Wilhelm Neurohr

Betrachtungen zum Jahreswechsel 2020/2021:

Sieg der Vernunft statt Krieg gegen die Natur

Vergisst die Menschheit über Corona die Klimakatastrophe?

„Der Planet ist kaputt“

UN-Generalsekretär Guterres zum Klimawandel

im Dezember 2020 [1]

2020 war ein verlorenes Jahr für den Klimaschutz. Corona-bedingt fiel in diesem Jahr die Klimakonferenz aus und wurde um ein Jahr vertagt auf November 2021 in Glasgow. Der virtuelle eintägige Klimagipfel am 12. Dezember 2020 in New York wird ohne Verhandlungen und Abschlussdokumente verlaufen. Die Verantwortlichen begreifen nicht, dass Klimawandel nichts ist, was in der Zukunft stattfindet, sondern er ist bereits da und beeinflusst unser menschliches Leben. Im November 2020 wurde in Genf der 400-seitige „Weltkatastrophenbericht 2020“ der internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung vorgestellt[2]. Demnach hingen 2019 bereits drei Viertel aller Naturkatastrophen mit dem von Menschen verursachten Klimawandel zusammen. Der Zustand der Erde ist immer lebensbedrohlicher[3].

Die Erderwärmung wurde nicht gestoppt. Das Jahr 2020 erwies sich nach vorläufigen Analysen der Weltwetterorganisation (WMO) als das wärmste Kalenderjahr Europas seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts.[4] „Apokalyptische Feuer und Überschwemmungen, Zyklone und Hurrikans sind die neue Normalität“, so formulierte es UN-Generalsekretär Guterres im Dezember 2020[5] und fand deutliche Worte: „Der Planet ist kaputt“. Er rief die Menschen zu einem Ende ihres "Krieges gegen die Natur" auf. Warum zerstören Menschen ihren Planeten und damit ihre Lebensgrundlage?

Die Treibhausgas-Emissionen erreichten 2019 einen Rekordwert von fast 60 Gigatonnen (Emissions-Gap-Report des UN-Umweltprogramms). In der EU ist das Ziel umstritten, die Treibhausgase um mindestens 55% zu verringern. Damit ist auch das Bekenntnis fragwürdig die Europäische Union bis 2050 klimaneutral zu machen, also alle Treibhausgase zu vermeiden oder auszugleichen, insbesondere für emissionsfreien Verkehr zu sorgen, der für fast 30% der Kohlendioxid-Emissionen in der EU verantwortlich ist. Extremwetterereignisse, Waldbrände und die Gletscherschmelze werden weitere Rekorde brechen. Daran wird auch der coronabedingte Emissionsrückgang 2020 nichts ändern.

Die Menschen sollen sich deshalb laut Appell des UN-Generalsekretärs verpflichten, den Ausstoß von Treibhausgasen zu beenden. Das UN-Umweltprogramm UNEP[6] warnte, die derzeit geplante weltweite Produktion von fossilen Brennstoffen sei viel zu hoch, um die Pariser Klimaziele bis 2030 erreichen zu können. Statt der Reduzierung fossiler Brennstoffe bis 2030 um 6% sind bislang nur 2% geplant – damit würden bis 2030 doppelt so viele fossile Brennstoffe produziert werden als im Pariser Abkommen vereinbart. Momentan nimmt die Bundesrepublik im Klimaschutz-Index insgesamt nur den mittelmäßigen 19. Platz ein – hinter Ländern wie Indien, Chile und Marokko. Die USA landen auf dem desaströsen Platz 57 ganz am Ende, noch hinter Saudi-Arabien und dem Iran[7].

Reparatur des Planeten als Weg aus der Corona-Krise

Der Weg aus der Corona-Krise bietet aber nunmehr eine Chance: „Die Corona-Erholung und die Reparatur des Planeten können zwei Seiten derselben Medaille sein", sagte der UN-Chef in einer Rede an der New Yorker Columbia University [8]. Und der Präsident der Pariser Klimakonferenz, Laurent Fabius, forderte die Regierungen dazu auf, mittel- und kurzfristige Klimaziele zu setzen und zu erfüllen. Es reiche nicht aus, langfristige Ziele zu setzen, bei denen unsicher sei, ob sie jemals umgesetzt würden. Die Staaten sollen bis zur nächsten Klimakonferenz ihre Klimaschutzpläne ehrgeiziger machen - denn „der Klimawandel ist schneller als wir“ (Guterres)[9].

Die Weltnaturschutzorganisation (IUCN) - das weltweit größte Netzwerk staatlicher und nichtstaatlicher Umweltorganisationen - sieht den Klimawandel mittlerweile als größte Bedrohung der Weltnaturerbe-Stätten, wozu auch das Wattenmeer an der Nordsee gehört. Die UNEP-Chefin Inger Andersen sieht jedoch in der Corona-Pandemie eine umweltpolitische Chance: So könnten die Volkswirtschaften weltweit mithilfe von "Investitionen in kohlenstoffarme Energien und Infrastruktur" wiederbelebt werden[10].

„Hört auf zu reden, handelt endlich!“

Das Wirtschaften ohne Rücksichtnahme auf die Leistungsfähigkeit der Natur - mit dem Mantra des ständigen Wachstums statt der Reduzierung des Ressourcenverbrauchs – ist ebenso zerstörerisch wie die Klimakrise und macht unseren Planeten kaputt. „Hört auf zu reden, handelt endlich!“ forderten Kinder deshalb 5 Jahre nach dem Pariser Klimagipfel im Vorfeld des virtuellen Klimagipfels der Vereinten Nationen am 12. Dezember 2020.

Die Internationale Kinderhilfsorganisation World Vision hat eine Wiederbegrünungsaktion mit dem Titel „ReGreen the Globe“ gestartet, um nachhaltige und umweltfreundliche Landwirtschaft umzusetzen und degenerierte Böden mit Hilfe einer regenerativen Wiederaufforstungsmethode wieder aufzuforsten[11]. Denn die flächenzehrende Siedungspolitik, die umweltzerstörerische Verkehrspolitik und nicht zuletzt die verfehlte Forst- und Landwirtschaftspolitik sind ebenso zerstörerisch wie die Klimakrise und verursachen auch das dramatische Artensterben[12], wie in der Monitor-Sendung vom 02.05.2019 dokumentiert mit dem Titel: „Das große Artensterben – Wie die Agrarpolitik Julia Klöckners die Artenvielfalt bedroht.“[13] Der Niedergang der Natur vollzieht sich in einem nie dagewesenen Tempo, wie die Weltnaturschutzorganisation IUCN[14] warnt. „Die Artenvielfalt ist das Immunsystem unseres Planeten“[15]. Und demgemäß bedroht auch das Corona-Virus unser individuelles und kollektives Immunsystem. Doch noch ist der Kampf nicht verloren.

Vernunft muss an erster Stelle stehen

Es geht also darum, dass Vernunft an erster Stelle steht, um Stürme, Hitzewellen, Dürre, Waldbrände, Überflutungen und Umweltzerstörung einzudämmen – und damit auch die Wiederholungsgefahr des Überspringens gefährlicher Viren aus der Tierwelt auf den Menschen infolge ökologisch bedrohter natürlicher Lebensräume zu vermeiden. Denn der anhaltende Verlust dieser Lebensräume durch das Abholzen von Wäldern – 100 Mio. ha Regenwald des Ökosystems Erde sind vernichtet – , durch das Waldsterben und die industrialisierte Landwirtschaft sowie durch den immensen Flächenverbrauch durch Zersiedelung ist ebenso zerstörerisch wie die Klimakrise, wie der Weltbiodiversitätsrat im April 2019 untersucht hat.[16] Der alarmierende UN-Weltbericht von 2019 zu dem von Menschen verursachten massenhaften Artensterben verdeutlicht das erschreckende Ausmaß: Von 8 Mio. Tier- und Pflanzenarten sind bis zu 6 Mio. vom Aussterben bedroht. Und kein einziges Ziel der Biodiversitäts-Konvention wurde erreicht[17]!

Auch wollte die Bundesrepublik eigentlich mit ihrer „Nachhaltigkeitsstrategie“ von 2016[18] den Flächenverbrauch durch anhaltendes Siedungswachstum (trotz schrumpfender Bevölkerung in vielen Regionen) stoppen, ebenso die Zerschneidung natürlicher Lebensräume durch weitere Verkehrswege. Bis zum Jahr 2030 wollte die Bundesregierung den Flächenverbrauch konkret auf unter 30 ha pro Tag reduzieren, bis 2050 sogar das Flächenverbrauchsziel Netto-Null erreichen (durch Flächenkreislaufwirtschaft als Ziel der EU-Kommission). Tatsächlich werden jedoch täglich 56 ha Siedlungs- und Verkehrsflächen neu ausgewiesen und größtenteils versiegelt – also fast doppelt so viele Flächen, wie der NABU kritisiert: Bereits am 14. Juli sei der „30-ha-Tag“ schon erreicht[19]. Das gefährdet den lebensnotwendigen Bodenschutz und wirkt sich auch nachteilig auf die Klimaschutz-Bemühungen aus.

Flächen sind nicht beliebig vermehrbar und ersetzbar

Ländliche Gebiete und wertvolle landwirtschaftliche Böden werden zersiedelt, unzerschnittene Landschaftsräume gehen für Tier- und Pflanzenwelt durch Siedlungs- und Verkehrsplanung verloren, als seien die Flächen beliebig vermehrbar oder ersetzbar. Somit rückt das Nachhaltigkeitsziel in weite Ferne, ebenso wie die verkündeten Ziele zum Klimaschutz. Statt Vernunft waltet weiterhin Irrationalität, nicht zuletzt auch in der gemeindlichen Planungs-, Bau- und Siedungspolitik, wo mit Nachbarkommunen entgegen den Bevölkerungsprognosen unverdrossen um ungebremstes Wachstum der Flächen und Einwohner konkurriert wird – zum Preis der Zerstörung eigener Lebensräume und Klimazonen sowie stetig steigender Immobilienpreise auch durch maßlose Spekulation.

Am Beispiel der Stadt Haltern am See - als beliebte Zuwanderungsgemeinde vor allem für wohlhabende Bevölkerungsschichten aus dem gesamten Ruhrgebiet - soll der Irrsinn und die Fehlentwicklung mit hohen infrastrukturellen Folgekosten in einer fundierten Studie näher aufgezeigt werden, die für 2021 in Arbeit ist. Unverdrossen fordern Kommunalpolitiker fast aller Coleur weiterhin noch mehr Siedungsflächenausweisungen in wertvollen Freiflächen von Ihren übergeordneten Regional- und Landesplanungsbehörden mit ihren sinnvollerweise restriktiven Planungsvorgaben. Inzwischen liegen in dieser Wohnstadt die Quadratmeterpreise für Baugrundstücke mit 300 € bis 350 €/qm fast doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt, mit jährlichen Steigerungsraten bis 10%. Doch weiterhin werden zugunsten privater Investoren und Spekulanten für lukrative Wohnbauprojekte der oberen Preissegmente bereitwillig der Boden bereitet (ohne auch nur anteilig eine einzige einzuplanende Sozialwohnung abzuverlangen), in der irrigen Hoffnung auf vielleicht preisdämpfende Wirkung. Eigentlich wären Entsiedelungskonzepte, Flächenrecyling und Renaturierungen die richtige Antwort auf die städtebaulichen Herausforderungen dieser Zeit. Was hat dieses Thema mit der globalen Klimakatastrohe zu tun? Sehr viel, wenn man näher hinschaut, denn nachhaltige Veränderungen beginnen vor der Haustür.

„Unsere individuelle Gier zerstört unseren Planeten“.

Das individuelle Handeln und Verhalten eines jeden Einzelnen und auch der örtlichen Gemeinschaften an jedem Ort der Welt ist ein sich summierender Beitrag für das Klimageschehen und den sozialen Zusammenhalt auf unserem Planeten insgesamt. Die Verantwortung kann nicht auf allein auf Regierungen oder „global zuständige Organisationen“ abgeschoben werden, obwohl von dort wichtige politische Weichenstellungen dringend notwendig sind. Doch wir können kaum leugnen und übersehen, wie mittlerweile die Gier die Welt zerstört, und der ungebremste Kapitalismus offensichtlich an seine Grenzen stößt, wie sogar von kirchlichen Würdenträgern immer deutlicher formuliert wird:„Unsere individuelle Gier zerstört unseren Planeten“[20].

Am ärgsten betroffen vom Klimawandel und von den wirtschaftlichen Corona-Folgen sind die Menschen in den Armutsländern auf der südlichen Erdhalbkugel. Unvernunft und Ungerechtigkeit sind dabei die Verbündeten der Gier. Übersteigerte Maßlosigkeit bedroht die Menschheit, doch wie viel Unmäßigkeit vertragen die Menschen und ihr Planet? Mit diesen nachdenklichen Fragen in einen dank Corona besinnlichen, stillen Jahreswechsel zu gehen, wäre vielleicht nicht ganz so verkehrt? Mahatma Gandhi hat es treffend ausgedrückt: „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier“.

Mehrheit wünscht sich nachhaltige Veränderungen nach Corona

Aktuell hat eine repräsentative Greenpeace-Umfrage (von Kantar/Emnid) im Mai 2020 ergeben: Eine Mehrheit wünscht sich nachhaltige Veränderungen nach Corona, Und eine Mehrheit der Menschen in Deutschland ist bereit, ihren Lebensstil zugunsten einer lebenswerten Welt zu verändern. So würden 69 Prozent der 1033 Befragten für das Abwenden der Klimakrise ähnlich konsequente Maßnahmen akzeptieren wie derzeit zur Bewältigung der Corona-Krise. Unter den 14- bis 29-Jährigen sind es sogar 89 Prozent. 70 Prozent wollen, dass Wirtschaftshilfen für Unternehmen an Klimaschutzauflagen gebunden werden. Die Corona-Krise hat bei vielen in kürzester Zeit einen Mentalitätswandel angestoßen”, sagt Kirsten Brodde, Leiterin der Klima- und Energiekampagne von Greenpeace. “Die Politik hat damit Spielräume für mutige Entscheidungen im Kampf gegen die Klimakrise.”[21]

Waren Naturerlebnisse für 77 Prozent auch vorher schon wichtig, so haben diese für gut ein Fünftel (21 Prozent) während der Lockdown-Phase noch an Bedeutung gewonnen. “Viele Menschen haben ihren Blick aufs Wesentliche geschärft: Freunde, Familie, Natur vor der Haustür. Der Hunger nach Veränderung in diesen Umbruchzeiten ist groß”, so Kirsten Brodde. Sind wir also bereit für den Wandel? Ein dankbares Thema für die Silvesternacht anstelle einer lauten alkoholisierten Böller-Party….

Wilhelm Neurohr

9. Dezember 2020

„Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse,

aber nicht für jedermanns Gier“

Mahatma Gandhi


[1] https://www.tagesschau.de/ausland/un-klima-guterres-101.html

[2] https://www.drk.de/presse/pressemitteilungen/meldung/weltkatastrophenbericht-2020-drk-warnt-klimabedingte-naturkatastrophen-nehmen-zu/

[3] Tagessschau vom 13. März 2019 über den UN-Bericht

[4] Ruhr-Nachrichten 08.12.2020

[5] https://www.tagesschau.de/ausland/un-klima-guterres-101.html

[6] https://www.bmu.de/themen/europa-internationales-nachhaltigkeit-digitalisierung/int-umweltpolitik/unep/

[7] Ruhr-Nachrichten vom 08.12.2020

[8] https://www.tagesschau.de/ausland/un-klima-guterres-101.html

[9] https://www.tagesschau.de/ausland/interview-guterres-103.html

[10] https://www.tagesschau.de/ausland/un-klima-guterres-101.html

[11] https://www.lifepr.de/pressemitteilung/world-vision-deutschland-ev/World-Vision-startet-Wiederbegruenungsbewegung-ReGreen-the-Globe/boxid/827241

[12] Idw-online vom 28.10.20 (Informationsdienst Wissenschaft)

[13] https://www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/video-das-grosse-artensterben-wie-die-agrarpolitik-julia-kloeckners-die-artenvielfalt-bedroht-100.html

[14] https://www.bmu.de/themen/natur-biologische-vielfalt-arten/naturschutz-biologische-vielfalt/biologische-vielfalt-international/weltnaturschutzunion-iucn/

[15] Zitat: Felix Prinz von Löwenstein , Bund ökologischer Lebensmittelwirtschaft (BÖLW)

[16] BUND und Weltbiodiversitätsrat https://www.zeit.de/wissen/2019-04/biodiversitaet-artenvielfalt-artenschutz-konferenz-paris-klimawandel-

[17] https://taz.de/UN-Bericht-zu-globaler-Biodiversitaet/!5709830/

[18] https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975292/730844/3d30c6c2875a9a08d364620ab7916af6/deutsche-nachhaltigkeitsstrategie-neuauflage-2016-download-bpa-data.pdf

[19] https://www.nabu.de/news/2020/07/30hektartag.html

[20] Ökumenischer Patriarch Bartholomaios I. in Wien 2015

[21] https://www.greenpeace.de/presse/presseerklaerungen/greenpeace-umfrage-mehrheit-wuenscht-sich-nachhaltige-veraenderungen-nach