne gut zu vermarktende Güter, für die Privatisierung von öffentlichen Staatsbetrieben und Staatseigentümern. Mit der Abhängigkeit wesentlicher Regierungsmaßnahmen von der Zustimmung des IWF geht der Verlust der Souveränität sowie Not und Elend ungeahnten Ausmaßes für die Bevölkerung einher sowie dagegen hohe Profite für die internationalen Investoren.

Jan Ziegler bringt es radikal auf den Punkt: „Die Herren des Wirtschaftskrieges plündern systematisch den Planeten. Sie attackieren die normative Macht der Staaten, sie zerstören die Volkssouveränität, untergraben die Demokratie, verheeren die Natur und vernichten die Menschen und deren Freiheit.“ Er bezeichnet diese Praxis als strukturelle Gewalt: „Man braucht keine Maschinengewehre, kein Napalm, keine Panzer, um die Völker zu unterwerfen und unters Joch zu zwingen. Dafür sorgt heute ganz allein die Verschuldung. (…) Die subtile Gewalt der Verschuldung ist an die Stelle der sichtbaren Brutalität der Kolonialherren getreten.“ [1]Mit der herbeigeführten Zahlungsunfähigkeit werden politische und wirtschaftliche Einflusszonen geopolitisch gesichert. Dies wird umso deutlicher, wenn man die Zahlen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung heranzieht, wonach die Auslandsschulden der 122 Staaten der südlichen Hemisphäre seit 2005 von über 2,1 Bio. Dollar auf über 4 Bio. Dollar in 2014 angestiegen sind. Der wachsende Schuldendienst verschlingt den größten Teil der Ressourcen der verschuldeten und verarmten Länder. Für soziale Investitionen in Schulen, Krankenhäuser, Sozialversicherungen bleibt nichts mehr übrig.

Zu den darüber “Empörten” kommen nun die “Bestürzten”: Das Manifest bestürzter Ökonomen ist in Frankreich inzwischen zum Bestseller geworden. Mit den Turbulenzen an den Finanzmärkten, in die immer stärker auch Frankreich hineingezogen wird, ist auch ein kleines Büchlein beim Nachbarn zum Bestseller geworden. Im “Manifeste d’économistes atterrés” machen “bestürzte Wirtschaftswissenschaftler” die Macht der Finanzmärkte und den Neoliberalismus für die Entwicklungen an den Finanzmärkten verantwortlich. Sie weisen darauf hin, dass hier lediglich Glaubenssätze als scheinbare wissenschaftliche Erkenntnisse verkauft werden. Sie sprechen von einer “Unterordnung unter eine Diktatur” die zur “Beruhigung der Märkte” dienen soll und räumen mit 10 falschen “offenkundigen Tatsachen” auf. Sie fordern eine Kontrolle der Finanzmärkte, um eine sozial gerechte Entwicklung zu ermöglichen.

Neuordnung des Geldwesens, des Finanzsektors und Bankenwesens

Sollte nicht vor diesem Hintergrund die Schuldenkrise Griechenlands (als Folge der vorausgegangenen Finanz- und Bankenkrise) endlich zum Anlass genommen werden, nachhaltig über ein Neuordnung des Geldwesens, des Finanzsektors und des Bankwesens nachzudenken sowie über eine veränderte Finanzierung der öffentlichen Haushalte in Verbindung mit einer wieder am Wohl der Menschen orientierten Wirtschaftsform? Doch der Weckruf der Griechenland-Krise, die eine Krise des gesamten Systems ist, wird wohl erst gehört, wenn auch in den anderen südeuropäischen Ländern sich Verbündete demnächst finden, die den veränderten Kurs der neuen griechischen Regierung stützen und die EU zu einem innovativen Kurswechsel zwingen. Denn schon lange ruft dort die erzürnte Bürgerbewegung ihren Regierenden (als politische Handlanger der Finanzeliten) zu: „Ihr repräsentiert uns nicht“.

Von der Abkehr von der verhängnisvollen Austeritätspolitik angesichts des neoliberalen Scherbenhaufens hängt auch die wirtschaftliche und demokratische Zukunft der EU und ganz Europas ab, mit weltweiter Ausstrahlung. Zuvor müssen die Medien zur Wahrheit und Unabhängigkeit zurückfinden, denn die konzertierte wahrheitsverzerrende Berichterstattung zu Griechenland darf sich so nicht wiederholen als Missbrauch der Pressefreiheit, die zur Wahrheit verpflichtet. Es bedarf jetzt aufgeklärter statt desinformierter Menschen, die eine Wende in der europäischen Krisenpolitik als Gegenbewegung zur neoliberalen Austeritätspolitik mittragen, wie sie von der neuen Politik Griechenlands ausgeht, um wirklicher Solidarität sowie Demokratie und Menschenrechten wieder eine Chance zu geben. Dazu ist die unheilvolle (auch personelle) Verflechtung zwischen Politik und Finanzwelt aufzudecken und zu unterbinden. Doch diese Wahrheit fürchten einige Profiteure in der EU am meisten. Die Fortführung des Bisherigen wird das Modell der EU nach 6 Jahrzehnten vermutlich zu Fall bringen. Stattdessen zu einer Kursänderung zugunsten einer Politik und Wirtschaft für das Wohlergehen der Menschen maßgeblich beizutragen, würde Deutschland tatsächlich zum Retter nicht nur Griechenlands machen.

Wilhelm Neurohr

Die Fakten zur aktuellen Situation Griechenlands:

Warum ist die Verlängerung des Hilfspaketes für Griechenland so wichtig?

Die Verlängerung ist Voraussetzung dafür, dass die letzte Tranche des Hilfsprogramms fließen kann. Sonst droht Griechenland die Zahlungsunfähigkeit.

Welche Hilfsgelder stehen Griechenland noch zur Verfügung?

  • 1,8 Milliarden Euro sind aus dem laufenden EFSF-Kreditprogramm für Griechenland noch nicht ausgezahlt. Es ist die letzte Tranche der Europäer aus dem zweiten Rettungspaket für Griechenland.
  • 1,9 Milliarden Euro sind Gewinne aus dem Aufkauf griechischer Staatsanleihen der EZB. Der Kurs der Anleihen war nach dem Kauf durch die EZB gestiegen. Diese Gewinne reicht die EZB an die nationalen Zentralbanken weiter und die Euro-Staaten an die Athener Regierung.
  • 10,9 Milliarden Euro stehen im EFSF-Kreditprogramm noch ungenutzt bereit, falls griechische Banken in Liquiditätsengpässe kommen. Dieser Betrag ist also zweckgebunden, kann nur auf Antrag der EU-Bankenaufsicht und der EZB in Anspruch genommen werden und steht dem griechischen Staat nicht zum Flicken von Haushaltslöchern zur Verfügung.

Unabhängig davon und unberührt von der Entscheidung im Bundestag stellt der Internationale Währungsfonds (IWF) Griechenland im Jahr 2015 Kredite in Höhe von maximal 7,1 Milliarden Euro zur Verfügung. Auch dieses Geld kommt aus dem zweiten Hilfspaket und ist an die Bedingung der Umsetzung der Reformen gebunden.

Wie sieht der neue Zeitplan aus?

EU, EZB und IWF werden das Geld erst auszahlen, bis Griechenland die Reformen glaubhaft auf den Weg gebracht hat. Dafür bekommt die griechische Regierung nun bis Juni Zeit.

Warum braucht Griechenland noch mehr Zeit?

Die Schuldenlast Griechenlands hat sich trotz der Hilfspakete und Reformen erhöht, weil die Wirtschaftsleistung drastisch geschrumpft ist. Die soziale Lage ist dramatisch. Griechenland braucht Spielraum für Investitionen und für soziale Maßnahmen gegen Armut und Arbeitslosigkeit. Wenn Griechenland die Schulden zurückzahlen soll, muss es dort wirtschaftlich bergauf gehen.

Kündigt die neue griechische Regierung alle bisherigen Vereinbarungen auf?

Nein. Griechenland hat sich verpflichtet, alle Zahlungsverpflichtungen gegenüber seinen Gläubigern einzuhalten und die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen und Stabilität des Finanzsektors sicherzustellen. Athen wird die Bedingungen des Programms erfüllen und mit den Institutionen (früher Troika) zusammenarbeiten. Der bestehende Spielraum im Programm wird genutzt, um die Beförderung der wirtschaftlichen Erholung und Maßnahmen gegen die soziale Krise einzuleiten. Das ist im Interesse aller. Nur ein erfolgreiches Griechenland ist in der Lage, Kredite zurückzuzahlen.

Welche Reformen will die griechische Regierung angehen?

  • Unter anderem ist geplant: Abschaffung von Begünstigungen für Minister und Abgeordnete;
  • Stärkung der Unabhängigkeit der Steuerverwaltung und ihrer Ermittlungs- und Verfolgungskompetenzen;
  • Bekämpfung von Korruption durch transparente Ausschreibungsverfahren;
  • Abbau von Bürokratie und Effizienzsteigerung der Verwaltung;
  • Reform der Parteienfinanzierung;
  • Reduzierung von Frühverrentungen

Ist ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone nicht die bessere Alternative?

Nein. Ein Grexit wäre nicht nur für Griechenland und die Eurozone wirtschaftlich verheerend, sondern auch das Ende des europäischen Projekts. Nationale Nabelschau, chauvinistische Parolen und parteipolitisches Kalkül zersetzten die europäische Idee. Ganz praktisch bedeutet ein Grexit nämlich, dass Griechenland nicht nur aus dem Euro sondern auch aus der EU austreten muss.

Was kostet die Griechenlandhilfe die deutschen Steuerzahler?

Tatsächlich sind bisher keine deutschen Steuergelder nach Griechenland geflossen, sondern lediglich bilaterale Kredite und Garantien vergeben worden. Die bilateralen Kredite brachten Deutschland von 2010 bis 2014 Zinseinnahmen von insgesamt rund 360 Mio. Euro. Die Krise hat auch unerwünschte, aber sehr positive Nebenwirkungen für Deutschland: Aufgrund des niedrigen Zinsniveaus für deutsche Staatsanleihen hat der Bund zwischen 2010 und 2014 rund 41 Milliarden eingespart.

Welche Rettungsschirme gibt es?

Als Hilfe für in Zahlungsschwierigkeiten geratene Mitgliedstaaten spannte die EU ab Mai 2010 zunächst einen befristeten Euro-Schutzschirm auf. Er setzte sich zusammen aus dem Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) und der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF). Mit dem Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) haben die Eurostaaten eine Institution als dauerhaften Schutz- und Nothilfemechanismus geschaffen.

Um welche Summen ging es beim EFSF?

EFSF: 203 Mrd. Euro Kredite für Irland, Portugal, Griechenland.

In Anspruch genommen: Griechenland 142 von 144, 6 Mrd.; Portugal: 26 Mrd.; Irland: 17,7 Mrd.

Um welche Summen geht es beim dauerhaften ESM?

Der ESM verfügt über ca. 705 Milliarden Euro Stammkapital. Der deutsche Finanzierungsanteil beträgt entsprechend dem EZB-Schlüssel rund 27 Prozent. (Rund 21,7 Milliarden Euro eingezahlt, rund 168,3 Milliarden Euro abrufbar).

Wieviel Hilfen hat Griechenland bislang bekommen?

Griechenland hat bislang rund 230 Milliarden Euro von den internationalen Geldgebern bekommen. Davon entfallen rund 193 Milliarden auf europäische Geldgeber, der Rest wird vom IWF geschultert (im Rahmen seiner Satzung ebenfalls mit europäischer Beteiligung).

Wofür ist dieses Geld verwendet worden?

Nur 27 Milliarden der Kredite sind für laufende Staatsausgaben verwendet worden (Pensionen, Verwaltung, Schulen etc.). Der Rest (mehr als 200 Milliarden) wurde für Zinszahlungen und Tilgung von Altschulden sowie zur Rekapitalisierung der griechischen Banken verwendet.

Was ist mit einem dritten Hilfspaket und/oder einem weiteren Schuldenschnitt?

Ausschließen kann das niemand. Unmittelbar hat die griechische Regierung keine Liquiditätsprobleme. Aber schon im Sommer muss Athen Milliarden-Kredite an die EZB und den IWF zurückzahlen. Dann könnte sich die Frage nach weiteren Hilfen stellen. Spekuliert wird schon länger über Beträge von 20 Milliarden Euro. Auch Schuldenerleichterungen müssen geprüft werden. Eine Rückzahlung des Großteils der Kredite ist unter Umständen nur so möglich.

Wie hoch ist Griechenlands Schuldenberg?

Der öffentliche Schuldenstand Griechenlands ist zuletzt leicht um 2 Milliarden auf 315 Milliarden Euro gesunken. Aufgrund der schrumpfenden Wirtschaft ist der Schuldenstand in Relation zur Wirtschaftsleistung aber mit 176 Prozent weiter auf Rekordniveau. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt sollen die Schulden auf 112 Prozent im Jahr 2022 verringert werden.

Quelle: http://tabea-roessner.de/2015/02/27/fragen-und-antworten-zur-griechenland-abstimmung/


[1] https://fassadenkratzer.wordpress.com/2015/03/03/der-welthunger-produkt-kapitalistischer-ausbeutung/