Soziale Gerechtigkeit und Weltfrieden -
Zum Armutsbericht 2018 und zur Rentenreform vor dem Jubiläumsjahr der Internationalen Arbeitsorganisatio ILO"
Rund 14 Millionen Menschen in Deutschland leben laut Armutsbericht 2018 in relativer Armut. Davon sind nur ein Fünftel Arbeitslose, zu Dreiviertel trifft es Personen mit mittlerem oder höherem Qualifikationsniveau, die erwerbstätig oder in Ausbildung sind oder im Rentenalter. Sie sind arm trotz Arbeit und Bildung. Deutschland hat also auch nach der dritten großen Koalitionsregierung seit der Jahrtausendwende ein ungebremst ansteigendes Armutsproblem mitsamt hoher Kinderarmut. Das alljährliche politische Versprechen, die Armut zu bekämpfen, bleibt stets unerfüllt.
Wie wichtig aber soziale Gerechtigkeit statt Elend und Entbehrungen weltweit sind, verdeutlicht die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die 2019 auf ihr 100-jähriges Bestehen zurückblicken kann. Über die völkerrechtliche Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen, deren Welt vor 100 Jahren in Schutt und Asche lag, wollte die ILO die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen und sozialen Verwerfungen nach den leidvollen Kriegserfahrungen beenden und sich für menschenwürdige Arbeit und Entlohnung einsetzen.
"Der Weltfriede kann auf Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden. Nun bestehen aber Arbeitsbedingungen, die für eine große Anzahl von Menschen mit viel Ungerechtigkeit, Elend und Entbehrungen verbunden sind, dass eine Unzufriedenheit entsteht, die den Weltfrieden und die Welteintracht gefährdet. Eine Verbesserung dieser Bedingungen ist dringend erforderlich." (Aus der Präambel der Verfassung der ILO von 1919).
Bereits vor 60 Jahren wurde ein Mindestlohn-Übereinkommen angenommen sowie 2 Jahre später ein Übereinkommen zur Verhinderung von Zwangs- und Pflichtarbeit als wichtige Meilensteine. Das waren Bausteine für ein weltweit anerkanntes Arbeitsrecht, neben Regelungen zur Arbeitszeit und zur Vereinigungsfreiheit und Kollektivverhandlungen etc. sowie weiteren von insgesamt 189 ILO-Übereinkommen. Auch in der Arbeitswelt sollten die Menschenrechte uneingeschränkt gelten. Die Umsetzung und Sanktionsmaßnahmen lassen jedoch oft zu wünschen übrig und Gewerkschaften sowie Zivilgesellschaft kämpfen immer noch um ihre konsequente Umsetzung. Obwohl einige Länder wichtige ILO-Normen nicht anerkannt und nicht unterzeichnet haben, schließt die EU dennoch Freihandelsverträge mit diesen Staaten ab, zuletzt das JEFTA-Abkommen mit Japan,obwohl auch Japan zwei von insgesamt acht wichtigen ILO-Kernarbeitsnormen nicht anerkennt.
Das Institut "Südwind" für Ökonomie und Ökumene, das sich für eine gerechte Weltwirtschaft engagiert, schreibt in einer Sonderveröffentlichung zum ILO-Jubiläum: "Hundert Jahre nach Gründung der ILO ist die globale Arbeitswelt mehr denn je gespalten in eine Minderheit formell Beschäftigter mit Arbeitsvertrag und verbrieften Rechten und eine Mehrheit, die formell nicht abgesichert und unter prekären Bedingungen arbeitet". Damit sich die Vision einer menschenwürdigen Arbeitswelt für alle erfüllt, ist noch einiges zu tun. Dies gilt vor dem Hintergrund der alljährlichen Armutsberichte - mit Ihren erschreckenden Zahlen und Steigerungsraten auch bei der Armut von Erwerbstätigen - nicht zuletzt im reichen Rechts- und Sozialstaat Deutschland, wo schon jeder Sechste betroffen ist, sowie in der EU.
Es ist also Zeit, endlich zu handeln. Worauf warten eigentlich die Regierenden noch - auf die nächsten Armutsberichte in 2019 und 2020 mit ihren Steigerungsraten oder auf das nächste Wahldesaster oder auf "gelbe Westen" in ganz Europa? Wer das Hauptproblem der sozialen Frage nicht verstanden hat, der kann nicht nach der nächsten Wahl schon wieder erklären: "Wir haben verstanden".
Wilhelm Neurohr
Am 13.12.2018 nimmt deshalb der DGB zum Armutsbericht wie folgt Stellung:
Gewerkschaften und Sozialverbände fordern Sofortprogramm gegen Altersarmut
Das Netzwerk Gerechte Rente fordert anlässlich des Armutsberichts des Paritätischen Wohlfahrtverbands mit einem 6-Punkte-Plan als Sofortprogramm gegen Altersarmut die Große Koalition zum Handeln auf. Dazu sagte Annelie Buntenbach, DGB-Vorstandsmitglied, am Donnerstag in Berlin:
„Fast ein Viertel der Gesamtheit der erwachsenen Armen sind Rentnerinnen und Rentner – diese Zahl des Armutsberichts ist ein Grund zur Scham angesichts des Wohlstands in Deutschland. Es ist jetzt Zeit für einen Kurswechsel, sonst wird sich die Zahl derjenigen, die im Alter von der Grundsicherung leben müssen und unter Armut leiden, weiter deutlich erhöhen.
Menschen haben nach einem langen Arbeitsleben oder bei Erwerbsminderung eine gute Rente verdient; eine Rente, die mehr abdeckt als das Existenzminimum. Das ist eine Frage des Respekts vor der Lebensleistung der Älteren.
Die Große Koalition muss das Rentenniveau dauerhaft und auch nach 2025 stabilisieren und wieder anheben. Das ist die Basis einer guten Rentenpolitik. Die Rente nach Mindestentgeltpunkten ist fortzuführen, damit Zeiten niedriger Löhne nicht zu niedrigen Renten führen; davon profitieren insbesondere Frauen. Die Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten sollten abgeschafft und die aktuellen Verbesserungen des Rentenpakts einschließlich der längeren Zurechnungszeit müssen auch für diejenigen gelten, die schon heute Erwerbsminderungsrente beziehen. Darüber hinaus fordern wir, dass Bildungs- und Ausbildungszeiten – egal ob an einer Schule oder Universität – wieder in die Rentenbewertung aufgenommen werden. Bei Hartz IV müssen wieder Rentenbeiträge eingezahlt werden und zwar entsprechend 0,5 Entgeltpunkten pro Jahr. Die Regelbedarfe in der Grundsicherung müssen angehoben und ein Freibetrag für die gesetzliche Rente eingeführt werden, damit diese nicht voll angerechnet wird – dies sollte ebenso für die Sozialhilfe gelten.
Würde der Gesetzgeber dieses Sofortprogramm konsequent umsetzen, ergäbe sich nach langer Beitragszeit grundsätzlich eine Rente, die wenigstens die Höhe der Grundsicherung erreicht. Das sind wir nicht nur der jetzigen Generation an Rentnerinnen und Rentnern schuldig, sondern auch denjenigen, die 2030, 2040 oder 2050 in Rente gehen.“
Zum Netzwerk Gerechte Rente gehören neben dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) die größten Sozialverbände Deutschlands VdK, Paritätischer Wohlfahrtsverband, SoVD und Volkssolidarität sowie die Katholische Arbeitnehmerbewegung. Gegründet auf Initiative des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) vertritt das Netzwerk die Interessen von Millionen von Menschen und setzt sich für eine Rente ein, die für ein gutes Leben im Alter reicht – sowohl für die heutigen, als auch die zukünftigen Generationen von Rentenrinnen und Rentnern, für Jung und Alt.
Der 6-Punkte-Plan: Gute Rentenpolitik hilft gegen Altersarmut - Netzwerk für eine gerechte Rente schlägt 6-Punkte-Plan vor
Die Zahl der Menschen, die im Alter Grundsicherung beziehen, wird sich ohne konkrete Maßnahmen, die jetzt getroffen werden müssen, langfristig deutlich erhöhen. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Bedeutung des Rentenniveaus sowohl bei der Sicherung eines angemessenen Lebensstandards als auch bei der Vermeidung von Armut im Alter. Die verfügbaren Löhne stiegen von 2005 bis 2017 um 25,5 Prozent. Die Renten wurden jedoch nur um 15,2 Prozent erhöht.
Menschen haben nach einem Arbeitsleben im Alter oder bei Erwerbsminderung eine gute Rente verdient; eine Rente, die regelmäßig mehr abdeckt als das Existenzminimum. Das Netzwerk gerechte Rente fordert darum als Sofortmaßnahmen:
● das Rentenniveau dauerhaft zu stabilisieren und wieder
anzuheben,
● die Rente nach Mindestentgeltpunkten fortzuführen, davon
profitieren insbesondere Frauen,
● die Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten abzuschaffen.
Die Verbesserungen einschließlich der längeren Zurechnungszeit
müssen wertgleich auf diejenigen übertragen
werden, die schon heute eine Erwerbsminderungsrente
beziehen,
● (hoch-)schulische Bildungszeiten wieder zu bewerten,
● bei Bezug von ALG II wieder Beiträge zu zahlen –
entsprechend 0,5 Entgeltpunkten pro Jahr und
● die Regelbedarfe in der Grundsicherung anzuheben und
einen Freibetrag für die gesetzliche Rente einzuführen,
damit diese nicht voll angerechnet wird – dieser soll auch
in der Hilfe zum Lebensunterhalt (Sozialhilfe) gelten.
Durch diese Instrumente ergäbe sich nach langer Beitragszeit regelmäßig eine Rente, die wenigstens die Höhe der Grundsicherung erreicht. Beispielsweise bekäme eine Durchschnittsverdienerin mit 30 Arbeitsjahren und zehn Jahren Arbeitslosigkeit durch die Beitragszahlung im ALG II knapp 1.000 Euro ausgezahlt – statt 850 Euro nach heutigem Recht. Wer 40 Jahre in Vollzeit zum gesetzlichen Mindestlohn arbeitet, bekäme durch die Rente nach Mindestentgeltpunkte eine Rente von 890 Euro ausgezahlt – statt 580 Euro nach geltendem Recht. Bei 45 Jahren wären es sogar 1.000 Euro. Die Ersatzrate netto beliefe sich dann auf rund 90 Prozent.
Rentenniveau muss zunächst dauerhaft stabilisiert und wieder angehoben werden, um Armut im Alter zu vermeiden. Außerdem bedarf es guter Arbeit mit Tarifverträgen und als unterstem Netz eines ausreichenden gesetzlichen Mindestlohnes, damit die Menschen von ihrem Einkommen leben und Beiträge zahlen können. Das ist die Basis einer guten Rentenpolitik. Das haben die Menschen verdient, Jung wie Alt. Ein stabiles Rentenniveau hilft gerade auch jenen, deren Rente nur wenig über der Grundsicherung liegt. Mit einem stabilen Niveau sinkt ihre Rente auch dauerhaft nicht unter das Existenzminimum. Dies ist die beste Basis, damit sich eine zusätzliche Betriebsrente, gerade auch für Geringverdienende, lohnt.
Ergänzend muss der solidarische Ausgleich wieder gestärkt werden. Geringe Löhne müssen zu relativ höheren Renten führen, damit diese ein ausreichendes Alterseinkommen
gewährleisten. Auch während Zeiten der Bildung müssen Rentenansprüche erworben werden. Kindererziehung in Ost und West sowie vor und ab 1992 muss stets gleich viel wert
sein und voll aus Steuern finanziert werden. Die Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente müssen wirkungsgleich auf die bereits laufenden Renten angewendet werden. Und es muss darum gehen, allen einen sicheren und planbaren Übergang von der Arbeit in die Rente zu ermöglichen. Für Menschen ohne existenzsichernde Renten muss mit einer Anhebung der Regelbedarfe in der Grundsicherung ein menschenwürdiges Existenzminimum organisiert werden.
Hintergrund: Von 2003 bis 2015 hat sich die Zahl der Rentnerinnen und Rentner, die ergänzend Grundsicherung beziehen, von 1,2 auf 2,7 Prozent mehr als verdoppelt. Bei Erwerbsgeminderten sind die Zahlen noch höher: Hier ist mittlerweile jede siebte Rentnerin und jeder siebte Rentner auf Grundsicherung angewiesen. Ursachen dafür sind unter anderem Abschläge, gekürzter sozialer Ausgleich, lückenhaftere Erwerbsverläufe, aber auch das in diesem Zeitraum um rund 10 Prozent abgesenkte Rentenniveau Insgesamt 3,2 Prozent der über 65-jährigen Menschen in Deutschland bezogen im Jahr 2017 Grundsicherung. Die absolute Zahl der Betroffenen nimmt stetig weiter zu. Dass der Anteil seit 2015 dennoch weitgehend stabil ist, liegt an den von der Großen Koalition im Jahr 2014 beschlossenen Leistungsverbesserungen. Diese reichen von einer verlängerten Zurechnungszeit bis zur ausgeweiteten Kindererziehungszeit.
Auch die Tatsache, dass die Renten seit 2014/2015 wieder so stark wie die Löhne gestiegen sind, darf nicht vernachlässigt werden. Denn das führte zu einem stabilen Rentenniveau. Letztlich zeigt sich: Bessere Rentenleistungen wirken gegen Armut. Das Rentenniveau bis zum Jahr 2025 zu stabilisieren, ist also eine wichtige Maßnahme der regierenden Koalition aus SPD/CDU/CSU – auch zur Armutsvermeidung. Die erhöhte Zurechnungszeit ist in diesem Sinne zu begrüßen. Um die Wirkung zu verdeutlichen: 29 Entgeltpunkte ergaben 2005 eine Rente nach Sozialbeiträgen von 690 Euro – knapp neun Prozent über der durchschnittlichen Grundsicherung. Im Jahr 2017 lag die Rente mit 29 Punkten bei 800 Euro und damit 2,3 Prozent unter der Grundsicherung. Wäre die Niveausenkung bei der Rente unterblieben, die Rente also wie die verfügbaren Löhne gestiegen, ergäben 29 Punkte 2017 eine Rente von 855 Euro – 4,2 Prozent über Grundsicherungsniveau. Unberücksichtigt ist dabei, dass gleichzeitig die Maßnahmen des sozialen Ausgleichs abgebaut wurden, die niedrige Renten aufwerteten.
Zum Vergleich:
Das "Rentenpaket" der GroKo
Demgegenüber ist das "Rentenpaket" der GroKo, das als großer Schritt gegen Armut im Alter verkauft wird, der blanke Zynismus. Die sogenannte "Stabilisierung des Rentenniveaus" auf 48% bis 2025 bezieht sich auf den Lohn, den man in 45 Jahren versicherungspflichtiger Berufstätigkeit erhalten hat. Wer in dieser Zeitspanne rechnerisch immer das Durchschnittseinkommen verdiente (2017 waren dies 37.103 €) erhält davon 48% als Rente, wovon allerdings noch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge abgezogen werden. Die derzeitige Standardnettorente beläuft ich auf monatlich 1.284 € im Westen und .€ im Osten siehe Rainer Balcerowiak im taz-Kommentar "Geisterdebatte").
Es ginge auch anders, die Instrumente sind bekannt. In Österreich beispielsweise wurde die Frage der Alterssicherung wesentlich konsequenter angegangen. Dort gibt es eine Art Bürgerversicherung für alle Erwerbseinkommen. Das Rentenniveau ist deutlich höhe als in Deutschland. Ein Durchschnittsrentner bekommt Österreich monatlich 1.455 €. Auf teure und nutzlose Irrwege wie die geförderte private Altersvorsorge ("Riester-rente") hat man verzichtet.
Das Urteil der OECD über die deutsche Rentenpolitik
Längst stellt auch die OECD (Organisation für wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Entwicklung) der deutschen Rentenpolitik ein vernichtendes Zeugnis aus. So erreichen laut einer OECD-Studie Geringverdiener in Deutschland nur ein Rentenniveau von 55 Prozent ihres durchschnittlichen Einkommens. Der OECD-Schnitt liegt bei 82 % (!), in einige Ländern sogar über 80% des Bruttoverdienstes.
Hier die internationalen Vergleichszahlen des zu erwartenden Rentenniveaus in Prozent des Nettoverdienstes:
- 70,6% EU-Durchschnitt der 28 Länder
- 62,9% OECD-Durchschnitt
- 100,6% Niederlande
- 94,9% Portugal
- 93,2% Italien
- 91,8% Österreich
- 89,6% Ungarn
- 88,9% Bulgarien
- 88,4% Luxemburg
- 83,8% Slowakei
- 82,6% Zypern
- 81,8% Spanien
- 80,2% Dänemark
- 74,3% Frankreich
- 71,2% Litauen
- 66,1% Belgien
- 65,0% Finnland
- 50,0% Tschechein
- 59,5% Lettland
- 57,4% Estland
- 56,7% Slowenien
- 54,9% Schweden
- 53,7% Griechenland
- 51,6% Rumänien
- 50,5% Deutschland (demnächst 48%)
- 42,3% Irland
- 41,9% Malta
- 38,6% Polen
- 29,0% Großbritannien
Selbst wenn man einschränkt, dass in den osteuropäischen, den baltischen und südeuropäischen Staaten die Einkommensbasis, auf die sich die Rentenprozente beziehen, deutlich niedriger ist als in Deutschland, gehört unser reichstes Land immer noch zu den Schlusslichtern mit dem mit Abstand niedrigsten Rentenniveau, so dass mindestens der EU-Durchschnitt von 7o% anzustreben wäre. Dahinter bleibt leider auch der Forderungskatalog des DGB und der Sozialverbände weit zurück, die alle vor einer radikalen Rentenreform zurückschrecken und fast nur bestrebt sind, Altersarmut abzumildern oder zu vermeiden.