Wilhelm Neurohr

Die angekündigten „grundlegenden Reformen“ der EU in ihrem 50. Jubiläumsjahr erweisen sich nach dem letzten EU-Gipfel unter deutscher Ratspräsidentschaft eher als „faule Kompromisse“ denn als gepriesene „Wiederbelebung Europas“. Entgegen den allseitigen Lobeshymnen auf die deutsche EU-Ratspräsidentin Angela Merkel, die durch den portugiesischen Ministerpräsidenten José Sócrates abgelöst wurde, ist die Zukunft Europas ungewisser denn je und noch weiter von den Bürgerinnen und Bürgern entfernt als zuvor. Sie müssen sich im europäischen Verfassungsprozess vor den Kopf gestoßen fühlen und deshalb ihr Schicksal selber in die Hand nehmen, statt auf die abgehobene Europa-Politik der Staatschefs zu starren.

Europa ist in keiner guten Verfassung. Der viel beschworene „Geist Europas“ blieb auf der Strecke, denn die Frage, ob wir ein kulturelles oder kommerzielles Europa wollen, wurde gar nicht erst gestellt. Unbeantwortet bleibt die Frage: „Wer und was ist Europa und wohin will es?“ Der problematische und umstrittene Verfassungsentwurf „von oben“, der mehrheitlich von den Bürgerinnen und Bürgern in Frankreich und den Niederlanden 2005 abgelehnt wurde (und Umfragen zufolge auch in Deutschland keine Mehrheit bei den Menschen fände) und somit juristisch nicht umgesetzt werden konnte, sollte nach dem Willen Merkels und der meisten Staats- und Regierungschefs dennoch mit möglichst unveränderten Inhalten schnellstmöglich „durchgeboxt“ werden - und sei es mit einem „juristischen Kunstgriff“ durch Umwandlung in einen bloßen „Verfassungsvertrag“ unter Beibehaltung der strittigen Inhalte. Denn eine neue kritische Verfassungsdiskussion von unten im bevorstehenden Europawahljahr 2009 scheuten die 27 Staats- und Regierungschefs wie der „Teufel das Weihwasser“ – würde doch das neoliberale und militärpolitische Fundament des „neuen Europa“ mit seinen Demokratiedefiziten und dem mangelnden Subsidiaritätsprinzip transparent und der massive Einfluss der Wirtschafts- und Rüstungslobbyisten allzu offenbar.

Verschleierung statt Transparenz: Europa in keiner guten Verfassung

Doch Transparenz ist in der EU-Verschleierungsdiplomatie und bei den Heerscharen von Lobbyisten in Brüssel am wenigsten genehm. Dazu gehört es auch, die Europäische Union mit Europa einfach gleichzusetzen und im Unklaren zu lassen, ob denn nun Europa eine bloße Freihandelszone werden soll, ein föderalistisches Staatengebilde oder ein eigener (demokratischer oder zentralistischer?) Superstaat als allzuständiger Einheitsstaat mit weitreichenden Kompetenzen - trotz ungeklärter demokratischer Legitimationen und eines schwachen Europaparlamentes ohne volle legislative Parlamentsfunktion. Vor diesem ungeklärten Hintergrund sind die machtpolitischen Streitereien mit Geschacher und Erpressung auf dem letzten EU-Gipfel um die künftigen Beschluss- und Abstimmungsverfahren und die Einflüsse der Nationalstaaten mit ihren Egoismen erklärbar. Auch wurde aus dem EU-Vertrag so ziemlich alles gestrichen, was den Anschein eines föderalen Europas erweckt und alles betont, was eine europäische Freihandelszone stärkt.

Herausgekommen ist statt einer akzeptablen überarbeiteten EU-Verfassung (mit europaweiter Bürgerbeteiligung) ein bloßes Mandat für einen noch zu formulierenden Verfassungsvertrag, der keine bestehenden Verträge ersetzt. Dieser soll bereits auf der EU-Regierungskonferenz im Juli beraten und auf dem nächsten EU-Gipfel im Oktober verabschiedet werden. Die EU-Gipfelbeschlüsse müssen also erst noch in rechtlich bindendes Vertragswerk umformuliert werden. Für diesen Fahrplan hat das Europaparlament bereits am 11. Juli auch inhaltlich „grünes Licht“ gegeben und damit als demokratisch gewähltes Parlament den Willen der europäischen Bürger missachtet.

Der frühere portugiesische Präsident, der Sozialist Mário Soares, befürchtet nun ein vollkommenes Durcheinander: „Das Europa, das wir jetzt haben, weiß nicht was es ist und was es will.“ Einigkeit besteht weiterhin lediglich darin, die so genannte „Lissabon-Strategie“ weiter zu verfolgen, wonach Europa der mächtigsten und einflussreichste Binnenmarkt der Welt werden möchte im Zuge der (für die Verlierer tödlichen) Ideologie der Konkurrenzwirtschaft. Damit ist und bleibt Europa im Sinne des Bestseller-Buches von Jan Ziegler, dem globalisierungskritischen Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, ein Hauptbeteiligter am „Imperium der Schande“, direkt und indirekt mitverantwortlich für den täglichen Hungertod und das Elend von Millionen Menschen in der Welt und für die Reichtums-Armuts-Schere auch in Europa selbst.

Identitätsstiftendes Europäisches Sozialmodell gerät unter die Räder

Auch nach dem Gipfel fehlt der EU noch ein schlüssiges und umfassendes Konzept in der Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik. Das mangelnde Engagement Europas für Afrika bleibt auch nach Ende der deutschen Ratspräsidentschaft ein Desaster und blieb weit hinter den vorherigen Erwartungen und Ankündigungen zurück. Es ist zweifelhaft, ob ein nun für Dezember dieses Jahres angekündigter Gipfel der EU-

Staaten mit den Staaten Afrikas den Durchbruch bringen wird.

Ausgeblendet wird inzwischen, dass mit der „Lissabon-Strategie“ zugleich auch das Europäische Sozialmodell als Kern der Gemeinschaft und wesentlicher Teil der europäischen Identität und „Sieg Europas nach dem Zweiten Weltkrieg über sich selbst“ (Mário Soares) erhalten und gestärkt werden sollte. In Wirklichkeit gerät dies unter die Räder der neoliberalen Wirtschaftsideologie und -einflüsse und ihrer politischen Helfershelfer in der EU, denen es um die Eroberung und Beherrschung der Weltmärkte um jeden Preis geht. Alternativen finden kaum Gehör, obwohl sich sogar der Vorsitzende des EU-Konvents für die Grundrechtscharta, Ex-Bundespräsident und -Verfassungsrichter Roman Herzog, um die demokratischen Strukturen in der EU mit deutlichen Worten öffentlich Sorgen macht.

Immerhin kann als positives Ergebnis des letzten EU-Gipfels vermeldet werden, dass die Grundrechte-Charta, die Europas Bürgerinnen und Bürgern Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte garantiert, trotz der Blockade des inzwischen ausgeschiedenen britischen Premiers und Bush-Getreuen Tony Blair, nunmehr Gültigkeit hat und lediglich in Großbritannien nicht wirksam wird. Bemerkenswert ist auch, dass endlich über mehr Rechte für das EU-Parlament und die nationalen Parlamente diskutiert wurde und das Europa-Parlament künftig gleichberechtigt mit dem Europarat an den Haushaltsberatungen beteiligt wird, bei ansonsten bleibenden legislativen Demokratiedefiziten. Beschlossen wurde demgegenüber ein Bürokratieabbau in der EU, allerdings mehr mit Blick auf Verfahrenserleichterungen für die Industrie beispielsweise bei Umweltauflagen. Bei der positiv zu wertenden Deklaration der europäischen Klimaziele zur weltweiten Reduzierung der Treibhausgase um 20% bis 2020 gegenüber 1990 bleibt skeptisch abzuwarten, ob die Zielmarke durch den massiven Einfluss der Auto- und Energielobby bis dahin nicht wieder aufgeweicht wird und Theorie bleibt.

Dunkle Wolken über der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik

Was die EU-Erweiterung anbelangt, werden Bulgarien und Rumänien zum 1. Januar 2008 neue Mitglieder. Zur Energiesicherung Europas werden Nachbarschaftsverträge mit der Ukraine und Moldawien abgeschlossen. Mit Serbien wird ein Assoziationsabkommen angestrebt und die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sollen trotz zunehmender Widerstände aus denn Mitgliedsstaaten fortgesetzt werden. Der neue portugiesische EU-Ratspräsident Sócrates möchte eine neue strategische Partnerschaft der EU mit Brasilien eröffnen, wie sie bereits mit USA, Russland, China und Indien besteht. Ausgeklammert wurde der aktuelle Streit zwischen USA und Russland über die amerikanische Raketenabwehrstationierung in Europa, bei der es um die Vormachtstellung und die Einflusssicherung der USA in Europa geht, damit kein konkurrierendes Imperium mit der Integration von Russlands in Europa entsteht.

Ebenfalls ausgeklammert wurde auf dem EU-Gipfel die mit dem Verfassungsentwurf und jetzigen –vertrag weiterhin vorgegebene Aufrüstungsverpflichtung der europäischen Staaten. Es scheint mittlerweile Konsens zu bestehen, die europäische Militärpolitik mit interventionistischen Einsätzen weltweit auszuweiten. Mit der Nato sollen militärische Interventionen erfolgen zur Sicherung von Energie, insbesondere von Öl- und Gasressourcen in Afrika, Asien und Nahost, wie schon im Sicherheitskonzept des deutschen Verteidigungsministers enthalten. Russland wiederum will es staatlichen Energiekonzernen ermöglichen, eine Privatarmee aufzubauen. Damit führt die neoliberale Konkurrenzpolitik endgültig zu Wirtschaftskriegen, die uns an Militäreinsätze für Wirtschaftsinteressen zur eigenen Wohlstandssicherung unter Missachtung von Menschenleben gewöhnen sollen. Die Rüstungslobby wird es freuen.

Nicht von ungefähr stiegen nach Angaben des schwedischen Friedensforschungsinstitutes SIPRI beispielsweise die deutschen Waffenexporte rasant innerhalb eines Jahres von 1,5 Mrd. Dollar 2005 auf 3,8 Mrd. Dollar 2006. Damit ist Deutschland als wirtschafts- und einwohnerstärkstes Land Europas drittgrößter Waffenexporteur der Welt, hinter USA und Russland und noch vor China, allen politischen Restriktionen und Menschenrechtserklärungen zum Trotz. Knapp 60 Jahre seit Bestehen der Bundesrepublik im Nachkriegsdeutschland und 17 Jahre nach der deutschen Vereinigung mit Ende des „kalten Krieges“ auf einem befriedeten europäischen Kontinent tragen wir also zu einem weltweiten Rüstungswettlauf nie da gewesenen Ausmaßes maßgeblich bei, der den Waffeneinsatz in weltweiten Kriegseinsätzen geradezu provoziert.

Das ist die dunkelste Wolke derzeit über Europa, in dem es mit der Legende aufzuräumen gilt, dass die Gründung der EU mit dem Vorläufer der europäischen Wirtschaftsunion (EWG) anfänglich als Akt der Friedenssicherung im Nachkriegseuropa motiviert war. In Wahrheit war dies in Zeiten des kalten Krieges und der europäischen Spaltung bereits mit der Gründung von OECD und NATO, von EWG (und Europäischer Freihandelszone Efta mit der atlantischen Achse) als „Bollwerk“ gegen den Ostblock gedacht, der seinerseits mit der Gründung der Wirtschaftsgemeinschaft RGW und des Warschauer Paktes 1955 reagierte. Das Europa der Kaufleute und die Liberalisierung der Kapital- und Warenströme im europäischen Binnenmarkt mögen zwar über die gemeinsamen Wirtschaftsinteressen und die flankierenden zwischenstaatlichen Abkommen und Zusammenschlüsse zur 60-jährigen Friedensentwicklung in Europa beigetragen haben. Mit der militärischen Zuspitzung des weltweiten wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes ohne Rücksicht auf die Verlierer und deren teilweise terroristischen Reaktionen ist Europa – zumal als Hauptexporteur von Waffen in Krisengebiete - jedoch dabei, seine Rolle als weltweite Friedensmacht aufzugeben, entgegen dem Willen der Bevölkerung. Dieser Entwicklung wird zur Legitimation auch noch ein verfassungsmäßiger Status eingeräumt, ohne die Menschen in Europa zu befragen.

Bürgerferne Zuschauerdemokratie: Dringender Handlungsbedarf für die Menschen in Europa

Das allzu einhellige Lob für die deutsche EU-Ratspräsidentin Angela Merkel und ihre dramatischen, aber letztlich „erfolgreichen“ Auseinandersetzungen mit dem störrischen polnischen Präsidenten dürfen auch bei differenzierter Betrachtung nicht davon ablenken, dass auch der letzte EU-Gipfel wieder einmal bedenkliche Weichenstellungen für Europa durch die Staatschefs von oben vorgenommen hat, deren Tragweite durch die Verschleierungspolitik und den Mainstream der berichtenden Medien vielfach verkannt wird. Die Bewegung, die in den festgefahrenen Verfassungs- und Erweiterungsprozess angeblich hineingekommen ist, bedeutet nichts anderes als eine Rückwärtsbewegung zum „Europa der Staatsmänner“ im Dienste der Wirtschaft unter der Staatsfrau Angela Merkel, unter Missachtung elementarer demokratischer Spielregeln, geschweige, mit überfälliger Fortentwicklung demokratischer Beteiligungsmöglichkeiten. Die EU lebt von der Zuschauerdemokratie und Bürgerferne. .

Die eigentlichen Ziele und Aufgaben Europas waren kein Thema: Etwa der besorgniserregende Zustand der Demokratie mit dem Abdriften in eine Art Wirtschaftsdiktatur. oder die massenhaften Wahlenthaltungen insbesondere bei Europawahlen sowie die Ausgrenzung der europäischen Bevölkerung bei grundlegenden Entscheidungsprozessen und die Verlagerung von Entscheidungsebenen auf demokratisch nicht legitimierte Weise. Die Volkssouveränität in der supranationalen EU ist ernsthaft in Gefahr. Gar nicht auf der Tagesordnung sind eine veränderte europäische Eigentumsordnung, eine neue Geldordnung oder eine Bodenrechtsreform sowie europaweite Bestrebungen für ein Grundeinkommen und für die Erhaltung und den Ausbau des europäischen Sozialmodells. Ein von Wirtschafts- und Staatseinflüssen freies Schul- und Hochschulwesen geht gerade in die entgegen gesetzte Richtung z.B. mit der Ökonomisierung der immer abhängigeren Hochschulen oder mit den auf einseitige Wirtschaftsinteressen zugeschnittenen Bildungsanforderungen des Schulwesens.

Von einem gegliederte Staatswesen in Europa, dass sich im Sinne von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit/Geschwisterlichkeit unbürokratisch auf seine Kernaufgaben der Rechtsgestaltung und der sozialen Gerechtigkeit konzentriert und das Kultur- und Wirtschaftsleben den daran Beteiligten überlässt, sind wir weit entfernt. Die aktuelle Sinnkrise Europas, die ohne Vision und Bürgerbeteiligung angestrebte wirtschaftlich-militärische Vormachtstellung in der Welt an Stelle eines Beitrages für eine humane Weltordnung des Miteinanders statt Gegeneinanders, ist durch die europäischen Staatsmänner und Bürokraten nicht zu bewältigen. Es ist auch gar nicht die Aufgabe und Zuständigkeit der Politik, den kulturellen Auftrag Europas und die Völkerverständigung und Menschenbegegnung und -vernetzung zu gestalten, auch wenn sie diesen Anspruch fälschlich erheben. Was aus unserem Europa und der gemeinsamen Zukunft wird, ist einzig und allein Angelegenheit der betroffenen und beteiligten Menschen, die ihr Europa von unten selber alternativ gestalten und ihren Regierungsvertretern und der Wirtschaftslobby Einhalt gebieten.

Aber aufgepasst: Die jüngsten EU-Gipfelbeschlüsse zur Vernetzung der Strafregister und zum Personaldatenaustausch etc. sind auch als Vorkehrung gegen Bürgerproteste zu sehen und zur Verstärkung polizeilich-militärischer Maßnahmen bei Protesten gegen das abdriftende EU-Europa der Staatsmänner. Der G-8-Gipfel in Heiligendamm unter Merkels Vorsitz und die übertriebenen Sicherheitsbestrebungen ihres Innenministers Schäuble zu Lasten der Freiheit haben ja einen Vorgeschmack darauf gegeben, wie mit aufmüpfigen Bürgern umgegangen wird, die sich dem globalen wirtschaftlich-militärischen Komplex und ihrer politischen Helfer widersetzen. Die Mächtigen haben in Wirklichkeit Angst vor ihren Völkern. Das soll uns nicht davon abhalten, Europa im vorgenannten Sinne neu zu denken. Denn nur, wenn wir wissen, was wir selber wollen, dann wissen wir auch, wohin die gemeinsame Reise in Europa zukünftig geht. Wir müssen uns dann nur noch in Bewegung setzen…