Wilhelm Neurohr

Kommentar:

Armutsregion Nördliches Ruhrgebiet

Das Ruhrgebiet insgesamt ist die Armutsregion Nr. 1 in Deutschland, da hier mehr als jeder Fünfte in Armut lebt. Die Caritas kritisierte, dass dadurch jedes dritte Kind im Ruhrgebiet in Armut lebt. Und innerhalb des Ruhrgebietes ist die „Emscher-Lippe-Region“ (Kreis Recklinghausen und Gelsenkirchen und Bottrop) als nördliches Ruhrgebiet das größte Sorgenkind und die Problemregion, wie aus dem Armutsbericht 2019 des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hervorgeht, der jüngst in 2020 veröffentlicht wurde. Demnach sind über 22% der Menschen hier armutsgefährdet.

Aber auch in den Ruhrgebiets-Großstädten ist die Situation katastrophal: Hier sind 29% aller unter 15-jährigen von Hartz IV abhängig. (Dennoch hat die Bundesregierung beim Corona-Hilfspaket ausgerechnet für die Hartz IV-Empfänger keine gesonderte finanzielle Hilfe vorgesehen und damit die seit zwei Jahrzehnten anhaltende soziale Kälte gegenüber den Armutsgefährdeten verlängert). Die Armutsgefährdungsquote liegt laut statistischem Landesamt bei Minderjährigen bei 22,6%.

Das sind die statistischen Zahlen der armutspolitischen Problemregionen, die sich in NRW auf 910.000 betroffene Menschen summieren, also bald 1 Millionen Armutsbetroffene. Dieser anhaltende Trend im Ruhrgebiet ist seit langem bekannt und nur ein schwacher Rückgang von 24,6% in 2017 auf 22 % in 2019 zu verzeichnen. Insgesamt leben 21% der Kinder in Deutschland dauerhaft in Armut und 10% temporär, das sind mehr als 30% insgesamt. Benachteiligt sind sie nicht nur materiell, sondern auch bei der Bildung, denn Deutschland ist eines der Länder, in denen man am allerschlechtesten den sozialen Aufstieg durch Bildung schaffen kann, wenn man durch Armut und Herkunft benachteiligt ist.

Es ist absehbar, dass infolge der Corona-Krise mit dem wirtschaftlichen Abschwung die sozialen Nöte der ohnehin sozial Schwachen sich für diese am ärgsten auswirken werden, wenn hier nicht besondere sozialstaatliche und bildungspolitische Maßnahmen ergriffen werden. Diese sind aber nicht oder nur völlig unzureichend in Sicht und die wenigen Hilfsmaßnahmen bei weitem nicht ausreichend, um das soziale und regionale Gefälle im Land und im Ruhrgebiet abzubauen und die sozialen Nöte in den Armutsregionen des Landes zu überwinden.

Für die weitere politische Entwicklung im Land verheißt dies nichts Gutes, denn die Rechtspopulisten werden diese sozialen Fehlentwicklungen mit den immer gleichen Gewinnern und Verlierern für ihre politischen Zwecke missbrauchen. Das sozialpolitische Versagen der regierenden Parteien über mittlerweile sieben Wahlperioden, von rot-grün über schwarz-gelb und schwarz-rot, wird sich bitter rächen. Die „verlorene Generation“ der ewigen Verlierer hat nur eine schwache Lobby, ganz anders als die derzeit besonders erfolgreiche Rüstungslobby, die gerade ihr 10-JahresHoch bei den Rüstungsexporten bejubelt, während zeitglich der Armutsbericht allenfalls am Rande der Nachrichten und der Bundestagsdebatten auftaucht.

Wie viel soziale Kälte verträgt eine sich immer mehr polarisierende Gesellschaft nach Corona, deren obszöner Reichtum für einige Wenige auf der anderen Seite ins Unermessliche ungebremst steigt und steigt – und deren Reichtum durch das Corona-Hilfspaket vor allem abgesichert wurde mit den größten Summen? Etwas mehr Kleingeld für die Armutsgefährdeten sowie für die gebeutelten Kommunen insbesondere im nördlichen Ruhrgebiet, deren soziale Infrastruktur vor Ort wegbricht, sollte doch wohl erübrigt werden können bei den schwindelerregenden Geldsummen? Denn „ein Staat, dem es an sozialer Gerechtigkeit mangelt, was ist der anderes als eine große Räuberbande?“ (Zitat des Staatsrechtslehrer Augustinus).

Wilhelm Neurohr, 19. Juni 2020