Wilhelm Neurohr

Die Finanzsituation der Kommunen in Deutschland, insbesondere in NRW, ist so dramatisch wie noch nie, seitdem durch die vorausgegangen Steuerreform von Finanzminister Hans Eichel 23 Mrd. € Körperschaftssteuer und 5 Mrd. € Gewerbesteuer, letztlich sogar 40 Mrd. € insgesamt bei den steuerlichen Haupteinnahmequellen der Gemeinden schlagartig weggebrochen sind. Die Tatsache, dass seitdem die Mehrzahl der Kommunen - trotz oder gerade wegen der misslungenen Gemeindefinanzreform - de facto „pleite“ ist, wird vor dem Hintergrund der deutlichen Zahlen mittlerweile kaum noch bestritten: Die Gesamtverschuldung der Kommunen tendiert gegen 100 Mrd. €.

In der gleichen Zeit ist das Geldvermögen in privater Hand auf 5,8 Bio. € angewachsen, allerdings konzentriert auf die wenigen Taschen der inzwischen 775.000 Vermögensmillionäre in Deutschland. Die nächste vorgezogene Stufe der Steuersenkung vor allem zugunsten der Spitzenverdiener, die wiederum mit Privatisierungen auf staatlicher Ebene gegenfinanziert werden soll, wird den Kommunen indirekt noch mehr Einnahmeverluste in Höhe von 3,8 Mrd. € zusätzlich bescheren.

Das Finanz- und Schuldendesaster der Kommunen ist also nicht wie eine Naturkatastrophe einfach vom Himmel gefallen oder deshalb eingetreten, weil alle Kommunen über ihre Verhältnisse gelebt hätten oder allein die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dies verursacht hätten. Vielmehr war diese steuerpolitische Umverteilung von den öffentlichen Haushalten in die privaten Taschen durchaus politisch gewollt, um so den Privatisierungs- und Rationalisierungsdruck sowie den Leistungs- und Personalabbau auf der kommunalen Ebene zu erhöhen und zu beschleunigen, ganz im Geiste der neoliberalen Ideologie, für die offenbar die verteidigten Gemeinwohlorientierungen auf der Ebene der kommunalen Selbstverwaltung ein Dorn im Auge sind.

Zugleich haben Bund und Länder immer mehr staatliche Aufgaben auf die Kommunen abgewälzt, ohne für ausreichende Gegenfinanzierung und Finanzausstattung nach dem Konnexitätsprinzip zu sorgen, d.h. „wer die Musik bestellt, bezahlt sie auch“. Tatsächlich zahlen aber die betroffenen Bürger die Zeche, indem in verfassungswidriger Weise die Kommunen ihre gemeinwohlorientierten Aufgabe der Daseinsvorsorge nur noch teilweise oder eingeschränkt wahrnehmen können.

Den rund 141 Mrd. € Einnahmen der Kommunen stehen bislang 151 Mrd. € Ausgaben gegenüber, trotz drastischer Ausgabenkürzungen sowie Privatisierungen und betriebswirtschaftlicher Umorientierungen mit rigorosen Personaleinsparungen: In den Kommunalverwaltungen sind 500.000 Stellen seit den neunziger Jahren eingespart und viele öffentliche Aufgaben und Dienstleistungen eingeschränkt, kommerzialisiert oder ganz aufgegeben worden. Zugleich hat notgedrungen ein Ausverkauf kommunalen Eigentums und „Tafelsilbers“ stattgefunden. Ein Ende ist noch lange nicht in Sicht, denn die eigentliche Privatisierungswelle steht den Kommunen erst noch bevor (Stichworte GATS-Abkommen und EU-Dienstleistungsrichtlinie zur Zwangsprivatisierung öffentlicher und kommunaler Dienstleistungen aufgrund kommerzieller Verwertungsinteressen).

In NRW sind 90% der Städte nicht mehr in der Lage, ihre Ausgaben über reguläre Einnahmen zu bestreiten. Im Vorjahr fehlten 557 Mio. €, die nur über Kredite oder Verkauf von Vermögen aufzubringen waren. Von 396 Kommunen des Landes befanden sich im Vorjahr 396 in einem Haushaltssicherungskonzept, das in 56 Fällen nicht genehmigt war, so dass die Presseschlagzeilen nicht übertreiben waren: „Der Pleitegeier kreist über den Rathäusern“. Einzelne Städte wie Duisburg finanzieren ihre laufenden Personalkosten bereits rechtswidrig über Kredite, weil sie eigentlich keine Gehälter mehr zahlen kann. Die Stadt Gelsenkirchen hatte Haushaltslöcher von rd. 50 Mio. € bei gleichzeitig fast 18% Arbeitslosen. Der dort ansässige Energiekonzern E.on verlangte von der Stadt 30 Mio. € Körperschaftssteuer zurück nach Nutzung des Privilegs, Firmenbeteiligungen steuerfrei abzugeben, wie dank Finanzminister Hans Eichel eingeführt. Im nördlichen Ruhrgebiet werden 9 von 10 Städten nicht einmal mehr die Haushaltssicherungskonzepte von den Aufsichtsbehörden genehmigt.

Am 18. August meldete die Recklinghäuser Zeitung auf der Titelseite, dass viele Kommunen in NRW rechtswidrig ihren wahren Schuldenstand mit Dispokrediten verschleiern. Einige Städte haben zwischen 600 bis 700 Mio. Euro an Kassenkrediten aufgenommen. Manche Gemeinden können ihre Fehlbeträge erst nach Ablauf von 20 Jahren allmählich abbauen, bevor sie zu einem ausgeglichenen Haushalt zurückkehren".

Der kommunalpolitische Handlungs- und Gestaltungsspielraum tendiert wegen des finanziellen Austrocknens der Kommunen nahezu gegen Null. Fast alle freiwilligen Aufgaben wurden längst gestrichen. Die Kommunalparlamente haben kaum noch etwas zu entscheiden, so dass der Stellenwert der derzeitigen Kommunalwahlen politisch überschätzt wird. Der Abbau des Sozialstaates geht einher mit dem politisch gewollten Abbau der sozialen Ausgleichsfunktion der kommunalen Selbstverwaltung als der untersten und wirksamsten staatlichen Demokratie-Ebene. Neoliberaler Marktfundamentalismus und Demokratie vertragen sich nicht, schon gar nicht mit dem Verfassungsgrundsatz, dass die Gemeinden alle örtlichen Aufgaben der Daseinsvorsorge in eigenen Verantwortung und Zuständigkeit regeln und dafür die notwendige Finanzausstattung erhalten müssen. Für die privaten Dienstleistungskonzerne sind die öffentlichen Dienstleistungen der Kommunen und ihr Vermögensbesitz von viel zu großem kommerziellem Interesse, als dass man es ihnen nicht mit Hilfe politisch willfähriger Lobbyisten entreißen könnte. Dieser Prozess ist längst in vollem Gange.

Eine überfällige und von der Bundesregierung versprochene Gemeindefinanzreform, die den Namen verdient, ist deshalb ausgeblieben. Die Bundesregierung hat sich bekanntlich geweigert, alle Einkommensarten an der Finanzierung der kommunalen Aufgaben zu beteiligen und die gröbsten Fehler der Steuerreform von Finanzminister Hans Eichel zu korrigieren. Stattdessen hat man den Kommunen auch noch die Kosten für die Langzeitarbeitslosen aufgebürdet und die steigenden Kosten der Eingliederunghilfe für die Behinderten. Das hat die maßlose Enttäuschung und Empörung der Kommunalpolitiker und ihrer kommunalen Spitzenverbänden hervorgerufen, quer durch alle Parteien, die mit nie da gewesenen gemeinsamen und spektakulären Protestaktionen sowie angedrohter Verfassungsklage ihrem Unmut Luft machten. Eine daraufhin erfolgte Korrektur hat lediglich 2,3 Mrd. € an Einnahmeverlust ausgeglichen, also nicht mehr als ein Tropfe auf dem heißen Stein. Den 396 Städten und Gemeinden in NRW bringt das gerade einmal lächerliche 185 Mio. € an Entlastungen, auf alle verteilt.

Die Folgen für die Menschen und das kommunale Gemeinwesen sind verheerend und führen zu verfassungswidrigen Zuständen. In ihrer Verzweiflung haben sich viele Kommunen auf windige Cross-Border-Leasing Geschäfte mit amerikanischen Investoren eingelassen und ihre Infrastruktureinrichtungen auf riskante Weise verleast, um so für ein Jahr ihre Haushaltslöcher notdürftig zu stopfen.

Dennoch ist der Protest mittlerweile verstummt, nicht nur wegen des Wahlkampfes; mittlerweile hat die Bundesregierung einen vermeintlichen Weg gefunden, die Kommunen von den hohen und weiter steigenden Sozialhilfekosten, die der Bund ihnen aufgebürdet hat, zu entlasten. Die Einführung von Hartz IV mit der Zusammenlegung von Sozialhilfe und drastisch abgesenktem Arbeitslosengeld auf Sozialhilfeniveau war ursprünglich zur Sanierung der Gemeindefinanzen auf dem Rücken der Ärmsten gedacht. Ob die erhofften Einsparungseffekte für die Kommunen tatsächlich eintreten, wird inzwischen angezweifelt.

Die eigentlichen Ursachen für dieses Dilemma werden verschleiert oder es wird von den wahren Hintergründen und Zusammenhängen abgelenkt. Folgt man der politischen Propaganda fast aller Parteien, dann gibt es für die Verarmung der öffentlichen Haushalte im Allgemeinen und der Kommunen im Besonderen folgende Hauptgründe: Die „Finanzlücke“ infolge der „explosionsartig gestiegenen Ausgaben insbesondere für die sozialen Leistungen“ seien eine quasi naturgesetzliche Folge von Globalisierung, Wettbewerb, Demografie und konjunkturell bedingten Einnahmeverlusten sowie überholtem sozialem Anspruchsdenken, ferner von mangelndem betriebswirtschaftlichen Denken der Kommunen. Die Kommunen hätten zu lange „über ihre Verhältnisse gelebt“.

In Wirklichkeit ist die existenzbedrohende Situation der Kommunen politisch herbeigeführt worden und kein Naturgesetz oder „Sachzwang“, folglich von Menschen auch wieder änderbar. Der Prozess ist umkehrbar, dass die Vermehrung des privaten Reichtums mit der Verarmung der kommunalen Haushalte einhergeht, also mit der Umverteilung von unten nach oben. Es wird höchste Zeit, dass die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV und die Agenda 2010 sich thematisch ausweiten auch gegen den geplanten Ausverkauf der Kommunen, denn das sind die wichtigsten Säulen des Sozialstaates in den örtlichen Solidargemeinschaften.

Lasst uns in jeder Stadt eine Demokratie-Bilanz ziehen und Alternativen aufzeigen, von denen es hineichende gibt. Gerade die Kommunen könnten zu einer aktiven Arbeitsmarkt- und lokalen Beschäftigungspolitik sowie öffentlichen Investitionspolitik viel beitragen, zusammen mit der aktiven Bürgergesellschaft. Ohne öffentliche Dienstleistungen vor Ort wird die Kluft zwischen arm und reich noch größer; es droht eine weitere Verschlechterung der Lebensverhältnisse und der Lebensqualität. Die Kommunen haben eine wichtige soziale, kulturelle und wirtschaftliche Funktion. Ohne kommunale und gemeinnützige Dienstleistungen sind Menschenrechte und Menschenwürde sowie Demokratie nicht realisierbar. Das drohende Ende der kommunalen Selbstverwaltung erlaubt uns den Widerstand im Sinne unseres Grundgesetzes.