Wie hilfreich ist die aktuelle gesellschaftliche Debatte über „Heimat“?
Auf der Suche nach geistiger und politischer Heimat in Zeiten der Globalisierung
Wilhelm Neurohr
Seit der staatlichen Einrichtung von „Heimatministerien“ ist aktuell eine lebhafte und anhaltende politische Debatte in der Gesellschaft über den Heimatbegriff und das Heimatverständnis in Deutschland im Gange – ein Thema, das bis dato eher die Domäne der etablierten Heimatvereine mit ihrem eher konservativen Image war. Zudem ist der schillernde Heimatbegriff vorbelastet durch seinen völkisch-nationalistischen Missbrauch und sollte deshalb nicht den Falschen überlassen werden.
Die aktuelle Debatte bewegt sich meist zwischen der Sorge vor rückwärtsgewandter Heimattümelei einerseits und dem Ringen um ein modernes, zukunftsorientiertes Heimatbewusstsein andererseits. Es lohnt sich aber eine Betrachtung der verschiedenen Dimensionen von Heimat: Aktuell auch vor dem Hintergrund der Globalisierung mit ihren Flüchtlingsbewegungen als Heimatverlust sowie mit der sozialen Spaltung der Gesellschaft mitsamt abnehmender Gemeinschaftsfähigkeit.
Damit geht die Suche nach „geistiger und politischer Heimat“ einher. Die politische, kulturelle und soziale Dimension der Heimatdebatte führt zu zahlreichen Fragen und Erkenntnissen –„Heimatlosigkeit“ als individuelles und politisches Aufwacherlebnis?
Staatliche Aneignung von Heimat durch Heimatministerien?
Auslöser der gegenwärtigen gesellschaftlichen Heimatdebatte in Deutschland war die erstmalige staatliche Einrichtung von „Heimatministerien“ zunächst im Februar 2014 im konservativen Bayern und danach 2017 in NRW sowie im Februar 2018 bei der Bundesregierung mit „Heimatminister“ Seehofer. Die politische Berufung von „Heimatministern“ wurde als staatliche Aneignung kultureller Bereiche vielfach kritisiert. Selbst der konservative Ex-Innenminister Thomas de Maiziere kritisierte (auf seinen Nachfolger Horst Seehofer bezogen) im Februar 2018 öffentlich, dass Heimat ein Bereich sei, den der Staat nicht an sich reißen sollte: „Staat schafft Heimat nicht, sondern stellt allenfalls Rahmenbedingungen her, innerhalb derer sich die Menschen ihre Heimat schaffen“.
Der Staat schaffe aber Heimat dadurch ab, wurde ihm entgegnet, dass er beispielsweise die Infrastruktur und damit die Lebensqualität im ländlichen Raum vernachlässige und mangels gleichwertiger Lebensverhältnisse zum Ortswechsel zwinge. Auch um diese Problematik sollten sich deshalb die neu geschaffenen Heimatminister unter anderem kümmern. Der für die neu geschaffene Abteilung „Heimat“ im Bundesinnenministerium zuständige Staatsekretär argumentiert: „Identitätsstiftung durch Heimat ist eine politische Aufgabe“ und der Heimatbegriff sei handhabbarer als „Leitkultur“. Der Begriff „Heimat“, den es nur in der deutschen Sprache gibt, ist also politisch aufgeladen wie kaum ein anderes Wort. In einigen Landesverfassungen ist die pädagogische „Erziehung zur Heimatliebe“ sogar ein Verfassungsgebot. Und bis in die 1970-er Jahre gab es deshalb an den Volksschulen noch „Heimatkunde“ als Pflichtfach sowie „Heimat- und Volkslieder“ im Musikunterricht.
Verlust der Heimat nach Flucht – Wenn die neue Heimat kein Zuhause ist
Eine erweiterte Dimension bekommt die facettenreiche Debatte über „Heimat“ durch die Globalisierung, mit dem traurigen Rekord von über 16 Millionen Menschen auf der Welt, die in 2018 auf der Flucht vor Krisen und Kriegskonflikten ihre Heimat verlassen mussten und deren neue Heimat oft kein Zuhause ist. Täglich sind weltweit 45.000 Menschen auf der Flucht, die Hälfte davon Kinder, die ihre Heimat als Schreckensort erlebt haben, aber kein zu Hause kennen als oft unerwünscht Ankommende oder in menschenunwürdigen Lagern Lebende oder Dahinvegetierende. Zehntausende tote Flüchtlinge im Mittelmeer haben keinen neuen Heimatboden je betreten können. Die überlebt haben, sind auf der Suche nach einer neuen oder wenigstens temporären Heimat.
Die größte Bürde der Flüchtlingsaufnahme trägt hierbei nicht Europa oder Deutschland – das nur auf dem 59. Platz aller 200 betrachteten Staaten liegt – sondern Libanon und die Türkei. 45% der Flüchtlinge suchen Schutz in Afrika und im mittleren Osten, 31% in Europa (davon 17% in der Türkei) sowie 21 % in Asien. Mit 3 Mio. am geringsten ist im weltweiten Vergleich mit Abstand die Quote der Flüchtlingsaufnahme in den USA, die bis zum Juni 2018 sogar Kinder von Migranten von ihren Familien trennte und zuletzt durch hohe Zäune die südamerikanischen Flüchtlinge an der mexikanischen Grenze abwehrte. Im Juni haben die USA unter Trump den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen verlassen, der sich um die Verteidigung der Einhaltung der Menschenrechte bemüht. Laut Trump ist der UN-Menschenrechtsrat „die Jauchegrube der politischen Voreingenommenheit“.
Das universelle Recht auf eine Heimat mit ausreichenden Lebensperspektiven
Wie können Menschen in so einer „menschenfeindlichen“ Welt überhaupt ihre Heimat finden? Armutsregionen und Katastrophengebiete, in denen keine zumutbaren Lebensbedingungen, unzureichende Ernährungsgrundlagen, zerstörte Umweltbedingungen, miserable Wohnverhältnisse, fehlende Einkommensquellen und mangelnde Sicherheit oder Kriegszustände herrschen, können doch selbst dann keine Heimatgefühle auslösen, wenn man dort hineingeboren ist und dort seine Freunde und seine Vertrautheit und Erinnerungen hat. Die Heimat als „verbrannte Erde“.
Deshalb bieten die Menschenrechte jedem Individuum und der globalen Menschengemeinschaft, in der alle die gleichen Rechte haben, eine rechtliche Heimat, in der sie in ihrer menschlichen Würde Schutz und Geborgenheit erfahren. Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte garantiert ausdrücklich das Recht jedes Menschen auf Mobilität — sowohl innerhalb des Staatsgebiets (Freizügigkeit) wie auch über die Staatsgrenze hinaus (Auswanderung), einschließlich des Rechts eines Ausgewanderten, in sein Heimatland zurückzukehren. Also die Heimat zu verlassen oder wieder aufzusuchen ist ebenso garantiert wie das Recht und die Freiheit, die Heimat auf dem Globus somit selber auszusuchen. Das wird bei der aktuellen Flüchtlingsdebatte in Deutschland oftmals relativiert oder ausgeblendet, obwohl die Deutschen doch millionenfach am eigenen Leibe ihre persönlichen Erfahrungen in der Vergangenheit mit dem Flüchtlingsstatus durchleiden mussten.
Die folgenreiche Okkupation des Heimatbegriffes durch die politischen Rechtsnationalen
In Deutschland hält der „Bund der Vertriebenen“ mit seine 25 Landsmannschaften am „Tag der Heimat“ die Erinnerung hoch an das Schicksal, die Geschichte und Kultur der über 12 Millionen Heimatvertriebenen, Flüchtlinge und Aussiedler, die infolge von zwei Weltkriegen durch Flucht und Vertreibung ihre Heimat verlassen mussten. Zuvor hatten sie erlebt, wie ausgerechnet dieselben Nationalsozialisten, die das Flüchtlingsleid und den Heimatverlust zu verantworten haben, den Heimatbegriff für sich reklamierten und missbrauchten. Spätestens seit der Reichsgründung wurde der Heimatbegriff mehr und mehr von der politischen Rechten okkupiert.
Zwischen der Heimat- und Naturschutzbewegung und der Völkischen Bewegung gab es ideelle, personelle und organisatorische Überschneidungen. Die völkische Bewegung verband im Begriff Heimat die „deutsche Kultur“ mit „deutscher Natur“. Der Heimatbegriff wurde schließlich von der NSDAP aufgegriffen und in ihren Dienst gestellt. Rechtsextreme, NPD-Mitglieder und andere Angehörige der Neuen Rechten verbinden in ihrer Selbstdarstellung und Propaganda Natur- und Heimatverbundenheit oft mit Blut-und-Boden-Ideologie. Deshalb ist die entfachte heutige Diskussion um einen zeitgemäßen Heimatbegriff davon nicht ganz unbelastet; der Heimatbegriff ist nicht mehr „ganz unschuldig“. Umso wichtiger, dass sein Gebrauch und seine Pflege oder Rehabilitierung in der Gegenwart über die Vergangenheitsorientierung hinausgeht und Zukunftsweisendes hervorbringt.
Die Entstehung der Heimatvereine
Bislang unterliegt die Pflege des herkömmlichen Heimatgedankens weitgehend den dazu eigens gebildeten Vereinen und Verbänden mit ihren oft langen Traditionen. Unter den 600.000 eingetragenen Vereine in Deutschland gibt es eine Vielzahl von Heimatvereinen - über 150 sind allein in NRW registriert (zuzüglich einer großen Zahl nicht eingetragener Heimatvereine oder örtlicher Kultur-Geschichtskreise etc.) - sowie bundesweit über 14.000 Schützenvereine zur Traditions- und Brauchtumspflege, darunter auch die Pflege der regionalen Dialekte, des Plattdeutschen oder der Muttersprache. Die meisten Heimatvereine sind insbesondere im Zuge der Heimatbewegung des späten 19. Jahrhunderts entstanden, deren Ziel die Stärkung nationaler Identität war. Sie haben sich zum Ziel gesetzt, Besonderheiten und Traditionen der Ortschaft oder Region zu pflegen, zu bewahren und zu fördern, der sich die Mitglieder als ihrer Heimat verbunden fühlen.
So gründeten sich mit diesen Zielen und Aufgaben zahlreiche regionale Heimatvereine (oft in Kombination mit Schützenvereinen) sowie Trachtenvereine, Geschichtsvereine und Volkskunstvereine, ferner die Bewegung der Wandervögel. Spezifisch für die Heimatbewegung waren die starke Romantisierung und Idealisierung von Natur, die Fiktion eines „unverdorbenen Landlebens“ sowie die Zivilisationskritik an der industriellen Revolution und den damit einhergehenden Verarmungs- und Verstädterungsprozessen.
Das Wirkungsfeld der heutigen Heimatvereine
In Deutschland versteht sich heute der „Bund Heimat und Umwelt“(BHU) mit einer halben Mio. Mitgliedern als Dachverband der Bürger- und Heimatvereine, der sich vor allem der Erhaltung und Entwicklung der Kulturlandschaft und der regionalen Baukultur mitsamt Denkmalschutz zur Aufgabe gesetzt und dazu auch ein europäisches Netzwerk 2015 ins Leben gerufen hat. Aber auch der bereits erwähnte Bund der (Heimat-)Vertriebenen mit seinen 21 Landmannschaften pflegt an seinem alljährlichen „Tag der Heimat“ den Heimatgedanken und das Heimatgedenken.
Daneben gibt es noch den deutschen Trachtenverband zur Pflege heimatlicher Volkskunst und regionalen Brauchtums. Als Zusammenschluss nationaler Dachorganisationen aus den Bereichen Brauchtum und Folklore fungiert zudem der Internationale Rat für Organisationen von Folklorefestivals und Volkskunst. Und schließlich versteht sich die NRW-Stiftung als Partner der Vereine und Verbände, die sich in Nordrhein-Westfalen für Natur, Heimat und Kultur engagieren.
Die verschiedenen Ebenen von „Heimat“ in zeitgemäßer und zukunftstauglicher Sicht
Auseinandersetzung mit dem schillernden Heimatbegriff -
Laut Wörterbuch bezeichnet der Heimatbegriff das Land, den Landesteil oder Ort, in dem man [geboren und] aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt (oft als gefühlsbetonter Ausdruck enger Verbundenheit gegenüber einer bestimmten Gegend). „Zu Hause“ fühlt man sich nicht nur in den vier Wänden im eigenen Häuschen auf der Scholle, sondern auch in der vertrauten Landschaft und Klimazone, der gewohnten Esskultur, in der Kultur- und Sprachgemeinschaft sowie in seiner urbanen Stadt und deren Gemeinschaftsleben. Oft sind es auch Geräusche , Gerüche, Geschmackserlebnisse, Landschaftsbilder und andere eingeprägte Erinnerungen, die man mit Heimat assoziiert, verbunden mit dem Bedürfnis nach Nähe und Vertrautheit: Ohne vertraute Menschen keine Heimat.
Laut Wikipedia verweist der erweiterte Heimatbegriff über das räumlich-geografische hinaus auch auf eine Beziehung zwischen Mensch und Raum. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Heimatbegriff auf den Ort angewendet, in den ein Mensch hineingeboren wird und in dem die frühesten Sozialisationserlebnisse stattfinden, die zunächst Identität, Charakter, Mentalität, Einstellungen und Weltauffassungen prägen. Er steht auch in einer speziellen Beziehung zum Begriff der „Siedlung“; dieser bezieht sich, im Gegensatz zum Wohnplatz, in der Regel auf eine sesshafte Lebensform, d. h. auf ein dauerhaftes bzw. langfristiges Sich-Niederlassen und Wohnen an einem Ort bzw. in einer Region. (Die Gewerkschaft bezeichnete sogar ihre genossenschaftlich errichteten Mietwohnungen und Wohnsiedlungen als „Neue Heimat“). Der somit räumlich verengte Heimatbegriff befindet sich jedoch in ständiger Diskussion und Erweiterung, über seine Ortsgebundenheit hinaus. Letztlich erweist sich „Heimat“ als ein weit gefasster und schillernder Begriff mit vielen Facetten und individuellen Ausprägungen.
Annäherung an einen mehrdimensionalen Heimatbegriff auf verschiedenen Ebenen
Den Ort, die Region, das Land, den Staat, den Kontinent – ja die ganze Erde kann man auf den verschiedenen Maßstabs-Ebenen abgestuft als Heimat empfinden. In Verbindung mit der physischen „Bodenständigkeit“ und den Rückerinnerungen an frühere Heimatorte verweist der Heimatbegriff eher in die Vergangenheit; mit den gefühlsmäßigen, emotionalen und seelischen Heimatempfindungen in einer momentanen Lebenssituation bewegt man sich in der Gegenwart seiner Gefühlswelt; und mit den Plänen für bevorstehende Veränderungen und Entwicklungen – sei es ein Ortswechsel, eine Auswanderung fern der alten Heimat, eine Berufsveränderung oder die Erweiterung seiner Bezugspersonen und sozialen und familiären Beziehungen über den Lebensort hinaus – bewegt man sich mit dem weltoffenen Blick für das gesamte Weltgeschehen und Menschenschicksal in die manchmal ungewisse Zukunft, unter In kaufnahem des Verlustes der alten Heimat oder alter Bindungen und bisheriger Lebensweisen, ohne an dem Alten zu haften. Vor dieser geistigen Herausforderung stehen heutzutage die meisten Menschen.
Bei einem Versuch der Annäherung an einen zeitgemäßen und zukunftstauglichen Heimatbegriff bemerken wir seine Mehrdimensionalität. Heimat hat bei näherer Betrachtung eine räumlich und zeitliche Dimension, eine soziale, kulturelle und wirtschaftliche Dimension, eine zwischenmenschliche Dimension, aber für viele auch eine emotionale und sogar eine religiöse oder spirituelle Dimension. Vergangenheits-, gegenwarts-und zukunftsbezogene Heimatbetrachtungen durchdringen sich und bringen ein sehr differenziertes individuelles Empfinden der einzelnen mobilen Menschen über ihr Heimatverständnis hervor. Nur Bäume brauchen standortgebundene Verwurzelung, mobile Menschen können überall Wurzeln schlagen. Anders als ein fest mit dem Boden oder Standort verwurzelter Baum steht einem Menschen im Grunde genommen der gesamte Globus als Heimat zur Verfügung mit der Möglichkeit, sich in verschiedenen Gemeinschaften oder Zusammenhängen heimisch zu fühlen und sich auch in verschiedenen Denkgebäuden einzurichten. Bezeichnend hierfür ist beispielsweise die Rede von der „politischen Heimat“ als ideologische oder parteipolitische Identifikation. (Der SPD-Politiker Wolfgang Thierse bezeichnete das Grundgesetz als unsere Heimat, um damit das Gerede von der „Leitkultur“ ad absurdum zu führen).
Die metaphysische Ebene von Heimat
Andere fühlen sich überall auf der Welt heimisch, wenn sie, wie etwa die Katholiken, irgendwo eine Kirche betreten und an den dort vertrauten kultischen Ritualen der Glaubensgemeinschaft teilnehmen, die weltweit identisch sind. Im Christentum ist sogar die Ansicht weit verbreitet, dass die „eigentliche“ Heimat des Menschen sich im Himmel, im Jenseits befinde. Im Diesseits hingegen sei der Mensch nur ein „Gast“. (Der Mensch also als Bürger zweier Welten: der irdischen und der geistigen Welt, als physisches und geistiges Wesen). Diese Auffassung bringt der Barock-Dichter Paul Gerhardt exemplarisch in seinem Lied Gast auf Erden zum Ausdruck.[28] Der Gedanke, Menschen seien im Diesseits nur zu Gast, ist bereits im 119. Psalm (Vers 19)[29] zu finden. Religion (religiare) oder Religiosität wird somit verstanden als Wiederanbindung des Menschen an die geistige Welt oder Heimkehr in die geistige Heimat seiner Herkunft.
Auf der Suche auch nach „geistiger Heimat“ bezieht sich das erweiterte Heimatverständnis also schon längst nicht mehr nur auf den angestammten geografischen Herkunftsort, dem Geburtsort als Stätte der Kindheit, dem oft selbst gewählten oder manchmal erzwungenen Lebens-und Wohnort mitsamt Arbeitsstätte und Freundkreis oder dem familiärem und landsmannschaftlichem sowie kulturellem Umfeld haftet. Heimat wird somit über das Zugehörigkeitsgefühl und die muttersprachliche Gemeinschaft hinaus vielmehr zu einer individuellen biografischen Entwicklungsfrage und einem herausfordernden Lernfeld für die einzelnen Menschen auf der Suche nach Orientierung und Gemeinschaft. „Heimat“ ist ein Gefühl und ein großes und weites Thema. Dass wir unseren Lebensraum als lebenswert empfinden und uns deshalb mit unserer Heimat identifizieren und uns darin wohlfühlen, ist in diesen Zeiten nicht selbstverständlich.
Die ständige Veränderung von Heimat als Herausforderung
Heimat verändert sich und muss immer wieder neu gestaltet werden –angesichts von Globalisierung, Digitalisierung, von Kriegen und Katastrophen, die weltweite Fluchtbewegungen auslösen.
Deshalb kann die Debatte über Heimat auch hilfreich sein statt als entbehrliche „Diskussion von gestern“ angesehen zu werden. Heimatsuche und Heimatlosigkeit sind also notwendige Schlüsselerlebnisse und Entwicklungsbedingung für den heutigen Menschen als Zeitgenosse in einer aufgewühlten Welt und bedrohten Lebenssphäre, die ihn zur Wertschätzung des Lebens auf dieser Erde in seinem individuellen Tun und Handeln veranlassen kann - in Verantwortung für die gesamte Menschengemeinschaft und ihre erhaltenswerte irdische Lebensgrundlage. Den Globus nachhaltig als lebenswert zu erhalten für Mensch und Natur, ist die weltoffenste Form von Heimatpflege, auch über Sprachbarrieren und Kulturkreise sowie Religionen hinweg und ohne nostalgische Sehnsucht nach vergangenen Zeiten (von denen vielfach noch Relikte des mittelalterlichen Denkens bis heute als Fortschritt verhindernd erhalten geblieben sind).
Der Erdenbürger als kosmopolitischer Weltbürger in der globalen Heimat
In Zeitungsanzeigen und Glückwunschkarten werden Neugeborene zumeist als neue „Erdenbürger“ willkommen geheißen. Damit ist der erste Hinweis auf ihre „Heimat“ gegeben, nämlich die Erde, auf der sie in unsere Welt hineingeboren werden. Damit werden sie sogleich vom ersten Tag an quasi zu geborenen „Weltbürgen“, also zu einem gleichberechtigten Mitglied der großen Menschengemeinschaft auf der Erde, egal an welchem Geburtsort sie „zur Welt kommen“. Doch der Geburtsort mit seinen dortigen Lebensumständen und Mitmenschen hat für die meisten von Beginn an und auch noch später eine besondere Bedeutung als erstes Heimaterlebnis, zumal hier an diesem Ausgangspunkt (oder besser: Eingangspunkt) mit seinen ersten Lebenseindrücken und -erfahrungen sowie Erlebnissen die Startvoraussetzungen für den weiteren Lebenslauf und die eigene Lebensgestaltung vorgegeben sind. Wer das Glück hatte, statt in den Armutsregionen von Afrika hier in Deutschland oder Europa geboren worden zu sein, weiß vielleicht sein Lebensglück zu schätzen, obwohl er auch hier nicht vor Armut und Leid immerzu geschützt ist. Umso größer ist hier die Herausforderung, allen Menschen eine lebenswerte Heimat zu bieten und daran mitzuwirken.
Ds setzt aber voraus, dass wir uns verabschieden von dem verhaftet bleiben allein in Blutsverwandtschaft und Familienbande, in der Abgrenzung nach Abstammung, Ethnien, Herkunftsorten, Nationalstaaten, Religionen oder Kulturkreise und Sprachgemeinschaften. Der Heimatbegriff in Abgrenzung zu anderen und als Eingrenzung nur mit Gleichen, bewirkt ein Zurückbleiben in der Vergangenheit und in bloßer Traditionspflege. Wahre Heimatgefühle als Erdenbürger und Weltbürger entfalten sich zukunftsträchtig nur dann, wenn an jedem Erdenort in jeder Menschenbegegnung neue Heimatgefühle erwachen, die uns geistesgegenwärtig in eine menschenwürdige Zukunft geleiten.
Wilhelm Neurohr, November 2018