Wilhelm Neurohr

Zeit zur Veränderung parlamentarischer Gepflogenheiten. In Anknüpfung an den bei TdZ erschienenen Beitrag von Prof. Arno Klönne, "Jetzt sind die Urnen leer", macht Wilhelm Neurohr Vorschläge zur einer Lösung parlamentarischer Probleme und der Realisierung dringend notwendiger Reformen. Er plädiert für einen einen "Konvent aus Bürgern und Parteipolitikern sowie Verfassungsjuristen, der solche oder ähnliche Reformvorschläge in dieser Wahlperiode ausarbeitet und auf den Weg bringt."
von Wilhelm Neurohr

Allmählich hat sich der Rauch der „großen Wahlkampfschlacht“ verzogen. Die Demoskopen haben das Wählerverhalten und Parteienversagen hinlänglich analysiert. Die Parteien lecken sich ihre Wunden und wollen sich „neu aufstellen“. Das Koalitionsgerangel ist in vollem Gange. Die eigentlich wertvolle, aber unvollkommene parlamentarische Demokratie macht derzeit ihre Grenzerfahrungen.

Und dennoch hat man als Wähler den Eindruck: Im Grunde genommen wollen die politischen Eliten so weiter machen wie bisher. Jedenfalls macht sich keiner der Beteiligten ernsthafte Gedanken über eine überfällige Wahlrechtsreform und Parlamentsreform. Wenn uns schon eine „große Koalition“ wohl nicht erspart bleibt, dann sollte sie wenigstens die großen Reformen gemeinsam angehen.

Erster Punkt wäre eine Reform des Wahlrechtes, die nicht die Wähler oder Nichtwähler für ihre Wahlenthaltung „bestraft“, sondern die Parteipolitiker dafür spürbar in die Verantwortung nimmt. Nicht die Erwägung einer Wahlpflicht angesichts einer niedrigen Wahlbeteiligung um die 70% (bei der letzten Europawahl sogar nur 43 %) wäre die richtige Konsequenz. Sonden die Parteipolitiker selber müssten angespornt werden, sich um höchstmögliche Wahlbeteiligung in ihren Wahlbezirken zu bemühen oder andernfalls Sanktionen hinnehmen.

Zur Klarstellung: Unter statistischer Berücksichtigung der Wahlenthaltung hat die CDU/CSU in Wirklichkeit nur 29,7% und die SPD lediglich 18,4% der Stimmen aller Wahlberechtigten erhalten. Folglich haben über 70% die Partei der Kanzlerin nicht gewollt und der SPD schlägt sogar fast 82% Ablehnung der Wählerschaft entgegen. Deshalb kann nur eine hohe Wahlbeteiligung den unverfälschten Wählerwillen widerspiegeln.

Mein Vorschlag: Die 630 Sitze im neuen Bundestag werden entsprechend der siebzigprozentigen Wahlbeteiligung um 30 Prozent (Nichtwähleranteil) reduziert auf insgesamt 441 Sitze. Deren Verteilung auf die Parteifraktionen bleibt in Relation zu den Wahlergebnissen, aber 189 Sitze entfallen nach dieser Wahl insgesamt. Damit wird die Anzahl der Bundestagsmandate unmittelbar an die Höhe der Wahlbeteiligung gekoppelt.

Somit entfallen die Mandate in den Wahlkreisen mit den niedrigsten oder unterdurchschnittlichen Wahlbeteiligungen (zugleich auch eine Lektion für die dort wahlmüden Nichtwähler). Deshalb müssen sich Wähler und Kandidaten stärker um Präsenz ihres Wahlkreises im Bundestag bemühen. Steigt beim nächsten Mal durch Anstrengung der Parteien die Wahlbeteiligung auf 80 oder 90 Prozent, so erhöhen sich demgemäß die Sitze im Bundestag.

Da laut Demoskopen die Wahlenthaltung insbesondere in Stimmbezirken mit sozial und bildungsmäßig benachteiligten Bevölkerungsschichten erheblich ist, würden sich die Parteipolitiker gerade dort um die Belange der Wähler stärker kümmern müssen, um die Wahlbeteiligung wieder anzuheben. Zusätzlich sollte auch die Höhe der Abgeordneten-Diäten an die Wahlbeteiligung gekoppelt werden. Also bei 70% Wahlbeteiligung auch nur 70% der Diäten! Im Sinne einer Bonus-Malus-Regelung könnte das nach Wahlbezirken differenziert werden, entsprechend der jeweiligen Höhe der dortigen Wahlbeteiligung. Für die Listenkandidaten gilt die bundesweite Wahlbeteiligung.

Mein zweiter Reformvorschlag ginge noch weiter: Die derzeit 630 Sitze im Bundestag werden nur zur Hälfte (also 315) an die gewählten Parteien in Relation zu ihrem Stimmenanteil bzw. Direktwahlergebnis aufgeteilt. Die andere Hälfte der Sitze wird durch Losverfahren oder Zufallsprinzip an Bürgerinnen und Bürger vergeben, und zwar jährlich wechselnd, so dass jeder nur ein Jahr dieses Ehrenamt mit Lohnersatzzahlung und beruflicher Freistellung auszuüben hätte.

Der Vorteil: Dem „professionellen“ Parteienblock stünde ein gleich starker Bürgerblock entgegen (als Element der direkten Demokratie). Die Parteien müssen im Sinne eines lebendigen Parlamentarismus vor voll besetzen Stühlen in jeder Bundestagssitzung mit überzeugenden Argumenten um eine Mehrheit ringen. Da insgesamt nur 2,3% der Bürgerinnen und Bürger in Parteien organisiert sind, wäre kaum zu befürchten, dass die einzelnen Parteien durch Parteifreunde im Bürgerblock die Mehrheitsverhältnisse manipulieren könnten.

Der große Vorteil: Dauerhafte Koalitionen der Parteien würden nicht alles überstimmen können, da der Parteienblock zusammen ja nur 50 Prozent der Sitze innehätte und 50 Prozent der Bürgerblock als „Stimme des Volkes“. (Eine Alternative wäre allenfalls noch eine eigene „Bürgerkammer“ neben dem Bundestag). Das unwürdige Koalitionsgerangel (mit Verfälschung des Wählerwillens) nach jeder Wahl blieb uns erspart. Übrigens hatte die große alte Dame der FDP, Hildegard Hamm-Brücher, derartige Vorschläge auch schon mal unterbreitet, als die nun gescheiterte FDP noch liberal war und keine „als Partei getarnte „Lobbyorganisation“…

Zusatz von W. N. am 30.09.2013

Selber würde ich noch einen radikaleren dritten Reformschritt empfehlen: Da die Parteien und ihre Abgeordneten im Bundestag mit den vielfältigen Themen und Problemen erkennbar überfordert sind und nicht allzuständig sein können, sollte der Bundestag als Gesetzgebungsorgan auf seine staatlichen Kernkompetenzen reduziert werden: Nämlich auf die Zuständigkeit für Recht und Gerechtigkeit sowie Sicherheit und Ordnung.

Für Wirtschaft und Arbeitsmarkt gäbe es eine eigne, kompetent besetzte Wirtschaftskammer mit gewählten Vertretern der Produzenten, Händler und Verbraucher (ohne die Lobbyverbände) sowie der Gewerkschaften und Betriebsräte, also den am Wirtschaftsleben Beteiligten. Diese würden auch die Fragen fairer Preis- und Lohnfindung und der Verbraucherinteressen etc. assoziativ behandeln. Das wäre ein Beitrag zur Demokratisierung der Wirtschaft. Dem Bundestag verbliebe nur noch die Rahmengesetzgebung für das Wirtschaftsleben.

Ebenso würden dem Bundestag die Zuständigkeiten für das Kultur- und Bildungswesen und die Wissenschaft und Forschung entzogen, bis auf die Rahmengesetzgebung und die Finanzzuweisungen. Alles andere, vor allem das inhaltlich-gestalterische und organisatorische, würde unbehelligt von wechselnden Partei-Ideologien in Selbstverwaltungsorganen der Kulturschaffenden und Bildungsträger in Schulen, Hochschulen, Volkshochschulen und künstlerischen Einrichtungen (Theatern, Museen usw.) sowie Forschungseinrichtungen vertrauensvoll übertragen.

Also: Schleunigst einen Konvent aus Bürgern und Parteipolitikern sowie Verfassungsjuristen bilden, der solche oder ähnliche Reformvorschläge in dieser Wahlperiode ausarbeitet und auf den Weg bringt! Das kann unserer lädierten Parteien-Demokratie nach 65 Jahren nur von Nutzen sein!