Wilhelm Neurohr

"Globalisierung und Ethik - Die soziale Frage als eine ethisch-moralische Frage"

von Wilhelm Neurohr (Erstveröffentlichung im "Rundbrief Sozialimpulse" 4/2004)

Die Ethik - das sittliche Wollen und Handeln des Menschen in der jeweiligen Situation - war zu Zeiten ihres Begründers Sokrates und dann vor allem unter Aristoteles eine philosophische Grunddisziplin, die im Mittelpunkt aller Betrachtungen und Bestrebungen stand. Durch Kant erfuhr die Ethik später eine Neubegründung. Als selbständige Disziplin ist die Sittenlehre aber in der Philosophie der Gegenwart, insbesondere unter dem Einfluß des Existentialismus zwischen dem 1. und 2. Weltkrieg mit dem Verlust hergebrachter Ordnungen fast völlig verschwunden. Die drei großen Strömungen der Existenzphilosophie wurden von Heidegger, Jaspers und Sartre geprägt, bei deren Betrachtungen der Seinsweisen des Menschen jedes idealistische oder humanistische Menschenbild teilweise scharf abgelehnt wurde.

Erst mit den unsozialen und unmenschlichen Auswirkungen der Globalisierung in ihrer neoliberalen Ausprägung wird mit Beginn des 21. Jahrhunderts wieder verstärkt der Ruf nach ethischem Handeln und ethischer Orientierung laut. Es regt sich allmählich die innere Stimme des Gewissens bei denjenigen, die als Zeitgenossen unter den Gegenwartsverhältnissen und deren Fortschreibung in die Zukunft leiden. Die soziale Frage steht als eine ethisch-moralische Frage auf der Tagesordnung für die gesamte Menschheit als Schicksalsgemeinschaft.

Die Beobachtung der Gegenwartsentwicklung verdeutlicht recht schmerzhaft, wie Moral und Ethik aufgrund des vorherrschenden sozialdarwinistischen Menschenbildes und des damit legitimierten Egoismus verdrängt werden. Die Marktfundamentalisten halten es für die normalste Sache der Welt, daß der Mensch wie ein Tier um Nahrung, Existenz und Überleben mit den anderen Menschen konkurrieren soll, statt mit ihnen zu kooperieren. Auf dem Schauplatz des globalen Geschäfts- und Wirtschaftslebens verlieren der Einzelne und ganze Gesellschaften die elementaren Bedürfnisse der Menschen und der Menschengemeinschaft aus den Augen - und damit auch den eigentlichen Sinn und Zweck des arbeitsteiligen und grenzenlosen Wirtschaftens selber. Die Wirtschaft wird zum Selbstzweck statt den Menschen zu dienen.

Zudem verstehen sich die meisten Politiker inzwischen als Diener dieser Wirtschaft, in dem ideologischen Irrgauben, damit das Wohl der Menschen zu mehren und Schaden von ihnen zu wenden. Unsere Art zu wirtschaften fügt in Wirklichkeit anderen und letztlich allen Menschen Schaden zu durch eigensüchtiges Leben und grenzenlose Gier nach Profit, ohne das sich das innere Gewissen regt. Konkurrenzwirtschaft nach dem Motto „Jeder gegen jeden“ ist aber kein ethisches Prinzip. Es führt gerade nicht zum brüderlichen Teilen des gemeinsam erwirtschafteten Wohlstandes und der weltweiten Ressourcen in der arbeitsteiligen Welt. Wir erleben eher globales Räubertum und Raubrittertum zugleich und sind damit auf bestem Wege in barbarische Verhältnisse. Wenn inzwischen über 800 Mio. Menschen auf der Erde hungern, die Armut einerseits und der Reichtum andererseits extrem wachsen, dann kann dies wohl nicht als ethisch-moralisches Verhalten gerechtfertigt werden.

In den reicheren und „zivilisierten, fortgeschritteneren“ Ländern gilt inzwischen der bislang ausgleichende Sozialstaat als Quell allen Übels. Er gilt als Wachstums- und leistungsfeindlich, er lähmt angeblich die Eigeninitiative und gilt als viel zu teuer, weil „kein Geld mehr da“ sei. (In Wirklichkeit haben Unternehmen mit Rekordgewinnen Milliarden Summen an Steuern vom Staat zurückerstattet bekommen, um daraufhin tausende Arbeitspläze oder Lohnkosten einzusparen zwecks weiterer Steigerung der Aktienerlöse. Das Geld wird aber nicht in neue Arbeitsplätze oder Produktionsstätten investiert, sondern an den internationalen Finanzmärkten spekulativ eingesetzt.)

Wer an die Sozialstaatsklausel und an die Sozialverpflichtung des Eigentums im deutschen Grundgesetz erinnert oder eine solche für die Europäische Verfassung einfordert, wird zum Außenseiter abgestempelt, der nicht mehr ernst zu nehmen ist.1 Statt dessen findet eine Art Enteignung der Staates und des Volkes durch die Wirtschaft statt, mit Wegbereitung durch die vom Volk gewählten Politiker, die nicht den eigentlichen Volkswillen vollziehen und auch nicht dem Rechts- und Unrechtsempfinden des Volkes Rechnung tragen. Die Tatsache der Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten wird beiseite gewischt.

Eine grenzenlose Welt hebt geschlossene Wertegemeinschaften sowie nationalstaatliche, territoriale oder nationalökonomische Handlungsweisen auf

Die Ablösung der sozialstaatlich flankierten Nationalökonomie durch den grenzenlosen Kapital- und Warenverkehr markiert allerdings in der Auseinandersetzung mit den allmächtigen Weltkonzernen das Ende nationalstaatlicher und nationalökonomischer Lösungen von Sozial- und Gesellschaftskonflikten in territorialen Grenzen. Alte geschlossene Wertegemeinschaften und nationalstaatliche Grenzen spielen keine Rolle mehr. Die moralisch-ethische Frage der sozialen Gerechtigkeit, sofern sie heutzutage noch unwidersprochen gestellt werden darf, ist inzwischen zu einer globalen Menschheitsfrage geworden.

Die Menschen machen die schmerzliche Erfahrung, dass das Globale und Lokale direkt und untrennbar durch alle scheinbar sicheren Staatsmauern und Rechtsverordnungen hindurch verbunden sind und nationale Wirtschaftspolitik absurde Klimmzüge unternimmt. Es hilft nicht weiter, im nationalen Blick zu verharren oder bei transnationalen Unternehmen patriotisches Verhalten in einer vernetzten Welt anzumahnen. 2 Das global agierende Kapital und die global wandernden Arbeitsmärkte erfordern ganz neue Antworten und Herangehensweisen, um die in der neuen sozialen Bewegung der Zivilgesellschaft in weltweiter Vernetzung nach ethischen Maßstäben gerungen wird.

Politiker, Wirtschaftsführer, Wirtschaftswissenschaftler und Journalisten sowie viele durch deren Meinungsführerschaft verunsicherte Menschen sind derweil einer für „alternativlos“ erklärten schädlichen Ideologie des Neoliberalismus verfallen und behaftet, in der das Mitgefühl für die Verlierer im Wirtschaftsleben ausgeblendet wird. Heutzutage können Wirtschaftsentscheidungen in den einen Ländern faktische Todesurteile für Menschen in anderen Ländern bedeuten, blickt man einmal auf die Krankheits- und Sterberate oder Lebenserwartung bei den Ärmsten. Die Verantwortlichen handeln jedoch in der erklärten Überzeugung, dem wirtschaftlichen und damit dem menschlichen Fortschritt zu dienen. Das Einfühlungsvermögen, sich in nachteilig Betroffene und deren Abhängigkeiten hineinzuversetzen, ist in der globalen Schicksalsgemeinschaft unterentwickelt, aber von ausschlaggebender Bedeutung für Moral und Ethik sowie Menschheitskultur.

Soziale Gerechtigkeit war bislang eine kulturelle Errungenschaft und ethischer Wertmaßstab politischen Handelns und Rechtsempfindens und damit ein Segen für das Gemeinschaftsleben. Mittlerweile wird der Begriff des „Sozialen“ politisch umdefiniert, um das unsoziale Handeln und den Sozialabbau zu legitimieren. Die davon betroffenen Menschen sehen ihr ethisch-moralisches Wertesystem erschüttert und auf den Kopf gestellt, während die politische und wirtschaftliche „Elite“ die moralischen Bedenken und die Solidaritätsforderungen aus dem Volk als „Sozialromantik“ belächelt oder verurteilt.

Die Menschen als soziale Wesen sind jederzeit und überall aufeinander angewiesen

Aus diesen Beweggründen ist eine neue soziale Bewegung, ein globalisierungskritisches Netzwerk vieler Individuen mit Verantwortungsgefühl, Gerechtigkeitsempfinden und Mitleidsfähigkeit auf den Plan getreten. Gefordert wird auch im Geschäfts -und Wirtschaftsleben wie im politisch-gesellschaftlichen Leben die Einhaltung von Menschenwürde und Menschenrechten. Diese zivilgesellschaftliche Bewegung entfaltet eine große kulturelle und soziale Kraft. Sie ist hilfreich für andere und letztlich für alle Menschen, indem sich immer mehr Menschen vernetzen und individuell einbringen. Durch sie wird wieder ins Bewusstsein gerufen, dass die Menschen soziale Wesen sind, die jederzeit und an jedem Ort aufeinander angewiesen sind. Durch diese Erkenntnis kann individuelle Verantwortung entstehen für die Art und Weise der Globalisierung.

Armut und Elend von Hunderten Millionen Menschen als Globalisierungsverlierer sind Grund und Anlass genug, Mitgefühl zu wecken, das sich als Solidarität oder brüderliches Verhalten auswirkt, mit Interesse am anderen Menschen und seinem Wohlergehen. Denn nicht nur das eigene Tun, sondern auch das eigene Unterlassen wirkt sich auf andere aus. Anstatt sich der Verantwortung zu entziehen, z. B. auch durch Flucht in bloße Meditationsformen (ohne die Früchte in die Gemeinschaft zu tragen), stellen sich immer mehr besorgte Menschen mit klaren Zielen und Aussagen ihrer Verantwortung, indem sie sich mit anderen zur Aktion zusammentun und sich auch um eigene Verhaltensänderungen und ethische Zukunftsentwürfe bemühen.

Sie haben im Sinne des Dalai Lama 3 erfaßt, daß der Lebensstil in den wohlhabenden Ländern reduziert werden muß, wenn auch die Menschen in armen Ländern Anteil an besseren Lebensverhältnissen erhalten sollen. Durch diese allmählichen Sensibilisierungen infolge der globalen Fehlentwicklungen mit der Erkrankung des Wirtschaftslebens und im sozialen Zusammenleben hat sich mittlerweile eine Ethik-Welle, ein wahrer Ethik-Boom herausgebildet, der zu Hoffnungen Anlaß gibt - sofern er nicht den ethischen Individualismus4 untergräbt in dem hörbaren Ruf nach Autoritäten, Regeln, Normen oder Religionsführern. Die Menschen müssen heutzutage aus sich selber heraus, aus ihren Erkenntnissen und ihren inneren Lebensmotiven und Gewissensregungen sowie aus den Menschenbegegnungen und dem Spiegeln ihrer eigenen Handlungen und dessen Folgen ihre ethische Orientierung finden und damit ihre soziale Gemeinschaftsfähigkeit entwickeln. Auf dem Wege zu diesem Ziel haben Normen und Moralgesetze einstweilen ihre Berechtigung. Es ist eine soziale Notwendigkeit, eine Besserung der sozialen Beziehungen sowohl mit den Mitteln der Politik als auch durch die Vervollkommnung des Individuums zu erzielen.

Das vielfältige Bemühen um globale Ethik am Beginn des 21. Jahrhunderts

Aus dem Bedürfnis nach ethischer Rückbesinnung und Umorientierung sind viele Projekte und Initiativen, die einen anderen Ansatz haben, in der Diskussion: Es gibt das Projekt „Weltethos“ des Theologen Hans Küng und anderen, bei dem im Zusammenwirken aller Religionsführer die ethisch-moralischen Übereinstimmungen der Weltreligionen als ethische Orientierungshilfe für die Menschheit heraus gearbeitet werden sollen. Die Gorbatschow-Stiftung hat ein „Parlament der Weisen“ ins Gespräch gebracht. Ähnliches schwebt dem Dalai Lama5 vor mit einem „Weltrat“ der Menschen, als eine Körperschaft aus Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Lebensbereichen kommen: Künstler, Bankiers, Umweltschützer, Anwälte, Dichter, Akademiker, Religionswissenschaftler, Schriftsteller sowie einfache Männer und Frauen mit gutem Ruf als Individuen, denen die ethisch-moralischen Grundwerte mit Blick auf die gesamte Menschheit am Herzen liegen. Diese unabhängige Instanz ohne politische Macht, die keiner Nation, keinem Staatenbund und keiner Ideologie verpflichtet wäre und den Gang der Ereignisse aus ethischer Sicht beobachten soll, könnte mit ihren unverbindlichen Erklärungen und Überlegungen als „moralische Autorität“ das „Weltgewissen“ repräsentieren, so die Vorstellung des Dalai Lama, der die Vereinten Nationen für diese Funktion für nicht so gut geeignet hält.

Es gibt überdies die „Weltbürgerstiftung“ auf der Basis der von Dark Hammerskjöld entworfenen Ethik - dem früheren spirituell orientierten UN-Generalsekretätr der einem Attentat zum Opfer fiel. Von vielen Prominenten unterstützt wird auch das Bemühen der „Global Marshall Plan“-Initiative6 im Zusammenwirken mit dem „Club of Rome“ und dem „Club of Budapest“, zugunsten der Menschen in den ärmeren Ländern aus ethischer Gesinnung Hilfsgelder zu rekrutieren und Projekte zu fördern. Hierbei wird versucht, nicht nur die Staaten, die Zivilgesellschaft sowie viele engagierte Einzelpersonen und Gruppeninitiativen zu vernetzen und einzubeziehen, sondern auch die Weltkonzerne, die Weltbank und Welthandelsorganisation für die gemeinsame Zielsetzung zu gewinnen und zum Zusammenwirken für diese große Menschheitsaufgabe zu bewegen.

Seit über 10 Jahren ist überdies die globale Bewegung für soziale, ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit im Rahmen der Agenda 21 aktiv, die sich seit der Rio-Konferenz um die Zukunft der gesamten Menschheit und nachfolgender Generationen bemüht, quasi als Gegenentwurf zur kurzsichtigen neoliberalen Markt- und Wachstumsorientierung und zum Marktfundamentalismus.7 Ferner gibt es Vorbereitungen, eine Bewegung für „Menschenrechtsstädte“ weltweit ins Leben zu rufen. Seit längerem sind zivilgesellschaftliche Menschenrechtsorganisationen auf vielen Handlungsfeldern aktiv, in dem Bemühen, weltweit den Menschenrechten und der Menschenwürde zur Geltung zu verhelfen. Denn Menschenrechte sind allgemeine Prinzipien, die uns das Zusammenleben in einer globalisierten Welt ermöglichen, in der es keine homogenen Kulturkreise mehr gibt.

Und schließlich gibt es seit einiger Zeit die „Bewegung für Humanwirtschaft“ sowie das globale Netzwerk für soziale Dreigliederung, das Übungs- und Zukunftswege aufzeigt, wie dem Antisozialen im Wirtschaftsleben begegnet werden kann und welche Wege es gibt zu Gerechtigkeit und Menschenwürde im globalen Wirtschaftsleben. Um diese Fragen wird auch gerungen auf den zivilgesellschaftlichen Weltsozialforen, dem europäischen Sozialforum oder den regionalen und örtlichen Sozialforen, die sich den sozialen Zukunftsfragen als ethische Fragen nähern, ebenso wie die international vernetzte Friedensbewegung. Es gibt in vielen Zusammenhängen die Rückbesinnung auf die Menschenrechtscharta und -konvention.

Auch in den vorhandenen Institutionen, in Kirchen, Parteien und Hochschulen sowie Wirtschaftsunternehmen wird um ethische Entwicklung gerungen: In den politischen Parteien finden „Grundwerte-Diskussionen“ statt oder es werden ethische Leitbilder entworfen. Die Kirchen unterhalten eigene Institute für Sozialethik, z.B. mit dem bekannten Sozialethiker Friedhelm Hengsbach an der Spitze. An den Hochschulen wie z.B. der Universität Münster werden berufsbegleitende und weiterbildende Studiengänge „Angewandte Ethik“ für Persönlichkeiten aus dem wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Leben sowie aus den Wissenschaftszweigen angeboten, die mit einem Master-Abschluss beendet werden können. Die gesamte Palette von der Medizin- und Bioethik über die Umweltethik und Wirtschaftsethik bis hin zur Wissenschafts- und Technik-Ethik und politischen Ethik wird dabei abgehandelt. Kirche und Wissenschaft wirken zusammen in der “Initiative Zukunft“, die auf Zukunftsforen ethische Gesellschaftsentwürfe erarbeiten will, wie wir morgen in der globalen Welt leben wollen. Und in einigen Unternehmen werden Fragen der Wirtschafts- und Unternehmensethik zumindest ansatzweise erörtert.

An den Schulen wird seit längerem Ethik-Unterricht als Ersatz für den rückläufigen Religionsunterricht oder zu seiner Ergänzung angeboten. Manche Schulen praktizieren angewandte Ethik durch Hilfsprojekte in der Dritten Welt unter dem Sichtwinkel der „Einen Welt“, um daran individuelle Sittlichkeit bei den Schülern zu erwecken. Und im Zuge der „aktiven Bürgergesellschaft“ und der Stiftungen für bürgerschaftliche Mitverantwortung wird an vielen Orten in den Kommunen ganz konkretes ethisches Handeln im Rahmen des gemeinnützigen Engagements alltäglich praktiziert.

Daneben gibt es eher zweifelhafte Einrichtungen wie die des nationalen Ethik-Rates der deutschen Bundesregierung, die der Kanzler wegen der allzu ethischen Orientierung der Enquet-Kommission des Bundestages zur Bio- und Gentechnik als „wissenschaftsfreundlicheren“ (sprich lebensfeindlicheren) Gegenpol eingerichtet hat, um ethische Bedenken auszuräumen und die Einwände des Bundestages zu neutralisieren. Auch die sogenannte „Bio-Ethik-Konvention“ ist eher ein Etikettenschwindel, mit dem der Ethik-Begriff mißbräuchlich eingesetzt oder sogar ins Gegenteil verkehrt wird, indem er zweifelhafte Experimente mit der Natur und den Menschen aus materialistischer Gesinnung und Motiven des Profits für ethisch vertretbar erklärt.

Die Ethik als eine individuelle Herausforderung: Individualisierung der globalen Verantwortung

Die über 80-jährige weltweite Anthroposophische Bewegung, deren zugehörige Individuen sich auf vielfältige Weise im ethischen Individualismus versuchen, gibt Anleitungen zum Bemühen um eigene innere sittliche Autonomie, wie sie Rudolf Steiner im 9. Kapitel seiner „Philosophie der Freiheit“ dargelegt hat. Als sittlich gilt demnach auf jeden Fall die Liebe zum Handeln, gestützt auf die innere Stimme des eigenen Gewissens, und das Lebenlassen des anderen in seinem Wollen, im Vertrauen auf die Begegnung geistiger Intentionen unterschiedlicher Menschen. Handlungen aus sittlicher Freiheit schließen zwar Gesetze nicht aus, aber der Handelnde ist nicht nur von Gesetzen diktiert, sondern er handelt aus Liebe, nicht aus Pflicht.

Es gibt somit einen Gegensatz von freier und gesetzmäßiger Sittlichkeit: Normierte Ethik, also das pflichtgemäße Handeln nach sittlichen Normen, hat auf einer bestimmten Entwicklungsstufe des Menschen seine Berechtigung. Die Handlungen folgen dann einem System sittlicher Moralprinzipien durch Unterwerfung unter abstrakte sittliche Begriffe und Gebote oder sittliche Autoritäten. Letztlich ist aber das entwickelte menschliche Individuum die Quelle aller Sittlichkeit: Der freie Geist muß nicht erst sozialisiert werden. Ethischer Individualismus erwächst aus errungener geistiger Freiheit. Wenn nicht auf eine individuelle Gemeinschaftsfähigkeit gerechnet werden kann, nützen auch alle Verabredungen, Regeln, Vorschriften und Prinzipien nichts. Ein ethisches Gesetz kann gar nicht wirksam werden, wenn die Einsicht des Einzelnen fehlt, den Geist zu verstehen.

Der freie Mensch strebt aus sich heraus ein größtmögliches Wohl der Gesamtmenschheit um des Gesamtwohl willens an. Er ist an Kulturfortschritt oder sittliche Entwicklung der Menschheit interessiert. Und er ist auf die Verwirklichung seiner intuitiv erfaßten individuellen Sittlichkeitsziele bedacht, um sich selber weiter und höher zu entwickeln im Dienst an der Menschheit. Der freie Mensch handelt also nicht auf äußeren Anlaß quasi schablonenmäßig oder automatenhaft, sondern ist durch Ideale bestimmt. Er besitzt die Fähigkeit der moralischen Intuition bei seiner individuellen Willenshandlung. Er begreift: Die Gesetzesregeln von Staat und Gesellschaft sind Folge des Individualverhaltens und wirken auf dieses wiederum zurück.8 Je mehr der Staat und die nationalen menschlichen Gesellschaften der Globalisierung ausgesetzt sind, umso mehr ist die individuelle Sozialfähigkeit und eigene globale Verantwortung gefragt.9 Die Individualisierung ist die notwendige Kehrseite der Globalisierung.

Das Soziale liegt in der Zukunft der menschlichen Natur

Seit dem Zerbrechen der alten Gemeinschaften und der Durchlässigkeit nationalstaatlicher Grenzen gewinnt die Individualität eine gesteigerte gesellschaftliche Bedeutung. Dies hat Konsequenzen für das Zusammenleben der Menschen aus dem individuellen Handeln heraus. Der Ausweg aus der Globalisierungsfalle führt über den engagierten, freien und selbstbewußten Menschen mit Weltbürgerbewußtsein, der sich von einer bloßen Persönlichkeit zur wirklichen Individualität emporringt, mit sozialer Kompetenz zur Gemeinschaftsbildung in lokalen und globalen Zusammenhängen und Menschenbegegnungen, um einen fairen Interessenausgleich anzustreben - das ist die Hoffnung des 21. Jahrhunderts. Denn das Soziale liegt in der Zukunft der menschlichen Natur!

Es entfaltet sich am ehesten nach der Versuchsmethode, d.h. nicht vorher Normen, Prinzipien oder Vereinbarungen festlegen, sondern in sozialen Prozessen das eigene oder gemeinschaftliche soziale Handeln im Nachhinein bewerten und korrigieren. Dann wird Handeln nach Normen immer entbehrlicher; es bedarf dazu auch keiner anderen, höheren Instanz. Man braucht keiner Orientierung von außen, um gemeinschaftlich handeln zu können. Es reicht das „Hineinarbeiten ins Leben“ durch die sozialen Prozesse. Der Entwicklungsweg führt hinweg von objektiven Gesetzen hin zu subjektiven Charakter-Handlungen. Die Achtung der Menschenrechte und Menschenwürde des anderen aus sich selber heraus in jeder Situation zu erspüren, das ist möglich und nötig in Anbetracht der Tatsache, daß die wenigsten Menschen den genauen Inhalt und Wortlaut der umfassenden Menschenrechts-Charta oder -konvention kennen.

Das Individuum als solches ist sozial, sobald es sich zum freien Geist entwickelt, weil es dann Anbindung an die höhere geistige Welt hat, aus der die Menschheitsanliegen erkennbar werden. Im Bewußtsein der Menschen beginnen dann Veränderungen, die auch das Fühlen und Wollen ergreifen. Der freie Geist muß deshalb nicht erst sozialisiert werden, weil er den anderen Menschen ebenso einbezieht wie die Gesamtsituation. Er erkennt dann auch die sozialen Verwerfungen zwischen öffentlichen und privaten Interessen sowie seine sich daraus ableitenden Solidarpflichten. Er verwirft die unbegrenzte individuelle Bereicherung zu Lasten anderer als Handlungsmotiv, denn er wird sensibilisiert dafür, die Unmoral im Wirtschaftsleben aufzuspüren und aus dieser Empfindung intuitiv die richtigen Fragen zu stellen und damit die richtigen Antworten von höherer Warte zu finden. Der freie Mensch hat ein autonomes Verhältnis zu anderen Menschen, zu sich selbst und zu den Ideen - so etwa läßt sich der „ethische Individualismus“ zusammengefaßt beschreiben.

Die zuvor aufgezählten vielfältigen Versuche von Persönlichkeiten, auf globaler Ebene einen allgemeinverbindlichen ethischen Konsens herzustellen oder globale Gremien einzurichten, die ethische Maßstäbe neu formulieren, sind zwar lobenswert und für viele Menschen hilfreich, sie dürfen aber nicht die Sehnsucht nach einer Art alttestamentarischem Vatergott hervorrufen, der den sündigen und mündigen Menschen 10 erneuerte Gebote vorgibt. Wenn uns sozusagen „von oben“ oder von „Weisen“ mit mahnendem Zeigefinger gesagt wird, was gut und richtig, positiv oder negativ ist, sind wir noch lange nicht dagegen gewappnet, unmoralisch oder unethisch zu handeln. Wenn wir uns ethisch verhalten wollen, gehört mehr dazu, als die uns vorgesetzten Gesetze und Vorschriften zu beachten oder zu befolgen. Kein ethisches Gerüst hilft uns aus dem persönlichen Dilemma, denn wir müssen die ethischen Grundsätze selber mit entwickeln und mit vollziehen können, wollen wir sie wirklich verinnerlichen.

Es kann also nicht darum gehen, ethische Grundsätze neu zusammenzustellen, sondern uns alltäglich mit den negativen Folgen unmoralischen Handelns schonungslos zu konfrontieren, beispielsweise mit den 800 Mio. Hungertoten jährlich auf der Welt, weil Mitgefühl ethisches Verhalten fördert. Solange wir unsere ethischen Grundsätze nicht in die Praxis umsetzen, bleiben sie bloße Grundsätze oder Lippenbekenntnisse. Ethische Handlungsorientierungen in unserer Zeit erfordern zwar Vorbilder und Beispiele aus der Lebenspraxis, z.B. wie wir uns verhalten können, wenn negative Auswirkungen auf das Leben anderer zu erwarten sind: Indem wir nicht zuerst an uns selbst und dann an andere denken. Die Anteilnahme am Wohlergehen der anderen muß dann durch Taten statt durch Worte erfolgen. Ein repräsentatives Gremium der Mahner als „Weltgewissen“ ersetzt nicht das eigene individuelle Gewissen, das aber geschärft werden kann.

Moralgesetze allein helfen nicht weiter: Es gibt keine absoluten ethischen Verhaltensregeln für jede Situation

Die Art des Zusammenlebens der Menschen ist das ethisch Entscheidende. Es gibt dabei keine absoluten ethischen Verhaltensregeln für jede Situation. Hier kommt es jeweils auf die situative Geistesgegenwart und auf die moralische Reife eines jeden Beteiligten mit seiner errungenen Sozialkompetenz an. Ethisches Handeln ist von Ort und Zeit, von Umstand und Situation, von jeweils beteiligten Menschen abhängig. Gefragt sind also weniger Moralgesetze, die nur Erinnerungsstützen ein können für die Interessenabwägung gegenüber anderen. Dazu gehört es auch, die Phänomeine der Globalisierung zu beobachten und zu durchschauen, um dann das Richtige tun zu können mit klarer und richtungweisender Zielorientierung.

Zielführend ist der hoffnungsvolle Aufbruch der vielen verantwortungsbewußten Individuen zur neuen Gemeinschaftsbildung in globalen Netzwerken, um Fragen aus der Zukunft entgegenzugehen in ganzheitlicher, kreativer und nachhaltiger Herangehensweise. Diese neuen Formen der situationsbezogenen Zusammenarbeit im Menschheitsinteresse basieren auf der Handlungsfreiheit und Verantwortungsbereitschaft des Einzelnen, der sich zur rechten Zeit mit anderen zusammenschließt. Daraus entstehen neue ethische Qualitäten.

In unserer Zeit beginnt ethisches Handeln mit der Zivilcourage, gegen Lüge, Unrecht und Ungerechtigkeit im öffentlichen Leben mutig anzugehen und nicht zu schweigen - also den allgemeinen Meinungsstrom zu durchbrechen, der im momentanen Wirtschaftsleben alles für gut heißt, was unethisch ist, und alles verteufelt, was idealistisch, ethisch oder sozial ist. Auch das Mitgefühl gehört auf die politische Bühne (Dalai Lama), denn Politik arbeitet von ihrem eigentlichen Anspruch her aus dem Verantwortungsgefühl für andere, für das große Ganze. Das Thema Ethik (und die damit verwobene Spiritualität) gehört in die Politik, in die Wirtschaft, in die Umwelt, in die Medien, in das Gesundheitswesen, in die Schulen - mit ihren jeweils eigenen Grundsätzen, Ansätzen und Ausrichtungen.

Die ethischen Probleme auf der persönlichen und gesellschaftlichen Ebene gleichzeitig angehen mit Hinwendung zur Gemeinschaft

Es geht für den Einzelnen darum, die Probleme gleichzeitig auf der gesellschaftlichen und der persönlichen Ebene anzugehen, aber wegzukommen von der Konzentration auf sich selbst und Hinzukommen zur Hinwendung zur Gemeinschaft. Dort ist auch erfahrbar, daß soziale Gerechtigkeit eine kulturelle Errungenschaft ist. Den richtigen Weg weisen dabei die innere Stimme, das eigene biografische Lebensmotiv und die jeweiligen Menschenbegegnungen mit ihren wechselseitigen Auswirkungen und Entwicklungsimpulsen. In dieser Arbeit am Inneren und Äußeren wird das höhere ICH erlebbar in der Berührung mit dem anderen, denn das ICH umfaßt auch den anderen. Die eigentliche menschliche Wesenheit liegt im Inneren, nicht im Äußeren, denn der Mensch als geistig-seelisches Wesen ist nicht nur Produkt der physischen Außenwelt. Darum wird jede Menschenbegegnung mit gemeinschaftsfördernden Anliegen zugleich eine innere Wesensbegegnung. Mit dem individuellen und gemeinsamen Handeln aus dieser Erkenntnis heraus wird sichtbar: Die Taten und sein eigenes Wesen der Welt zu opfern, unabhängig vom äußeren Erfolg, ist zutiefst christlich.

Weil im derzeitigen äußeren Zustand der Welt das Innere zum Ausdruck kommt, brauchen wir künftig eine Ethik der Kooperation. Ethik in einer gespaltene Welt ist von der Erkenntnis getragen, daß die Reichen ihren Segen durch die Armen empfangen und Teilen alle reich macht. Es gilt, bewußt zu machen: Die beiderseitigen Interessen sind unlösbar miteinander verknüpft. Egoismus und Solidarität schließen sich gegenseitig aus. In diesem Sinne zieht eine „geistige Revolution“ eine ethisch-moralische Revolution nach sich. Jetzt kommt es an auf eine innere und äußere Haltung der Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit gegenüber Lügenhaftigkeit, Falschheit und Unredlichkeit im öffentlichen Leben wie auch im eigenen Inneren und in der eigenen Lebensweise, eine Herausforderung der Charakterbildung..

Schon im Jahre 1905 schrieb die schwedische Pädagogin und Frauen- und Menschenrechtlerin Ellen Key in ihrem Buch „Das Jahrhundert des Kindes“: „In der Moral vollzieht sich eine allgemeine Verschiebung von den objektiven Gesetzen, die befehlen und zwingen, zu der subjektiven Grundlage, von der die Handlungen ausgehen. Die Ethik wird so zu einer Ethik des Charakters, der Gemütsbeschaffenheit. Man fordert, absolviert oder verurteilt nach der inneren Beschaffenheit des Individuums - und man nennt nicht gerne eine Handlung unmoralisch, die nur in äußerer Hinsicht mit einem Gesetz nicht übereinstimmt oder demselben widerstreitet. In jedem besonderen Falle entscheidet man nach dem inneren Zustand des Individuums.“

So wird schlagartig deutlich, daß der Zustand unserer Welt und der Menschheit im Zeitalter der Globalisierung und des Konkurrenzkampfes ganz viel mit uns selber, mit unserem inneren Zustand und unseren daraus resultierenden Verhaltensweisen und Handlungen zu tun hat. Die Welt wartet deshalb auf unsere inneren und äußeren Taten, die wir ihr mit Blick auf die Zukunft entgegenbringen. Dabei haben wir keine Zeit zu verlieren, wenn wir der Ethik zum Durchbruch verhelfen wollen. Ist eine hinreichend große Zahl von Menschen bereit und in der Lage, an jedem Punkt der Erde eigene Veränderungen und zukunftsfähige Gestaltungen vorzunehmen, damit die Globalisierung zum Wohle der gesamten Menschheit gerät und nicht nur zum Wohle einiger weniger?

Das Wohl der Gesamtheit ist Ziel allen Wirtschaftens. Wir können dem Menschheitsschicksal eine positive, menschenwürdige Richtung geben, wenn wir nur wollen und die Verantwortung nicht auf andere abschieben, sondern unser eigenes Schicksal mit dem Menschheitsschicksal verbinden. Nicht mehr die Nationalstaaten oder transnationale Gremien, nicht mehr die Religionsgemeinschaften oder die Wissenschaftler, auch nicht die Weltkonzerne sind die Gestalter der Globalisierung - sondern wir als Individuen tragen die Verantwortung für die Zukunft von Erde und Menschheit. Dafür wollen uns die dramatischen Konflikte und Zeitereignisse wach machen. Ihnen haben wir die Wiederbesinnung auf ethische Fragen zu verdanken, die wir aber selber beantworten müssen. Als freie Menschen und Weltbürger - als Bürger zweier Welten, der geistigen und der irdischen Welt -sind wir unsere eigenen ethischen Gesetzgeber. Alles in der Welt kommt deshalb auf den freien Menschen und seine Gemeinschafts- und Entwicklungsfähigkeit an.


1 Arno Luik: „Der Putsch von ganz oben“ in der Ausgabe des „Stern“ vom 21.10. 2004.

2 Ulrich Beck in einem Aufsatz über die Auswirkungen der Globalisierung, in der Süddeutschen Zeitung vom 20.Oktober.

3 Dalai Lama: „Das Buch der Menschlichkeit - Eine neue Ethik für unsere Zeit“, Verlag Bastei/Lübbe 1999

4 Rudolf Steiner: „Die Philosophie der Freiheit“, 9. Kapitel

5 siehe zu 3)

6 siehe Wochenschrift „Goetheanum“ Nr. 33/34-2004, Seite 15

7 Wilhelm Neurohr: „Eine andere Globalisierung ist möglich“ in Goethenaum Nr. 32/33-2002

8 Karl-Martin Dietz: „Das neue Verhältnis zu den anderen Menschen - Von der sozialen Praxis des freien Geistes“ in Goetheanum Nr. 1/2-2003 sowie Martin Britsch: „Ethischer Individualismus oder soziale Gesetzgebung? Vom Weg zu Gerechtigkeit und Menschenwürde im Wirtschaftsleben“ in Goetheanum Nr.23/24-2003

9 Wilhelm Neurohr: „Individualisierung der globalen Verantwortung“ in Rundbrief Dreigliederung des sozialen Organismus Nr. 1/2000