Wilhelm Neurohr

Böses Erwachen im Ruhrgebiet nach der Europawahl: Rechtsruck trotz Gegenproteste

Droht das nördliche Ruhrgebiet eine AfD-Hochburg zu werden?

KREIS RECKLINGHAUSEN / HALTERN AM SEE. Zigtausende Menschen sind wochenlang in allen Ruhrgebietsstädten gegen Rechtsextremismus auf die Straße gegangen – offenbar vergeblich, denn der Rechtsruck ist trotzdem eingetreten: Im nördlichen Ruhrgebiet erzielte die rechtsextreme AfD bei der Europawahl die drei besten Resultate in NRW mit bis zu 21,7% z. B. in der AfD-Hochburg Gelsenkirchen, also weit über dem Landes- und Bundesdurchschnitt von 12,6% bzw. 15,9%.

Auch im Kreis Recklinghausen bekam die AfD mit 16,5% mehr Stimmenanteile als landes- und bundesweit: Die Städte Marl und Gladbeck ragen mit fast 20% AfD-Anteil besonders heraus. Welche Konsequenzen ziehen die demokratischen Parteien im nördlichen Ruhrgebiet aus diesem Wahldesaster vom 9. Juni? Eine Beschimpfung der Wähler hilft nicht weiter, sondern das Erforschen ihrer Motive und eine veränderte Politik vor der bevorstehenden Kommunal- und Bundestagswahl in 2025 ist dringend angesagt.

Kaum eine Stadt in dieser Region der sozialen Verlierer wurde vom Höhenflug der AfD verschont: Denn auch die Städte Castrop-Rauxel, Datteln und Herten bewegen sich zwischen 17% bis 19% sowie Recklinghausen und Dorsten über 15% an AfD-Wählern. Ebenfalls zwischen 17% bis 19% erhielt die AfD in den Städten Bottrop, Hamm, Bergkamen, Lünen, Selm und Bönen, ferner über 14% in Olfen als Ausreißer im benachbarten Münsterland, wo die AfD in den meisten Gemeinden unter 10% blieb, also nur halb so viel Stimmen bekam wie in den Ruhrgebietsstädten – obwohl die AfD bei den Bauern mehr punktete als im Wählerschnitt.

Ist Haltern am See eine rühmliche Ausnahme?

Die ländlich geprägte Stadt Haltern am See mit ihren 39.000 Einwohnern, in der im Januar fast 5.000 Menschen gegen Rechtsextremismus demonstriert hatten, kann sich rühmen, mit nur 10 % Stimmenanteil für die AfD deutlich unter dem Landes- und Bundesdurchschnitt und den Wahlergebnissen im Kreis Recklinghausen geblieben zu sein (und unterhalb der vorher prognostizierten 12%). Und das bei überdurchschnittlicher Wahlbeteiligung von über 73,4%. Dennoch hat auch im gutbürgerlichen Haltern die AfD gegenüber der letzten Europawahl 2019 fast 3% hinzugewonnen, gegenüber der letzten Bundestagswahl 2021 fast 4,5% und seit der letzten Landtagswahl 2022 sogar 5,8% - also ein stetiger Anstieg. Dies lässt aufhorchen, da es im wohlhabenden Haltern keine sozialen Brennpunkte gibt wie in den meisten Revierstädten mit AfD-Protestwählern. Und Haltern hat einen wesentlich niedrigeren Ausländeranteil.

Auch in einigen Halterner Ortsteilen landet die AfD bei 15% bis 17%

Deshalb ist es sehr erstaunlich, dass bei differenzierter Betrachtung der Wahlergebnisse in den einzelnen Stadtteilen und Stimmbezirken von Haltern die AfD im beschaulichen Dorf Hullern, das fast nur aus Einfamilienhäusern besteht, bei 17,3% gelandet ist und damit deutlich über dem Landes- und Bundestrend liegt! (Da hier weniger eine Protestwahl von sozialen Verlierern zu vermuten ist, könnte sich eher rechtes Gedankengut im Dorf angesammelt haben?). Aber auch in der Innenstadt von Haltern und in innenstadtnahen Wohnquartieren bewegt sich die Zustimmung für die AfD teilweise zwischen 14,7% bis 16,4%, im idylischen Dorf Flaesheim bei fast 15%. Somit ist das gesamtstädtische Ergebnis von 10% für die AfD, das in mehreren Ortsteilen deutlich überschritten wird, kein Anlass zur Beruhigung, sondern ist ein Aufruf zur differenzierten Ursachenforschung vor Ort.

Wahldesaster darf sich nicht wiederholen

Insgesamt haben immerhin über 2.300 wahlberechtigte Halterner Bürgerinnen und Bürger auf dem Stimmzettel die AfD angekreuzt (weitere 127 das rechte „Bündnis Deutschland“ aus der „Werteunion“), obwohl in Haltern die Anliegen von Demokratie, Respekt und Vielfalt breit verankert sind. Handelt es sich in Haltern wie in den übrigen Städten des Kreises Recklinghausen bzw. der Emscher-Lippe-Region und des Ruhrgebietes insgesamt um Wählerinnen und Wähler mit rechter Gesinnung und rechtsextremen Weltbild oder mit bloßer Protesthaltung auch in gutbürgerlichen Schichten und bei den Landwirten (die laut Forschungsgruppe Wahlen bundesweit zu 18% die Rechtsextremen wählten) ? Und hat auch in Haltern die AfD bei Jungwählern punkten können?

Politische Brandmauer darf nicht durchbrochen werden

Diesen Fragen müssen jetzt auch die örtlichen und regionalen Parteigliederungen und Kommunalpolitiker nachgehen, soll sich das Wahldesaster bei der Kommunal- und Bundestagswahl 2025 im Ruhrgebiet nicht wiederholen. Mit Blick auf die zurückliegende Europawahl wäre es deshalb auch hilfreich gewesen, wenn sich in Haltern und andernorts die örtlichen und regionalen Parteifunktionäre und Parteitagsdelegierten des Wahlsiegers CDU sich klar gegen die skandalöse Anbiederung ihrer Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen an die rechtsextreme postfaschistische Partei „Fratelli d`Italia“ der italienischen Regierungschefin Meloni ausgesprochen hätten.

Denn die Wählerinnen und Wähler wollen vor dem nächsten Wahljahr 2025 wissen, ob die Union die politische Brandmauer nach rechts durchbrechen will und dann auch vor Ort nicht mehr wählbar wäre. In Frankreich wurde gestern bei den Konservativen der Parteichef Ciotti abgesetzt, weil er mit der rechtsnationalen Le-Pen-Partei zusammenarbeiten wollte. Das ist ein klares Signal der Abgrenzung nach rechts , das man sich in Deutschland auch wünschen würde.

Sorgen und Nöte der Bürgerinnen und Bürger politisch aufgreifen

Bei der Wahlanalyse in dieser Region haben heimische Politiker das Versagen Ihrer Parteien erkannt und sich gefragt: „Was haben wir falsch gemacht?“ Man dürfe dem Wähler jetzt nicht die Kompetenz absprechen. Das Wahlergebnis sei „ein Arbeitsauftrag, die Menschen zurückzugewinnen“, so war in Interviews zu lesen. Wie könnte der Arbeitsauftrag aussehen? Ein Blick in die AfD-Hochburg Gelsenkirchen, zugleich die Armutsstadt mit höchster Alters- und Kinderarmut und höchsten Ausländerquoten sowie Wohnungsmangel und defekter Infrastruktur, hilft vielleicht weiter: Die Probleme, die nach einer Lösung und Bewältigung geradezu schreien, liegen doch in dieser Region auf der Hand.

Warum steigen die Armutsquoten seit 30 Jahren stetig unter den verschiedensten Regierungskoalitionen statt die bei jeder Wahl versprochene Senkung anzugehen? Die soziale Ungleichheit bewegt doch die meisten Wählerinnen und Wähler, die auch im Zusammenhang mit der Klimapolitik zu sehen ist, bei denen die soziale Schwächeren die größten Belastungen zu tragen haben, derweil die Reicheren die meiste Klimaschädigung hervorrufen. Bis heute warten die Bürgerinnen und Bürger vergeblich auf das versprochene "Energiegeld" als Sozialausgleich. Die soziale Frage, die auch den Wohnungsmarkt erreicht hat, muss wieder in den Vordergrund politischen Handelns rücken, statt nur darüber zu reden.

Inhaltliche Herausforderungen bürgernaher Politik

Warum wird stattdessen von der größten Partei über weitere Rentenkürzungen für die Armutsrentner und über Abschaffung des Bürgergeldes und Infragestellen der Kindergrundsicherung sowie Steuersenkungen vor allem für Vermögende diskutiert - um die soziale Ungleichheit zu verschärfen statt zu beseitigen? Warum bleiben die Mindestlöhne in Deutschland unterhalb der EU-Vorgaben für ihre notwendige Erhöhung? Warum werden die Mieter und Wohnungssuchenden bei steigender Wohnungsnot und ungebremsten Mietsteigerungen im Stich gelassen? Wann nimmt die Politik wahr, dass sich ein Viertel der Bürgerinnen und Bürger nicht einmal eine Woche Urlaub im Jahr leisten kann? Und wann werden endlich die Tafeln und Suppenküchen entbehrlich im reichsten Land Europas? Und wie werden die Integrationsbemühungen so verbessert, dass die beklagten Missstände und Konflikte in sozialen Brennpunkten gar nicht erst entstehen?

Wann wird endlich die anhaltende Bildungsmisere und die seit Jahrzehnten hingenommene Bildungsbenachteiligung der sozialen Verlierer nicht nur in Sonntagsreden aufgegriffen? Wann wird endlich der unfähige, aber überbezahlte Bahnvorstand entlassen und durch kompetente Manager ersetzt? Warum werden nicht die nötigen Zukunftsinvestitionen getätigt, wie von allen Wirtschaftsfachleuten gefordert? Warum kann eine 5%-Partei, die mit ihrem Verkehrsminister als Lobbyorganisation die notwendige Verkehrswende verhindert, die Koalition vor sich hertreiben, obwohl sie von 95% der Wähler nicht gewählt wurde? Wo bleibt dabei das demokratische Mehrheitsprinzip? Und warum wird die Friedenssehnsucht der Menschen und ihre Besorgnis vor der Militarisierung, Rüstungsspirale und Eskalation sowie atomaren Angriffen nicht ernst genommen, indem man sich wieder auf diplomatische Abrüstungs- und Friedensbemühungen zurückbesinnt, statt die Rüstungsindustrie zu fördern und die Militarisierung voranzutreiben? Wer Frieden will, ist zur Diplomatie verpflichtet, denn Sicherheit ist im Atomzeitalter nicht mehr gegeneinander, sondern nur noch gemeinsam erreichbar, wie es die politische Vorgänger-Generation noch beherzigt hatte.

Jugendliche trauen Politik keine Problemlösungen zu

Aktuell hat die Sinus-Jugendstudie die Defizite in den Schulen bei politischer Bildung und Mitbestimmung ermittelt und auf den Kontext der Wahlentscheidung der jungen Erstwähler mit dem Elternhaus hingewiesen. Es haben 16% der jugendlichen Erstwähler auch ohne rechtsextremes Weltbild die AfD und 28% die Kleinstparteien gewählt. Bei den politischen Zukunftsthemen stehen laut Umfragen für die Jugendlichen die Friedensfrage an erster Stelle, gefolgt von der sozialen Ungleichheit und an dritter Stelle die Klimafrage und Umweltpolitik. Sie trauen der Politik aber kaum Lösungen zu und bezweifeln somit die Problemlösungskompetenz. Diejenigen Politiker, die nun glauben, allein mit Präsenz und Mätzchen auf TikTok kompetent zu erscheinen, haben den Ernst der Herausforderungen nicht verstanden.

Die repräsentative Demokratie braucht ein Update

Die repräsentative Parteiendemokratie, die offensichtlich nicht mehr repräsentativ ist, braucht ein Update und ist in ihrem derzeitigen Zustand überholt. Wir erleben gerade, dass auch Parteien nicht für die Ewigkeit geschaffen und sogar sterblich sind. Immer dringender werden direktdemokratische Elemente in einer Demokratie für das 21. Jahrhundert, wo das Volk als Souverän wieder ernst genommen wird. Das zu begreifen, benötigen die Parteien vielleicht noch einige aufweckende Wahl-Erlebnisse.

Wilhelm Neurohr, 13. Juni 2024

  • Siehe zum Thema auch frühere Beiträge des Autors im Lokalkompass:

https://www.lokalkompass.de/haltern/c-politik/haben-die-siegreichen-parteien-in-nrw-den-weckruf-immer-noch-nicht-gehoert_a1735702

https://www.lokalkompass.de/haltern/c-politik/europa-wahl-europa-qual-wie-die-eu-politiker-es-den-rechtspopulisten-leicht-machen_a1946454

https://www.lokalkompass.de/recklinghausen/c-politik/tabubruch-nach-der-europawahl-erwartet-uns-ein-rechtes-dreierbuendnis-von-ursula-von-der-leyen-giorgia-meloni-und-marine-le-pen_a1958894

https://www.lokalkompass.de/recklinghausen/c-politik/ihr-da-oben-wir-da-unten-offener-brief-einer-buergergeld-bezieherin-an-friedrich-merz-und-christian-lindner_a1914560