Wilhelm Neurohr

20. November: Internationaler Tag der Kinderrechte

Kein Wahlkampfthema:

Kinderrechte weder im Grundgesetz noch im Alltag verwirklicht

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Grafik: Deutsches Institut für Menschenrechte

„Es gibt keine großen Entdeckungen und Fortschritte,
solange es noch ein unglückliches Kind auf Erden gibt.“
(Albert Einstein)

Am heutigen 20. November wird zum Internationalen Tag der Kinderrechte daran erinnert, dass jedem Kind elementare Rechte zustehen: auf Gesundheit und Bildung, auf Schutz vor seelischer und körperlicher Gewalt. Zu den Kinderrechten zählen laut Kinderhilfswerk beispielsweise ein Dach über dem Kopf und eine gewaltfreie Erziehung sowie bestmögliche Gesundheitsversorgung. Darauf haben laut Kinderrechtskonvention von 1989 alle Kinder einen Rechtsanspruch. Bei der Verwirklichung dieser Rechte bestehen jedoch nach wie vor erhebliche Defizite. Insbesondere in Deutschland, wo jedes fünfte Kind in Armut lebt, haben Kinder keine Lobby und kommen auch bei den Wahlkampfthemen so gut wie gar nicht vor, erst recht nicht nach gescheiterter Kindergrundsicherung.

Obwohl 82% der deutschen Bevölkerung laut aktueller Umfrage der Kindernothilfe für eine Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz plädieren, fand sich dafür im Bundestag bisher keine Mehrheit. Der politische Vorstoß in 2021, nach dem 2002 aufgenommenen Tierschutz auch das Kindeswohl und die Kinderrechte als substanzielle Ergänzung des Artikel 6(2) ins Grundgesetz aufzunehmen, scheiterte an den Mehrheitsverhältnissen im Bundestag. Stattdessen erhitzt vorrangig die umstrittene Schuldenbremse im Grundgesetz die politischen Gemüter im beginnenden Wahlkampf, in dem Kinderrechte nicht vorkommen.

Kinderarmut statt Kinderreichtum

Obwohl die Geburtenrate in Deutschland seit Bestehen der Bundesrepublik von über 2 Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter auf 1,3 Kinder gesunken ist und somit weniger Kinder zu versorgen sind als früher, hat sich der einstige „Kinderreichtum“ in Deutschland in Kinderarmut verwandelt: Fast 3 Millionen Kinder und Jugendliche leben in Deutschland in Armut. Obwohl seit 1990 insgesamt 8 Regierungen in unterschiedlichen Koalitionen, an denen alle etablierten Parteien beteiligt waren, die „Beseitigung der Kinderarmut“ auf ihre Fahnen geschrieben haben, geht die Kurve der Kinderarmut im Gegenteil immer weiter nach oben, einhergehend mit der Bildungsarmut.

Dabei gehört das Recht auf Bildung und Ausbildung, auf Würde, auf Nichtdiskriminierung und auf Entwicklung und kulturelle Teilhabe zu den Grundprinzipien und wichtigsten Kinderrechten der UN-Kinderrechtskonvention. Weder schwarz-gelb noch rot-grün oder schwarz-rot unter der Kanzlerschaft von Kohl, Merkel, Schröder oder Scholz haben die Beseitigung der Kinderarmut somit verringert, weil nicht zur politischen Priorität erhoben. „Kinder halten uns nicht von Wichtigerem ab. Sie sind das Wichtigste“. (C.S. Lewis)

Flüchtlingskinder besonders benachteiligt

Auch die aktuelle menschenrechtswidrige Flüchtlingspolitik fast aller Parteien in Deutschland nimmt wenig Anteil an dem Schicksal der über 43 Mio. Kinder, die weltweit auf der Flucht sind als Opfer von Kriegen und Vertreibungen. Laut UN-Kinderrechtskonvention müssen sie im Krieg und auf der Flucht besonders geschützt werden. Deshalb suchen viele von ihnen auch hier in Deutschland eine Zuflucht, die ihnen immer mehr verwehrt wird. Flüchtlingskinder werden diskriminiert und benachteiligt. In der Kinderrechtskonvention heißt es: „Alle Kinder haben die gleichen Rechte. Kein Kind darf benachteiligt werden.“. Kinder haben das Recht, „keine Not zu leiden“, und sie haben das Recht, zu lernen und eine Ausbildung zu machen sowie „gesund zu leben und Geborgenheit zu finden“.

Kinder haben das Recht zu leben und vor Krieg geschützt zu werden, doch diese Rechte werden ihnen genommen. Laut UNICEF sind im Ukraine-Krieg mindestens 2.000 Kinder getötet oder verletzt worden. Im Gaza-Streifen, wo ca. 1 Mio. Kinder leben (unter extremen humanitären Zuständen), sind ebenfalls tausende Kinder getötet worden. 70% aller Getöteten sind dort Frauen und Kinder.

Obdachlose Straßenkinder, sexuelle Gewalt und Misshandlungen

Kinder finden in politischen und gesellschaftlichen Prozessen kaum Gehör, obwohl 40.0000 Kinder und Jugendliche in Deutschland obdachlos sind oder ohne festen Wohnsitz sogar auf der Straße leben - eine Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB. Laut BKA werden jeden Tag 54 Kinder und Jugendliche in Deutschland Opfer von sexueller Gewalt. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben insgesamt bis zu einer Million Kinder und Jugendliche in Deutschland sexuelle Gewalt erfahren, zwischen 14.500 und 18.500 Betroffene jährlich. Hinzu kommen laut Polizeistatistik jährlich 3.500 erfasste Kindesmisshandlungen plus eine sehr große Dunkelziffer. Dabei heißt es in der Kinderrechtskonvention: „Kinder haben das Recht auf Schutz vor Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung“. „Schaffet die vielen Tränen der Kinder ab. Langes Regnen ist den Blüten schädlich.“ (Jean Paul)

Körperliche Misshandlungen und Züchtigung, Traumatisierungen und Suizide

Fast 18% halten laut einer Umfrage eine Ohrfeige in der Erziehung für angebracht, nachdem im Nachkriegsdeutschland die Kinder auch an der Schule noch mehrere Jahrzehnte lang körperlich gezüchtigt wurden, denn Prügelstrafen, die erst 1973 abgeschafft wurden (in Bayern erst 1983) gehörten lange zum Alltag. Weltweit sind nur 14% der Kinder gesetzlich vor körperlicher Züchtigung geschützt, wie „Save the Children“ am „Tag der gewaltfreien Erziehung“ (30. April) bekanntgab.

Repräsentative Studien zeigen, dass 1,3% bis 1,6% der Kinder und Jugendlichen durch Erlebnisse in ihrer Kindheit traumatisiert sind sowie eines von 100 Kindern (und 5 von hundert Jugendlichen) an depressiven Störungen leiden. Die Suizidrate von Kindern zwischen 10 und 14 Jahren liegt in Deutschland bei 700 im Jahr, in der Altersgruppe zwischen 15 und 19 Jahren sogar bei 4.200 jährlich, die zweithöchste Todesursache nach Unfällen bei unter 18-jährigen.

Wo bleibt die Mitbestimmung der Kinder?

Nicht allzu ernst genommen wird das verbriefte Recht der Kinder auf Mitbestimmung gemäß Artikel 12 und 13 der UN-Kinderrechtskonvention: „Kinder haben das Recht bei allen Fragen, die sie betreffen, mitzubestimmen und zu sagen, was sie denken.“ Dazu haben sie das Recht, "sich alle Informationen zu beschaffen, die sie brauchen, und ihre eigene Meinung zu verbreiten.“

Im Bundestagswahljahr sollte ein Bewusstsein darüber entstehen, dass die Kinder die Wählerinnen und Wähler von morgen sein werden. Diejenigen, die von der Politik im Stich gelassen und als Benachteiligte an den Rand gedrängt werden, entwickeln mit diesen Erfahrungen ein Langzeitgedächtnis mit einem Rechts- und Unrechts- sowie Ungerechtigkeitsempfinden. „In den Kindern erlebt man sein eigenes Leben noch einmal, und erst jetzt versteht man es ganz“. (Kierkegaard)

Wilhelm Neurohr, 20. November 2024

Siehe auch früheren Lokalkompass-Artikel:
https://www.lokalkompass.de/haltern/c-politik/kinderarmut-in-deutschland-als-dauerzustand-steigende-statt-sinkende-armutsquoten-fuer-verlorene-generationen_a1907934