Wilhelm Neurohr

VHS-Abend Europa am 12. März 2009 um 19.30 Uhr in Recklinghausen

Vorbemerkung: Keine reine Buchlesung aus 240-seitigem Sachbuch, sondern Statements, Leseabschnitte, Gespräch

Motive zum Verfassen eines solchen Buches - Dreierlei Motive:

  1. Als Mitarbeiter einer Kommunalverwaltung in allen Bereichen mit der Ausführung von EU-Recht zu tun (Umweltrecht, Verbraucherschutz, Gesundheitsschutz, Verkehrsrecht usw.), vor allem aber die EU-Dienstleistungsrichtlinie mit weitreichenden Konsequenzen (Arbeitskreise in allen Verwaltungen bis Ende 2009) – dazu gleich noch mehr
  2. Als Vorsitzender eines Personalrates und als Gewerkschafter mit europäischen Veränderungen unseres Arbeits- und Sozialrechtes konfrontiert, mit Verschlechterungen des Tarif- und Mitbestimmungsrechtes zu tun, mit Sozialdumping und drohenden Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen durch EU-Politik und EU-Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes,
  3. Als Bürger dieser Stadt und dieses Staates sowie als Wähler, der erfahren muss, das inzwischen 85% aller Rechtsnormen und gesetzlichen Rechtsvorgaben von der EU vorgegeben werden und nicht mehr auf demokratische Weise vom Bundestag und von Landes- oder Kommunalparlamenten, dennoch Wahlbeteiligung bei Europawahlen nur zwischen 30-40% . Und das, obwohl längst unser Lebensalltag rundum von der EU bestimmt ist. Brüssel ist scheinbar weit weg und die komplizierte EU-Struktur nicht durchschaubar – ein Irrtum: Sein ist nicht komplizierter als die Kommunalpolitik vor Ort, in die wir uns ja auch einmischen.

Kernpunkt der Kritik von wachen Bürgerinnen und Bürgern in Frankreich, in den Niederlanden und in Irland, die bei Volksabstimmungen den EU-Verfassungsvertrag und den gleichlautenden EU-Reformvertrag von Lissabon mit deutlichen Mehrheiten zwischen 50-60% bei hoher Beteiligung ablehnten – aus 3 Gründen – und ich war selber 6 Wochen lang während des Referendums 2005 in Frankreich und habe die Diskussionen und Initiativen an mehreren Orten mitbekommen und unterstützt:

  • Das Demokratiedefizit der EU bei gleichzeitiger Entmündigung der demokratisch gewählten und legitimierten Parlamente auf allen Ebenen, während das sog. Subsidiaritätsprinzip demokratische Entscheidungsprozesse eigentlich von unten nach oben statt von oben nach unten entwickelt.
  • In der EU werden die Gesetzesnormen nicht etwa vom Straßburger Parlament als Legislative gesetzt, sondern ohne wirksame parlamentarische Kontrolle allein von der Brüsseler Kommission und dem Ministerrat als Exekutive, wie es ansonsten nur in autoritären oder diktatorischen Staaten ohne demokratische Gewaltenteilung üblich ist; Gewaltenteilung und Bürgerbeteiligung sind aber weltweit die Maßstäbe für die Demokratisierung von Staaten; Das Straßburger Pseudo-Parlament, das wir am 7. Juni 2009 bei der Europawahl wiederwählen sollen, hat keine parlamentarische Kernkompetenz für eigene Gesetzesinitiativen, sondern nur bloße Anhörungs- oder Mitwirkungsrechte, trotz einiger Nachbesserungen gegenüber dem bisherigen Nizza-Vertrag.
  • Der unlesbaren 500-seitigen EU-Verfassungs- oder Reformvertrag, dessen Inhalte nicht einmal unsere Bundestagsabgeordneten kennen, gefährdet die parlamentarische Demokratie, verstößt in Teilen gegen das Grundgesetz und die Menschenrechtskonvention und enthält inakzeptable Inhalte, die einer vorherigen Beteiligung der EU-Bevölkerung an „ihrer“ Verfassung bedürfen, weil sie gegen unser Rechtsempfinden verstößt und Punkte enthält, die nicht in eine Verfassung gehören.

Drei Beispiele für letzteres:

  • Die neoliberale Wirtschaftsordnung mit Deregulierung der Finanzmärkte wird im EU-Verfassungs- und Reformvertrag für die Zukunft ausdrücklich festgeschrieben, obwohl nach der Finanzmarktkrise das Scheitern sichtbar geworden ist und die Regulierung der Finanzmärkte vorgesehen ist. Die Freiheit des Marktes erhält Vorrang vor den sozialen Grundrechten Rechten der Menschen; auch die Sozialbindung des Eigentums gilt nicht mehr, sondern allein das Eigentum wird geschützt. Das europäische Demokratiemodell und Sozialstaatsmodell wird ausgehebelt. Und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen in einem reinen Gewährleistungsstaat ist ein Oberziel, weil der EU-Binnenmarkt zu zwei Dritteln ein Dienstleistungsmarkt ist, in dem die Finanzmärkte noch allerlei Abschöpfungspotential sehen.
  • Obwohl wir weltweit mit 1,4 Billionen Dollar die höchsten Rüstungsausgaben in der Menschheitsgeschichte haben, eine Steigerung von 45% seit Beendigung des kalten Krieges, verpflichtet der EU-Vertrag die 27 Mitgliedsstaaten zu jährlichen Steigerungen ihrer Rüstungsausgaben, durch eine eigene Agentur kontrolliert, und untersagt damit eine Abrüstung – entgegen den aktuellen Abrüstungsbestrebungen von Außenminister Steinmeier oder US-Präsident Obama.
  • Daneben enthält der umstrittene und gescheiterte EU-Reformvertrag weitere inakzeptable und grundgesetzwidrige Regelungen wie die Wiedereinführung der Todesstrafe in Kriegszeiten, den gezielten Todesschuss bei sog. Aufruhr in der Bevölkerung, Kriegseinsätze ohne Parlamentsbeteiligung und auch Wirtschaftskriege zur Sicherung von Rohstoffen, Energie und Handelswegen ohne humanitäre Mission. Der Europäische Gerichtshof als höchste Rechtsinstanz ist nicht auf die Verfassung oder auf Sozialstaatsprinzipien vereidigt, also gar nicht legitimiert.

Die Kritikern einer solchen fehl entwickelten EU stellt man fälschlich in die Ecke der Europa-Gegner und Nationalisten, als vermeintliche Gegner einer europäischen Integration, obwohl sie lediglich ein anderes, ein demokratischeres Europa wollen und dafür auch vor dem Bundesverfassungsgericht oder mit Unterschriftensammlungen für eine Volksabstimmung streiten, quer durch alle Parteienlager. (Zitat Roman Herzog).

Die EU und die Kanzlerin erklären aber einfach den EU-Verfassungsvertrag für alternativlos und nicht änderbar. Da erinnert an die Argumente zur Agenda 2010, die auch für unverrückbar erklärt wurde bis zum Zusammenbruch des neoliberalen Finanz- und Wirtschaftssystems.

Zwar waren viele Zuständigkeitsverlagerungen auf die EU-Ebene politisch gewollt, aber eigentlich nur in gesamteuropäischen und internationalen Fragen.

Und nach dem Scheitern der Verträge am Willen der Völker versprach man eine breite öffentliche Debatte und Diskussion mit den Bürgern und eine Phase der Neubesinnung – tatsächlich scheute man eine solche Diskussion im Europawahljahr wie der Teufel das Weihwasser und zog sich in die Hinterzimmer zurück (Merkels Ratspräsidentschaft 2007 im 50. Jubiläumsjahr der EU).

Erschreckende Defizite unserer Politiker in Europa-Fragen, obwohl sie das Volk belehren möchten und für unmündig halten (siehe Panorama, Monitor und Mehr Demokratie e.V.) EU hielt die Zustimmung der 27 Nationalparlamente zum Reformvertrag nur für bloße Formsache – und hatte Recht, denn es wurde ohne Diskussion und ohne Textvorlage durchgewunken.

Zitate und Beispiele --- !

Problem: Europa weiß nicht, ob es ein Bundesstaat, ein Staatenbund oder eine bloße Wirtschaftsgemeinschaft als Binnenmarkt – neuerdings auch ein eigenes Militärbündnis – sein will.

Die Menschen in der EU erleben vor allem, dass sich überall die Kluft zwischen arm und reich in Europa dramatisch ausweitet.

Die Bedingung der Amerikaner bei der Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung war es, dass das vereinigte Deutschland in einen europäischen Bundesstaat aufgeht.

Ein solcher Superstaat mit 500 Millionen Menschen bedarf aber dann einer demokratischen Struktur, und nicht einer nur von 30.000 Brüsseler Lobbyisten kontrollierten Machtzentrale in Brüssel.

Was ist überhaupt die Idee und Vision der europäischen Integration, welchem Leitbild folgt es? Reicht die Idee vom Superstaat und Supermarkt mit Weltmachtträumen? Was ist mit dem kulturellen Europa?

Ein Europa der Staaten und Konzerne oder ein Europa der Bürger?

Was ist aus der Friedensidee des europäischen Einigungsprozesses geworden?